Micah Mortimer liebt Gewohnheiten, Selbstgespräche und eine ordentliche Wohnung. Jeden Tag beginnt er mit einem Morgenlauf um 7.15 Uhr, duscht, frühstückt und widmet sich anschließend geduldig den Computerproblemen seiner Kunden aus der Nachbarschaft. Nachmittags ist er im Nebenjob Hausmeister und kümmert sich um das Mietshaus, in dem er wohnt; ein paar Abende die Woche verbringt er auf der Couch seiner unkomplizierten Freundin Cass. Doch dann droht Cass die Wohnungskündigung, und sie möchte bei ihm einziehen. Und ein Teenager taucht auf, der behauptet, sein Sohn zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Werner von Koppenfels mag die Durchschnittsamerikaner mit ihren Alltagsgeschichten, von denen Anne Tyler auch in ihrem inzwischen dreiundzwanzigsten Roman erzählt. In diesem Fall geht es um Micah, einen alleinlebenden Hausmeister und Computerfachmann mittleren Alters, der sich mit Selbstgesprächen und kleinen Spleens weitgehend von der Welt abschottet bis eine außergewöhnliche Begebenheit sein Leben aufmischt: Der pubertäre Sohn einer Exfreundin steht plötzlich vor Micahs Tür und sorgt für trouble, resümiert der Kritiker. Kuriose Nebenfiguren steigern das Lesevergnügen des Rezensenten - was er leider nicht von der deutschen Übersetzung behaupten kann: Offenbar "unter Zeitdruck entstanden" mangele es gelegentlich nicht nur an der Tylerschen "Prägnanz und Lakonik", meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2020Ein Rotschopf am Straßenrand
Mit dem Segen des Verkehrsgottes unterwegs: Anne Tyler bringt einen technischen Einsiedler auf Trab
"Ein widerliches, von Ratten und Nagern befallenes Drecknest" nannte Donald Trump bekanntlich die Stadt Baltimore, nachdem deren Kongressabgeordneter - von der gegnerischen Fraktion - gewagt hatte, den Präsidenten zu kritisieren. Später legte Trump noch einmal nach: "Schlimmer als Honduras!" Gemeint war die Mordrate. Als Schauplatz von Anne Tylers vielgelesenen Romanen (dies ist ihr dreiundzwanzigster) bietet die Hauptstadt Marylands ein weniger abschreckendes Bild. Ein Ort, der nichts von sich hermacht, ziemlich glanzlos, ja, aber auf irgendwie selbstbewusste Art: Habitat kleiner Leute, amerikanischer Durchschnitt eben, und als solcher Schauplatz alltäglicher Geschichten. Langweilig werden sie bei dieser Autorin nie.
Diesmal ist es eine Woche aus dem Leben von Micah Mortimer (mittelalt, alleinlebend), erzählt in acht Kapiteln von Montag bis Montag und garantiert frei von weltbewegenden Ereignissen. Politische Themen? Fehlanzeige, sieht man von einem beiläufigen aside ab: "Im Grunde hatte er sein Land aufgegeben. Es ging gerade den Bach hinunter, und er hatte nicht das Gefühl, auch nur das Geringste dagegen tun zu können." Selbstbestätigung und spleenige Rollenspiele bezieht Micah aus dem Stolz auf seine Fahr-, Putz- und Kochkünste. Ein imaginärer Verkehrsgott lobt ihn für vorbildliches Fahrverhalten, etwa wenn er seinen Kia so behutsam beschleunigt, als hätte er ein rohes Ei unterm Gaspedal; das Bodenwischen jeden Montag wird mit pseudorussischem oder deutschem Akzent garniert, das Kochen dagegen à la française: "Wie wärs mit Am-bür-gör?"
Der feste Zeitrahmen dient als Skala für die diskrete Spannungskurve eines Lebens, das sich durch rigide Routine gegen Selbstzweifel und Sinnverlust abzuschotten sucht, bis etwas Unvorhergesehenes eintritt und den gutgeölten Mechanismus aus dem Takt bringt. Auch diese Konstellation ist tyler-typisch. Einstweilen hat sich Micah in seiner kleinen Welt mit Doppelberuf (Hausmeister und Computer-Notdienst) und halbfester Freundin häuslich eingerichtet.
Am Anfang steht ein Kameraschwenk des Erzählers auf den Ausgangspunkt der Geschichte, ein Mietsblock in einem der bescheideneren Viertel. Dort kümmert sich Micah um die kleinen Probleme und Nachlässigkeiten der Mieter, und wenn ein Kunde in Nöten anruft, setzt er das Schild "Tech Eremit" auf sein Wagendach, fährt los und behebt den Schaden. Die Souterrainwohnung mit ihren engen Fenstern unter der Decke lässt jetzt, im Spätherbst, wenig mehr von der Außenwelt erkennen als ein paar vertrocknete Blätter. Etwas trist ist es schon, das Milieu.
Dafür, dass sich die Einsamkeit des technischen Eremiten in den Grenzen des Erträglichen hält, sorgen neben der Freundin seine Kunden, die in einer so unterhaltsamen wie abwechslungsreichen Figurengalerie auftreten. Außerdem besitzt er noch vier Schwestern und einen Neffen, dessen Verlobung auf einer quirligen Party gefeiert wird. Und dann kommt ja noch dieser Junge . . .
Der Originaltitel "Redhead by the Side of the Road", also Rotschopf am Straßenrand, vom Verlag nach deutscher Unsitte umgewandelt in "Der Sinn des Ganzen", bezieht sich auf einen rötlichen Hydranten, den der kurzsichtige Micah bei seiner morgendlichen Joggingrunde immer wieder mit einem Kind verwechselt; kein ganz nebensächliches Detail, denn am Tag zwei der Geschichte träumt er von einem kleinen Kind, das er zwischen den Regalen eines Supermarktes findet, und als er vom Joggen zurückkommt, sitzt da tatsächlich ein Kind, genauer: ein ausgewachsener Jugendlicher, auf seiner Treppenstufe.
Es handelt sich um Brink, den Sohn von Lorna, seinem college sweetheart aus fernen Zeiten. Der liegt gerade im pubertären Clinch mit seinen Eltern und ist auf der Suche nach einem alternativen Vater. Micahs Foto aus einer alten Schuhschachtel nimmt er als Wink des Schicksals für einen Ausbruch aus dem heimischen Regime samt Quartierwechsel. Also lässt er sich von Micah mit Kaffee, Dosenbier und einem Gästebett traktieren und wirbt auf seine ruppige Art um den neuen Dad, der sich mehr und mehr mit dieser Rolle anfreundet. Die emotionalen Altwasser werden kräftig aufgewühlt, zumal die halbfeste Freundin mit Ausstieg droht und sich das Erscheinen Lornas belebend auf brachliegende Gefühle auswirkt.
Anders als Rosamunde Pilcher gönnt Anne Tyler ihrer Gemeinde in der Regel nur ein gedämpftes Happy End. Immerhin heißt es im letzten Satz über Micah: "he begins to feel happy". Das Schlusswort zählt. Die Übersetzung hat diese kleine Pointe, die auch im Deutschen hinzukriegen wäre, übersehen. Auch sonst zeigt sie, bei genereller Lesbarkeit, Zeichen von sprachlichem Eigensinn. Sie ist wohl unter Zeitdruck entstanden, denn die deutsche Fassung musste zur gleichen Zeit wie das Original erscheinen. Prägnanz und Lakonik, die großen Stärken von Tylers Erzähl- und Dialogkunst, sind hier nicht mehr oberste Priorität. Die knapp reihende, quasi hemingwaysche Syntax der Vorlage bläht sich immer wieder auf, und Brinks einsilbiges "Great" mausert sich kurz nacheinander zu "Supergern . . . Optimal . . . Genial" - ein stilistischer Overkill.
Aber es gibt auch so etwas wie übergroße Nähe zum Original: Dann werden aus 35 Meilen 35 Kilometer, und die allgegenwärtige Kaffeemaschine muss ständig als "Perkolator" durch die Geschichte blubbern. Und wie kommt eigentlich der Schreibtisch in Micahs Schlafzimmer? Das Original plus Lexikon verrät es: bureau ist zwar ein englischer Schreibtisch, aber eine amerikanische Kommode. Zwei Nationen, getrennt durch eine gemeinsame Sprache, wie G. B. Shaw treffend bemerkt hat.
WERNER VON KOPPENFELS.
Anne Tyler: "Der Sinn des Ganzen". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2020. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit dem Segen des Verkehrsgottes unterwegs: Anne Tyler bringt einen technischen Einsiedler auf Trab
"Ein widerliches, von Ratten und Nagern befallenes Drecknest" nannte Donald Trump bekanntlich die Stadt Baltimore, nachdem deren Kongressabgeordneter - von der gegnerischen Fraktion - gewagt hatte, den Präsidenten zu kritisieren. Später legte Trump noch einmal nach: "Schlimmer als Honduras!" Gemeint war die Mordrate. Als Schauplatz von Anne Tylers vielgelesenen Romanen (dies ist ihr dreiundzwanzigster) bietet die Hauptstadt Marylands ein weniger abschreckendes Bild. Ein Ort, der nichts von sich hermacht, ziemlich glanzlos, ja, aber auf irgendwie selbstbewusste Art: Habitat kleiner Leute, amerikanischer Durchschnitt eben, und als solcher Schauplatz alltäglicher Geschichten. Langweilig werden sie bei dieser Autorin nie.
Diesmal ist es eine Woche aus dem Leben von Micah Mortimer (mittelalt, alleinlebend), erzählt in acht Kapiteln von Montag bis Montag und garantiert frei von weltbewegenden Ereignissen. Politische Themen? Fehlanzeige, sieht man von einem beiläufigen aside ab: "Im Grunde hatte er sein Land aufgegeben. Es ging gerade den Bach hinunter, und er hatte nicht das Gefühl, auch nur das Geringste dagegen tun zu können." Selbstbestätigung und spleenige Rollenspiele bezieht Micah aus dem Stolz auf seine Fahr-, Putz- und Kochkünste. Ein imaginärer Verkehrsgott lobt ihn für vorbildliches Fahrverhalten, etwa wenn er seinen Kia so behutsam beschleunigt, als hätte er ein rohes Ei unterm Gaspedal; das Bodenwischen jeden Montag wird mit pseudorussischem oder deutschem Akzent garniert, das Kochen dagegen à la française: "Wie wärs mit Am-bür-gör?"
Der feste Zeitrahmen dient als Skala für die diskrete Spannungskurve eines Lebens, das sich durch rigide Routine gegen Selbstzweifel und Sinnverlust abzuschotten sucht, bis etwas Unvorhergesehenes eintritt und den gutgeölten Mechanismus aus dem Takt bringt. Auch diese Konstellation ist tyler-typisch. Einstweilen hat sich Micah in seiner kleinen Welt mit Doppelberuf (Hausmeister und Computer-Notdienst) und halbfester Freundin häuslich eingerichtet.
Am Anfang steht ein Kameraschwenk des Erzählers auf den Ausgangspunkt der Geschichte, ein Mietsblock in einem der bescheideneren Viertel. Dort kümmert sich Micah um die kleinen Probleme und Nachlässigkeiten der Mieter, und wenn ein Kunde in Nöten anruft, setzt er das Schild "Tech Eremit" auf sein Wagendach, fährt los und behebt den Schaden. Die Souterrainwohnung mit ihren engen Fenstern unter der Decke lässt jetzt, im Spätherbst, wenig mehr von der Außenwelt erkennen als ein paar vertrocknete Blätter. Etwas trist ist es schon, das Milieu.
Dafür, dass sich die Einsamkeit des technischen Eremiten in den Grenzen des Erträglichen hält, sorgen neben der Freundin seine Kunden, die in einer so unterhaltsamen wie abwechslungsreichen Figurengalerie auftreten. Außerdem besitzt er noch vier Schwestern und einen Neffen, dessen Verlobung auf einer quirligen Party gefeiert wird. Und dann kommt ja noch dieser Junge . . .
Der Originaltitel "Redhead by the Side of the Road", also Rotschopf am Straßenrand, vom Verlag nach deutscher Unsitte umgewandelt in "Der Sinn des Ganzen", bezieht sich auf einen rötlichen Hydranten, den der kurzsichtige Micah bei seiner morgendlichen Joggingrunde immer wieder mit einem Kind verwechselt; kein ganz nebensächliches Detail, denn am Tag zwei der Geschichte träumt er von einem kleinen Kind, das er zwischen den Regalen eines Supermarktes findet, und als er vom Joggen zurückkommt, sitzt da tatsächlich ein Kind, genauer: ein ausgewachsener Jugendlicher, auf seiner Treppenstufe.
Es handelt sich um Brink, den Sohn von Lorna, seinem college sweetheart aus fernen Zeiten. Der liegt gerade im pubertären Clinch mit seinen Eltern und ist auf der Suche nach einem alternativen Vater. Micahs Foto aus einer alten Schuhschachtel nimmt er als Wink des Schicksals für einen Ausbruch aus dem heimischen Regime samt Quartierwechsel. Also lässt er sich von Micah mit Kaffee, Dosenbier und einem Gästebett traktieren und wirbt auf seine ruppige Art um den neuen Dad, der sich mehr und mehr mit dieser Rolle anfreundet. Die emotionalen Altwasser werden kräftig aufgewühlt, zumal die halbfeste Freundin mit Ausstieg droht und sich das Erscheinen Lornas belebend auf brachliegende Gefühle auswirkt.
Anders als Rosamunde Pilcher gönnt Anne Tyler ihrer Gemeinde in der Regel nur ein gedämpftes Happy End. Immerhin heißt es im letzten Satz über Micah: "he begins to feel happy". Das Schlusswort zählt. Die Übersetzung hat diese kleine Pointe, die auch im Deutschen hinzukriegen wäre, übersehen. Auch sonst zeigt sie, bei genereller Lesbarkeit, Zeichen von sprachlichem Eigensinn. Sie ist wohl unter Zeitdruck entstanden, denn die deutsche Fassung musste zur gleichen Zeit wie das Original erscheinen. Prägnanz und Lakonik, die großen Stärken von Tylers Erzähl- und Dialogkunst, sind hier nicht mehr oberste Priorität. Die knapp reihende, quasi hemingwaysche Syntax der Vorlage bläht sich immer wieder auf, und Brinks einsilbiges "Great" mausert sich kurz nacheinander zu "Supergern . . . Optimal . . . Genial" - ein stilistischer Overkill.
Aber es gibt auch so etwas wie übergroße Nähe zum Original: Dann werden aus 35 Meilen 35 Kilometer, und die allgegenwärtige Kaffeemaschine muss ständig als "Perkolator" durch die Geschichte blubbern. Und wie kommt eigentlich der Schreibtisch in Micahs Schlafzimmer? Das Original plus Lexikon verrät es: bureau ist zwar ein englischer Schreibtisch, aber eine amerikanische Kommode. Zwei Nationen, getrennt durch eine gemeinsame Sprache, wie G. B. Shaw treffend bemerkt hat.
WERNER VON KOPPENFELS.
Anne Tyler: "Der Sinn des Ganzen". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2020. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Anne Tyler schafft es, einen auf den ersten Blick unspektakulären Typen in eine faszinierende literarische Figur zu verwandeln.« Meike Schnitzler, Brigitte, 01.07.2022 Meike Schnitzler Brigitte 20220701