Selbstlos siegt! Welche Gesetze über Erfolg und Misserfolg in unserem Leben bestimmen.Den Selbstlosen gehört die Zukunft: Das ist die erstaunliche Quintessenz des neuen Buches von Stefan Klein, das unser Denken und Handeln verändern wird. Denn die neueste Forschung lässt die Ehrlichen keineswegs als die Dummen dastehen. Entgegen unserem Alltagsglauben schneiden Egoisten nämlich nur kurzfristig besser ab. Auf längere Sicht haben diejenigen Menschen Erfolg, die sich um das Wohl anderer bemühen. Denn nicht nur Wettbewerb, sondern auch Kooperation ist eine Triebkraft der Evolution. Ein Sinn für Gut und Böse ist uns angeboren. Stefan Klein zieht einen faszinierenden Querschnitt durch die aktuellen Ergebnisse der Hirnforschung und der Genetik, der Wirtschaftswissenschaften und der Sozialpsychologie. Er zeigt, welche Gesetze über Erfolg und Misserfolg in unserem Leben bestimmen. Und er stellt dar, warum menschliches Miteinander und das Wohlergehen anderer zu unseren tiefsten Bedürfnissen gehören. Für andere zu sorgen schützt uns nicht nur vor Einsamkeit und Depression. Vielmehr macht uns Selbstlosigkeit glücklicher und erfolgreicher - und beschert uns nachweislich sogar ein längeres Leben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2011Würden Sie mir mal bitte das Salz reichen?
Stefan Klein und Werner Siefer fragen in ihren Büchern, warum wir Menschen freundlich zueinander sind und Ausnahmen nur diese Regel bestätigen.
Zu den wenigen philosophischen Sentenzen, denen es gelungen ist, in den Rang eines geflügelten Wortes aufzusteigen, gehört Hobbes' Satz aus dem "Leviathan", der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Das natürliche zwischenmenschliche Verhältnis ist danach der Konflikt. Frieden oder gar Kooperation setzen dagegen ein kompliziertes institutionelles Arrangement voraus, durch das die Menschen ihre destruktiven Neigungen künstlich neutralisieren. Die Einseitigkeit dieser Sicht der Dinge wird in der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie schon seit langem gerügt. So funktioniert gesellschaftliche Zusammenarbeit nur deshalb in befriedigender Weise, weil die Gesellschaftsmitglieder einander in einem Umfang vertrauen, der über die Logik des klugen Eigennutzes weit hinausgeht. Insbesondere die Existenz freiheitlicher Staaten beruht darauf, dass ihre Bürger sich in aller Regel auch dann normkonform verhalten, wenn kein Polizist in der Nähe ist, der Fehlverhalten unterbinden und sanktionieren könnte.
Aber die Menschen suchen nicht nur die Zusammenarbeit mit anderen und räumen diesen dabei einen erheblichen Vertrauensvorschuss ein. Sie tun einander in einem weit über alle Tiere hinausgehenden Ausmaß Gutes und bedenken dabei keineswegs nur Verwandte, sondern auch Wildfremde. Angesichts dieser Züge des Menschen charakterisiert ihn allenfalls zur Hälfte, wer ihn in der Hobbesschen Tradition als das gefährlichste aller Lebewesen bezeichnet.
Wie der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein feststellt, sind die Menschen daneben von einer singulären Großherzigkeit. Kleins Kollege Werner Siefer betont: "Nicht die Fähigkeit, Computer, Weltraumfahrzeuge und Wolkenkratzer konstruieren zu können, zeichnet den Menschen aus, sondern seine Freundlichkeit Fremden gegenüber." Für den Menschen bedeute Kooperation deshalb keine Anstrengung, die den Egoismus zu überwinden habe und dies nur selten schaffe, sondern eine Art Grundzustand. "Konfrontation markiert damit nicht den Ausgangspunkt aller sozialen Beziehungen, sondern ist eine mögliche Konsequenz von Fehlentwicklungen, nämlich des Scheiterns der Kooperation."
Die Freundlichkeit des Menschen ist keineswegs nur eine späte zivilisatorische Beigabe, sondern gehört, wie Klein und Siefer zeigen, zu seiner genetischen Grundausstattung. Für Klein spricht viel dafür, "dass unsere Vorfahren erst die freundlichsten Affen werden mussten, bevor sie eine Chance hatten, auch die klügsten Affen zu sein". Die Geschichte der Menschheit habe mit einer altruistischen Revolution, der Bereitschaft zur Sorge für den Nächsten begonnen. Siefer erblickt im Anschluss an die amerikanische Anthropologin Kristen Hawkes das bahnbrechende Ereignis in der gemeinsamen Aufzucht der Kinder einer Gruppe. Die biologischen Arten, die wie die Menschen auf die evolutionäre Strategie der Gehirnerweiterung setzten, bezahlten dies mit einer erheblich reduzierten Fruchtbarkeitsrate, die sie in Notzeiten der Gefahr des Aussterbens aussetze. Die Einbeziehung der gesamten Gruppe in die Kinderversorgung habe die Überlebenschancen des Nachwuchses erhöht und dadurch die Reproduktionsrate über die kritische Schwelle gehoben. "Der Mensch entstand im Kindergarten."
Die Fürsorge für die Kinder der Sippe habe sich dann zu einem Instinkt für das Kümmern und Sorgen um den anderen generell erweitert. "Die Rücksichtnahme wird, davon ist auszugehen, zu einem eigenen, die gesamte Gemeinschaft umfassenden Wert - und wird mit Alten und unheilbar Kranken bald auch Individuen umfassen, die aus der Sicht des egoistischen Gens völlig wertlos sind. Und die neue Intensität des Miteinanders wird Fähigkeiten wie das Erkennen der Gefühle anderer, das Einräumen von Vertrauen oder Mitgefühl, Empathie, besonders befördern - weil sie im magischen Viereck die Fruchtbarkeit erhöhen und sich damit biologisch durchsetzen werden."
Nachdem unsere Vorfahren einmal diesen Weg eingeschlagen hatten, gab es, wie Klein ergänzt, keinen Weg zurück. "Der Aufwand, ein Menschenkind aufzuziehen, war so groß geworden, dass ihn eine Mutter nicht mehr ohne Hilfe bewältigen konnte. Und der Energieverbrauch des Gehirns hatte dermaßen zugenommen, dass sich die nötige Nahrung nur noch mit vereinten Kräften heranschaffen ließ. Kooperation auch außerhalb der Verwandtschaft wurde möglich und nötig, Vertrauen und Freundschaften entwickelten sich.
Vom Clan über den Stamm bis hin zum Volk wuchsen die Verbände mehr und mehr. So wurde neben den Individuen, die um ihre Fortpflanzung rangen, eine neue Größe bestimmend in der Evolution: die Gruppe." Seitdem wird die biologische durch die weitaus rascher fortschreitende kulturelle Evolution überlagert. Ihre Antriebsenergie findet sie Siefer zufolge in der menschlichen Fähigkeit, die Intentionen anderer Personen zu verstehen und dies kommunikativ zum Ausdruck zu bringen. "Wer mit anderen zu Tisch sitzt und gebeten wird, doch bitte das Salz zu reichen, der kann sich dem nicht ohne Schaden verweigern - vorausgesetzt, er war aufmerksam, hört gut, ist der Sprache mächtig, hat zwei gesunde Arme und alles richtig begriffen. Die Verständigung und Erfüllung der höflichen Geste wird erwartet, sie ist ein unhintergehbarer, ein unabdinglicher Teil der menschlichen Existenz. Im Alltag mag das Typische daran untergehen, gerade weil eine solche Konstellation so häufig ist, so gewöhnlich. Doch in der winzigen Bitte versteckt sich der Kern des Menschseins." Mit der Durchsetzung der Wir-Intentionalität habe die Entwicklung der menschlichen Zivilisation etwas geradezu Zwangsläufiges bekommen. Da diese der Kommunikation und dem Zwischenmenschlichen entspringende Form der Mentalisierung sich nämlich auch auf Objekte beziehen könne, habe sie zur Etablierung einer Werkzeugkultur und schließlich der Erfindung von Sprache geführt.
Die Neigung der Menschen zur Vergemeinschaftung hat freilich, wie Klein hervorhebt, eine moralisch heikle Kehrseite. Mit der Verfestigung des Zusammenhalts innerhalb einer Gruppe pflegen nämlich Unverständnis und Feindseligkeit gegenüber Gruppenfremden einherzugehen. "Es genügt, ein paar Durchschnittsbürger zusammenzubringen. Ohne weiteres Zutun werden diese Menschen Gründe erfinden, weshalb sie sich von anderen unterscheiden und Außenseitern ablehnend begegnen." Es gibt offenbar keinen biologischen Mechanismus, der Selbstlosigkeit gegenüber allen begünstigt. "Wenn sich also jemand gegenüber allen Mitmenschen und möglicherweise sogar Tieren unterschiedslos altruistisch verhält, triumphiert sein Geist gewissermaßen über seine Natur."
Wie kann es vor diesem Hintergrund zur Herausbildung jener Haltung globaler Solidarität kommen, die Klein und Siefer zur Bewältigung der anstehenden Menschheitsprobleme für unverzichtbar halten? Klein vertritt einen vorsichtigen Optimismus. Entgegen einem verbreiteten kulturpessimistischen Lamento bewirkten Individualismus und Pluralismus nicht nur eine Schwächung traditioneller Loyalitäten. Da die Menschen in einer individualistischen Gesellschaft "Mitglieder vieler Gemeinschaften gleichzeitig" seien, erhöhe sich in ihr die Zahl punktueller Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten fremden Menschen ganz erheblich. Dieser Umstand begünstige die Entstehung neuartiger Beziehungsnetze und Verantwortlichkeitsstrukturen. Wenn "die Bereitschaft, selbstlos zu handeln, durch vielfältige Gruppenzugehörigkeiten wächst, dann sollte die Vernetzung der Welt bewirken, dass immer mehr Menschen sich altruistisch verhalten".
Aber tun sie das wirklich? Setzen sich beispielsweise, wie Klein behauptet, "in einer komplexeren Wirtschaft immer zivilisiertere Regeln des Zusammenlebens durch"? Die gegenwärtige Euro-Krise legt eher die gegenteilige Einschätzung nahe. Auch im Übrigen sollte die Belastbarkeit der von Klein gepriesenen vernetzungsbedingten Gemeinsamkeiten nicht überschätzt werden. Klein und Siefer betonen nämlich übereinstimmend den angeborenen Sinn der Menschen für Fairness. Niemand ist freiwillig dazu bereit, selbst Opfer zu bringen, während zahlreiche andere Personen sich ungestraft um ihren Beitrag drücken. Ohne ein funktionierendes Sanktionensystem verkümmert selbst die schönste Anlage zum Altruismus. Solange es an den entsprechenden Bestrafungsmechanismen fehlt, dürfte Kleins Hoffnung auf eine "zweite altruistische Revolution" auf Sand gebaut sein und Hobbes zwar nicht als Anthropologe, wohl aber als Institutionentheoretiker ein aktueller Autor bleiben.
MICHAEL PAWLIK.
Stefan Klein: "Der Sinn des Gebens". Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010. 335 S., geb., 18,95 [Euro].
Werner Siefer: "Wir und was uns zu Menschen macht".
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010. 289 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stefan Klein und Werner Siefer fragen in ihren Büchern, warum wir Menschen freundlich zueinander sind und Ausnahmen nur diese Regel bestätigen.
Zu den wenigen philosophischen Sentenzen, denen es gelungen ist, in den Rang eines geflügelten Wortes aufzusteigen, gehört Hobbes' Satz aus dem "Leviathan", der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Das natürliche zwischenmenschliche Verhältnis ist danach der Konflikt. Frieden oder gar Kooperation setzen dagegen ein kompliziertes institutionelles Arrangement voraus, durch das die Menschen ihre destruktiven Neigungen künstlich neutralisieren. Die Einseitigkeit dieser Sicht der Dinge wird in der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie schon seit langem gerügt. So funktioniert gesellschaftliche Zusammenarbeit nur deshalb in befriedigender Weise, weil die Gesellschaftsmitglieder einander in einem Umfang vertrauen, der über die Logik des klugen Eigennutzes weit hinausgeht. Insbesondere die Existenz freiheitlicher Staaten beruht darauf, dass ihre Bürger sich in aller Regel auch dann normkonform verhalten, wenn kein Polizist in der Nähe ist, der Fehlverhalten unterbinden und sanktionieren könnte.
Aber die Menschen suchen nicht nur die Zusammenarbeit mit anderen und räumen diesen dabei einen erheblichen Vertrauensvorschuss ein. Sie tun einander in einem weit über alle Tiere hinausgehenden Ausmaß Gutes und bedenken dabei keineswegs nur Verwandte, sondern auch Wildfremde. Angesichts dieser Züge des Menschen charakterisiert ihn allenfalls zur Hälfte, wer ihn in der Hobbesschen Tradition als das gefährlichste aller Lebewesen bezeichnet.
Wie der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein feststellt, sind die Menschen daneben von einer singulären Großherzigkeit. Kleins Kollege Werner Siefer betont: "Nicht die Fähigkeit, Computer, Weltraumfahrzeuge und Wolkenkratzer konstruieren zu können, zeichnet den Menschen aus, sondern seine Freundlichkeit Fremden gegenüber." Für den Menschen bedeute Kooperation deshalb keine Anstrengung, die den Egoismus zu überwinden habe und dies nur selten schaffe, sondern eine Art Grundzustand. "Konfrontation markiert damit nicht den Ausgangspunkt aller sozialen Beziehungen, sondern ist eine mögliche Konsequenz von Fehlentwicklungen, nämlich des Scheiterns der Kooperation."
Die Freundlichkeit des Menschen ist keineswegs nur eine späte zivilisatorische Beigabe, sondern gehört, wie Klein und Siefer zeigen, zu seiner genetischen Grundausstattung. Für Klein spricht viel dafür, "dass unsere Vorfahren erst die freundlichsten Affen werden mussten, bevor sie eine Chance hatten, auch die klügsten Affen zu sein". Die Geschichte der Menschheit habe mit einer altruistischen Revolution, der Bereitschaft zur Sorge für den Nächsten begonnen. Siefer erblickt im Anschluss an die amerikanische Anthropologin Kristen Hawkes das bahnbrechende Ereignis in der gemeinsamen Aufzucht der Kinder einer Gruppe. Die biologischen Arten, die wie die Menschen auf die evolutionäre Strategie der Gehirnerweiterung setzten, bezahlten dies mit einer erheblich reduzierten Fruchtbarkeitsrate, die sie in Notzeiten der Gefahr des Aussterbens aussetze. Die Einbeziehung der gesamten Gruppe in die Kinderversorgung habe die Überlebenschancen des Nachwuchses erhöht und dadurch die Reproduktionsrate über die kritische Schwelle gehoben. "Der Mensch entstand im Kindergarten."
Die Fürsorge für die Kinder der Sippe habe sich dann zu einem Instinkt für das Kümmern und Sorgen um den anderen generell erweitert. "Die Rücksichtnahme wird, davon ist auszugehen, zu einem eigenen, die gesamte Gemeinschaft umfassenden Wert - und wird mit Alten und unheilbar Kranken bald auch Individuen umfassen, die aus der Sicht des egoistischen Gens völlig wertlos sind. Und die neue Intensität des Miteinanders wird Fähigkeiten wie das Erkennen der Gefühle anderer, das Einräumen von Vertrauen oder Mitgefühl, Empathie, besonders befördern - weil sie im magischen Viereck die Fruchtbarkeit erhöhen und sich damit biologisch durchsetzen werden."
Nachdem unsere Vorfahren einmal diesen Weg eingeschlagen hatten, gab es, wie Klein ergänzt, keinen Weg zurück. "Der Aufwand, ein Menschenkind aufzuziehen, war so groß geworden, dass ihn eine Mutter nicht mehr ohne Hilfe bewältigen konnte. Und der Energieverbrauch des Gehirns hatte dermaßen zugenommen, dass sich die nötige Nahrung nur noch mit vereinten Kräften heranschaffen ließ. Kooperation auch außerhalb der Verwandtschaft wurde möglich und nötig, Vertrauen und Freundschaften entwickelten sich.
Vom Clan über den Stamm bis hin zum Volk wuchsen die Verbände mehr und mehr. So wurde neben den Individuen, die um ihre Fortpflanzung rangen, eine neue Größe bestimmend in der Evolution: die Gruppe." Seitdem wird die biologische durch die weitaus rascher fortschreitende kulturelle Evolution überlagert. Ihre Antriebsenergie findet sie Siefer zufolge in der menschlichen Fähigkeit, die Intentionen anderer Personen zu verstehen und dies kommunikativ zum Ausdruck zu bringen. "Wer mit anderen zu Tisch sitzt und gebeten wird, doch bitte das Salz zu reichen, der kann sich dem nicht ohne Schaden verweigern - vorausgesetzt, er war aufmerksam, hört gut, ist der Sprache mächtig, hat zwei gesunde Arme und alles richtig begriffen. Die Verständigung und Erfüllung der höflichen Geste wird erwartet, sie ist ein unhintergehbarer, ein unabdinglicher Teil der menschlichen Existenz. Im Alltag mag das Typische daran untergehen, gerade weil eine solche Konstellation so häufig ist, so gewöhnlich. Doch in der winzigen Bitte versteckt sich der Kern des Menschseins." Mit der Durchsetzung der Wir-Intentionalität habe die Entwicklung der menschlichen Zivilisation etwas geradezu Zwangsläufiges bekommen. Da diese der Kommunikation und dem Zwischenmenschlichen entspringende Form der Mentalisierung sich nämlich auch auf Objekte beziehen könne, habe sie zur Etablierung einer Werkzeugkultur und schließlich der Erfindung von Sprache geführt.
Die Neigung der Menschen zur Vergemeinschaftung hat freilich, wie Klein hervorhebt, eine moralisch heikle Kehrseite. Mit der Verfestigung des Zusammenhalts innerhalb einer Gruppe pflegen nämlich Unverständnis und Feindseligkeit gegenüber Gruppenfremden einherzugehen. "Es genügt, ein paar Durchschnittsbürger zusammenzubringen. Ohne weiteres Zutun werden diese Menschen Gründe erfinden, weshalb sie sich von anderen unterscheiden und Außenseitern ablehnend begegnen." Es gibt offenbar keinen biologischen Mechanismus, der Selbstlosigkeit gegenüber allen begünstigt. "Wenn sich also jemand gegenüber allen Mitmenschen und möglicherweise sogar Tieren unterschiedslos altruistisch verhält, triumphiert sein Geist gewissermaßen über seine Natur."
Wie kann es vor diesem Hintergrund zur Herausbildung jener Haltung globaler Solidarität kommen, die Klein und Siefer zur Bewältigung der anstehenden Menschheitsprobleme für unverzichtbar halten? Klein vertritt einen vorsichtigen Optimismus. Entgegen einem verbreiteten kulturpessimistischen Lamento bewirkten Individualismus und Pluralismus nicht nur eine Schwächung traditioneller Loyalitäten. Da die Menschen in einer individualistischen Gesellschaft "Mitglieder vieler Gemeinschaften gleichzeitig" seien, erhöhe sich in ihr die Zahl punktueller Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten fremden Menschen ganz erheblich. Dieser Umstand begünstige die Entstehung neuartiger Beziehungsnetze und Verantwortlichkeitsstrukturen. Wenn "die Bereitschaft, selbstlos zu handeln, durch vielfältige Gruppenzugehörigkeiten wächst, dann sollte die Vernetzung der Welt bewirken, dass immer mehr Menschen sich altruistisch verhalten".
Aber tun sie das wirklich? Setzen sich beispielsweise, wie Klein behauptet, "in einer komplexeren Wirtschaft immer zivilisiertere Regeln des Zusammenlebens durch"? Die gegenwärtige Euro-Krise legt eher die gegenteilige Einschätzung nahe. Auch im Übrigen sollte die Belastbarkeit der von Klein gepriesenen vernetzungsbedingten Gemeinsamkeiten nicht überschätzt werden. Klein und Siefer betonen nämlich übereinstimmend den angeborenen Sinn der Menschen für Fairness. Niemand ist freiwillig dazu bereit, selbst Opfer zu bringen, während zahlreiche andere Personen sich ungestraft um ihren Beitrag drücken. Ohne ein funktionierendes Sanktionensystem verkümmert selbst die schönste Anlage zum Altruismus. Solange es an den entsprechenden Bestrafungsmechanismen fehlt, dürfte Kleins Hoffnung auf eine "zweite altruistische Revolution" auf Sand gebaut sein und Hobbes zwar nicht als Anthropologe, wohl aber als Institutionentheoretiker ein aktueller Autor bleiben.
MICHAEL PAWLIK.
Stefan Klein: "Der Sinn des Gebens". Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2010. 335 S., geb., 18,95 [Euro].
Werner Siefer: "Wir und was uns zu Menschen macht".
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010. 289 S., geb., 22,- [Euro].
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