Zu Hause oder auf Reisen, Sarah Kirsch schrieb Tagebuch. Früh morgens, zwischen fünf und sechs, kocht sie sich »Koffie« und füllt ihre Kladden, berichtet Persönliches und Politisches, Triviales und Tragisches. Das Radio bringt die Nachrichten ins schleswig-holsteinische Idyll am Eiderdeich - in dem Kirsch seit 1983 mit Sohn, Partner, Hund, Katzen, Esel und einigen Schafen lebt - und veranlasst die Dichterin zu schonungslosen und besorgten Kommentaren. Sie hält fest, was in der Welt und in der Natur vor ihrem Fenster los ist: Frost im Frühling, grasende Ringeltauben, eilig fahrende Wolken bei Windstärke 6, Ausschreitungen in Rumänien, die Unabhängigkeitsbestrebungen Litauens, die Regierungsbildung in der DDR, das Fährunglück zwischen Dänemark und Norwegen. Misteldrosseln und Militärkolonnen - auch hier gilt, was Iris Radisch über Sarah Kirschs Wendetagebuch Ich will nicht mehr höflich sein schrieb: »steht das große Welttheater gleichrangig neben dem kleinen Provinztheater in Tielenhemme«.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Iris Radisch ist schon längst süchtig nach den Tagebüchern Sarah Kirschs und hofft, dass nach dieser Ausgabe noch viele weitere aus dem Nachlass der Schriftstellerin veröffentlicht werden. Den unvergleichlichen "Mix aus Himmel, Sound und Stoizismus" findet sie auch hier in den Aufzeichnungen des Jahres 1990. Politisch geht es drunter und drüber, Kirsch ist eigentlich total genervt von der Politik und beschäftigt sich lieber mit ihrem Sohn, der Natur und ihrem Esel. Viel lieber wäre die Autorin "Vollzeit-Eremitin", so Radisch, das politische Schlamassel zwingt sie jedoch immer wieder, sich mit dem Weltgeschehen auseinanderzusetzen. Auch mit der Gelassenheit klappt es nicht so gut, vor allem, wenn sie ihre Kollegin Christa Wolf im Fernsehen über die DDR sprechen hört. Radisch wartet auf jeden Fall mit Spannung auf mehr von diesem Lesestoff.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2024Fröhliche Misanthropin
Sarah Kirschs Tagebuch aus dem Jahr 1990
"Hab ab Mittag den ganzen Spiegel gelesen", notiert Sarah Kirsch am 26. März (sie schreibt "Märzen") 1990 in ihrem Tagebuch, "diesz ist nicht unbedingt gut für den Leser. Ich jedenfalls bin nicht glücklicher geworden, im Gegenteil. Recht eigentlich könnte ich mich sofort erschießen."
Hätte die Dichterin nach dieser Lektüre die Möglichkeit gehabt, das eigene "Tagebuch 1990" zu lesen, ihre Laune hätte sich womöglich gehoben. Auch wenn Kirsch gerne schimpft, auf die Politiker, die doch alle Arschlöcher seien, auf die Kollegen der Ostberliner Akademie der Künste ("zum Kotzen"), die verlogenen "DDR-Menschen" überhaupt, auch wenn der Rest der Welt einen schier in den Wahnsinn treiben könnte, am Ende sagt Kirsch: Leckt mich doch am Allerwertesten, und geht mit dem Hund spazieren.
Im schleswig-holsteinischen Tielenhemme hat sie sieben Jahre zuvor ihren Rückzugsort gefunden. Dort wohnt sie mit Mann und Sohn Moritz (dem nunmehrigen Herausgeber des Tagebuchs) in einem alten Schulhaus, kommentiert herrlich bärbeißig die Weltlage, malt Aquarelle, bosselt an kleinen Prosastücken und freut sich, wenn sie keine anderen Menschen sehen muss. Ausflüge zum Haareschneiden in die nächste Kleinstadt sind ihr eine Pein, die Lesungen irgendwo in der Republik ein notwendiges Übel, um den Schuldenberg abzutragen.
Nein, am liebsten steht sie morgens um fünf Uhr auf, kümmert sich um die zahlreichen Katzen und Schafe, beantwortet Post, versucht ein paar Zeilen oder Verse zu schreiben, und "nachher gehe ich aber etwas in die Sonne, in den Garten. Wird ja nicht gleich Hautkrebs vom Ozonloch kriegen. Ist alles zweifelhaft geworden, diesz Leben hier auf dem Planeten. Schön immer noch."
"Der Sommer fängt doch so an!" setzt am 19. März 1990 ein, dem Tag nach den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR. Die sind aber kein Thema für Kirsch, wie überhaupt die politische Entwicklung in beiden Deutschlands hin zur Wiedervereinigung (mit der das Tagebuch dann endet) erstaunlich wenig kommentiert wird. Viel mehr interessiert Kirsch zumindest im März und April, was in den baltischen Staaten vor sich geht, speziell die Unabhängigkeitsbestrebungen in Litauen verfolgt sie bangend. Auch die ausländerfeindlichen Übergriffe in Ost und West registriert Kirsch besorgt.
An der Entwicklung in der DDR nimmt sie, anders als etwa Martin Groß in seinem Tagebuch über das "Letzte Jahr" der DDR, nur in Bezug auf ihren eigenen Berufsstand Anteil, mischt sich sogar mit einem in dieser Zeitung erschienenen Artikel in die Debatte um den ostdeutschen PEN und seine mögliche Auflösung ein.
Immer wieder auch kommt sie auf Christa Wolf zu sprechen, die sich in Kirschs Augen als Widerstandskämpferin geriere und sich damit selbst in die Tasche lüge. Irrsinnig komisch der Satz (aus einem Brief an Wolfs Ehemann Gerhard): "Und dieser Kinderglaube, daß in der BRD die Barbaren sitzen - ich habe mich dem Markt angepaßt und schreibe nun harte Pornos."
Nichts liegt Sarah Kirsch freilich ferner. Hat sie den Mauerfall und die Monate danach noch am Fernsehen verfolgt (nachzulesen im Vorgängerband "Ich will nicht mehr höflich sein"), ist sie nun aufs Radio umgestiegen und hört am liebsten den "Büchermarkt" im Deutschlandfunk, nicht die politischen Sendungen. Am 16. April, ihrem Geburtstag, notiert sie: "Das berühmte Aprilwetter natürlich. Dazu schöne depressive Passionsmusik - was will man mehr? Nix. Alles Paletti."
Sarah Kirsch hat 1990 ihren Frieden mit sich, Deutschland und der Welt gemacht, soweit man das als denkender Mensch überhaupt tun kann. Und so gerne man für die kurze Zeit, die es dauert, diesen schmalen Band zu lesen, die Weltflucht mit ihr antritt und dem friedlichen Blöken der Schafe lauscht, hat man doch den Eindruck: Danach kann literarisch eigentlich nicht mehr viel kommen. TOBIAS LEHMKUHL
Sarah Kirsch: "Der Sommer fängt doch so an!". Tagebuch 1990
Steidl Verlag, Göttingen 2023. 224 S., geb., 24,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sarah Kirschs Tagebuch aus dem Jahr 1990
"Hab ab Mittag den ganzen Spiegel gelesen", notiert Sarah Kirsch am 26. März (sie schreibt "Märzen") 1990 in ihrem Tagebuch, "diesz ist nicht unbedingt gut für den Leser. Ich jedenfalls bin nicht glücklicher geworden, im Gegenteil. Recht eigentlich könnte ich mich sofort erschießen."
Hätte die Dichterin nach dieser Lektüre die Möglichkeit gehabt, das eigene "Tagebuch 1990" zu lesen, ihre Laune hätte sich womöglich gehoben. Auch wenn Kirsch gerne schimpft, auf die Politiker, die doch alle Arschlöcher seien, auf die Kollegen der Ostberliner Akademie der Künste ("zum Kotzen"), die verlogenen "DDR-Menschen" überhaupt, auch wenn der Rest der Welt einen schier in den Wahnsinn treiben könnte, am Ende sagt Kirsch: Leckt mich doch am Allerwertesten, und geht mit dem Hund spazieren.
Im schleswig-holsteinischen Tielenhemme hat sie sieben Jahre zuvor ihren Rückzugsort gefunden. Dort wohnt sie mit Mann und Sohn Moritz (dem nunmehrigen Herausgeber des Tagebuchs) in einem alten Schulhaus, kommentiert herrlich bärbeißig die Weltlage, malt Aquarelle, bosselt an kleinen Prosastücken und freut sich, wenn sie keine anderen Menschen sehen muss. Ausflüge zum Haareschneiden in die nächste Kleinstadt sind ihr eine Pein, die Lesungen irgendwo in der Republik ein notwendiges Übel, um den Schuldenberg abzutragen.
Nein, am liebsten steht sie morgens um fünf Uhr auf, kümmert sich um die zahlreichen Katzen und Schafe, beantwortet Post, versucht ein paar Zeilen oder Verse zu schreiben, und "nachher gehe ich aber etwas in die Sonne, in den Garten. Wird ja nicht gleich Hautkrebs vom Ozonloch kriegen. Ist alles zweifelhaft geworden, diesz Leben hier auf dem Planeten. Schön immer noch."
"Der Sommer fängt doch so an!" setzt am 19. März 1990 ein, dem Tag nach den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR. Die sind aber kein Thema für Kirsch, wie überhaupt die politische Entwicklung in beiden Deutschlands hin zur Wiedervereinigung (mit der das Tagebuch dann endet) erstaunlich wenig kommentiert wird. Viel mehr interessiert Kirsch zumindest im März und April, was in den baltischen Staaten vor sich geht, speziell die Unabhängigkeitsbestrebungen in Litauen verfolgt sie bangend. Auch die ausländerfeindlichen Übergriffe in Ost und West registriert Kirsch besorgt.
An der Entwicklung in der DDR nimmt sie, anders als etwa Martin Groß in seinem Tagebuch über das "Letzte Jahr" der DDR, nur in Bezug auf ihren eigenen Berufsstand Anteil, mischt sich sogar mit einem in dieser Zeitung erschienenen Artikel in die Debatte um den ostdeutschen PEN und seine mögliche Auflösung ein.
Immer wieder auch kommt sie auf Christa Wolf zu sprechen, die sich in Kirschs Augen als Widerstandskämpferin geriere und sich damit selbst in die Tasche lüge. Irrsinnig komisch der Satz (aus einem Brief an Wolfs Ehemann Gerhard): "Und dieser Kinderglaube, daß in der BRD die Barbaren sitzen - ich habe mich dem Markt angepaßt und schreibe nun harte Pornos."
Nichts liegt Sarah Kirsch freilich ferner. Hat sie den Mauerfall und die Monate danach noch am Fernsehen verfolgt (nachzulesen im Vorgängerband "Ich will nicht mehr höflich sein"), ist sie nun aufs Radio umgestiegen und hört am liebsten den "Büchermarkt" im Deutschlandfunk, nicht die politischen Sendungen. Am 16. April, ihrem Geburtstag, notiert sie: "Das berühmte Aprilwetter natürlich. Dazu schöne depressive Passionsmusik - was will man mehr? Nix. Alles Paletti."
Sarah Kirsch hat 1990 ihren Frieden mit sich, Deutschland und der Welt gemacht, soweit man das als denkender Mensch überhaupt tun kann. Und so gerne man für die kurze Zeit, die es dauert, diesen schmalen Band zu lesen, die Weltflucht mit ihr antritt und dem friedlichen Blöken der Schafe lauscht, hat man doch den Eindruck: Danach kann literarisch eigentlich nicht mehr viel kommen. TOBIAS LEHMKUHL
Sarah Kirsch: "Der Sommer fängt doch so an!". Tagebuch 1990
Steidl Verlag, Göttingen 2023. 224 S., geb., 24,- Euro
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