Das Porträt eines außergewöhnlichen Schriftstellers - und zugleich das Psychogramm einer Epoche
Helmut Lethen, geboren 1939, gehört zu den intimsten Kennern der klassischen Moderne. Von 1977 bis 1996 lehrte er an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Zahlreiche Veröffentlichungen, insbesondere zur deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Sein Buch "Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen" (1994) gilt als Standardwerk.
Helmut Lethen, geboren 1939, gehört zu den intimsten Kennern der klassischen Moderne. Von 1977 bis 1996 lehrte er an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Zahlreiche Veröffentlichungen, insbesondere zur deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Sein Buch "Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen" (1994) gilt als Standardwerk.
Helmut Lethen seziert Gottfried Benn und seine Zeit
Hochmut regiert dieses faszinierende Buch. Nicht daß Helmut Lethen ein hochmütiges Buch geschrieben hätte. Nein, er hat vorderhand sogar ein sehr demütiges Buch geschrieben. Denn es liest sich, wenn man so will, nur wie eine erweiterte Fassung seines Klassikers von 1994 über die "Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen". Was er damals über die Denker der neuen Sachlichkeit schrieb, über Ernst Jünger und Carl Schmitt zumal, wird nun noch einmal bei Benn erprobt. Lethen wollte ausdrücklich keine Biographie Gottfried Benns schreiben, sondern die "unheimlichen Nachbarschaften aufzeigen, in denen Benns Essays und Gedichte stehen". Es ist, so gesehen, ein Werk der Konstellationsforschung, rundherum gebaut um das neusachliche Avantgarde-Motto: je kälter der Blick, desto wirklicher das Gesehene. Diesen "Habitus der Kältefreaks" nennt Lethen "hochmütig" und stellt ihn als halbierte Nietzsche-Erfahrung bloß. Es ist diese These vom halbierten Nietzsche, die zum Erhellendsten und zugleich Ernüchterndsten gehört, was der Autor in seinem alles in allem doch sehr pädagogisch, sehr ordentlich abgefaßten Werk über Benn und seine Zeit vorträgt. Benn und seine Zeit - das heißt für Lethen: ein Buch über Benn, Jünger, Schmitt und allemal über einen eklektisch ausgebeuteten Nietzsche.
Erhellend und ernüchternd: Hat es nicht etwas ungemein Ernüchterndes, mit Benn alles auf die eine Karte der "Haltung" zu setzen und damit doch nur einen Stand im Schutt zu gewinnen? Während die Abrißbirne die "cerebralen Cartenhäuser der Zivilisation" zum Einsturz bringt? Ist es nicht besser, wie ein Flegel in derartigen Kartenhäusern zu wohnen, als mit Haltung auf dem Schuttplatz zu übernachten? Um ebendieses Rätsel der heroischen Willensanstrengung aufzuhellen, bemüht Lethen Nietzsche, den man zur Jahrhundertwende mimetisch las. Die Avantgardisten, erklärt der Autor, halbierten in der Regel Nietzsches Denkfiguren, um sie zu eindeutigen Verhaltensregeln umzubeugen. Mit viel Ertrag wird in diesem Zusammenhang der lange Aphorismus 114 "Von der Erkenntnis des Leidenden" in der "Morgenröthe" ausgedeutet. Dort beschreibt Nietzsche, wie die "Kälte" der Beobachtung als Widerstand gegen physischen Schmerz entwickelt wird: "Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jenen kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und ohne Farbe."
Solche Sätze, kommentiert Lethen, mögen noch "nach dem Geschmack der Kältefreaks" gewesen sein. "Nicht aber die Fortsetzung von Nietzsches Überlegung: Tritt nämlich die Genesung ein, so wird das Pathos des kalten Blicks als Hochmut erkannt." Die Ökonomie des Genesenden relativiere die gnadenlose Erkenntnis des Leidenden. Beides zusammen "ergibt zwar kein harmonisches Ganzes, aber immerhin ein Ganzes mit Dissonanzen". Das ist eine entscheidende Beobachtung. Welch ein bestürzender Durchblick auf den Durchblicker Benn. Was nutzt Benn sein Hochhalten von "Haltung" und "Form" als erkenntnistheoretischen Maximen, wenn sich das Pathos der Wahrnehmungsschärfe schon im Moment der Formulierung wieder als unscharf erweist? Da preist ein immer einsamer Benn die diogenesische Absonderung als Bedingung der genauen, von keinem moralischen oder sozialen Zug getrübten reinen Wahrnehmung - und muß sich schließlich doch sagen, in seiner windstillen Ecke nicht durchgeblickt zu haben. Lethen bringt dieses vermögende Unvermögen des Dichters auf die reizvolle Formel: Benn folgt dem naturalistischen Menschenbild, indem er es verfolgt. Paradoxerweise scheint es tatsächlich immer das einfachste, sich mit Haut und Haaren einer einzigen Sache zu verschreiben. Und ewig lockt das Ganze.
"Nach seiner hochfliegenden Verschmelzung von Ästhetik und Politik in den Jahren 1933/34 scheint Gottfried Benn eine Erfahrung gemacht zu haben, die Schmitt verschlossen blieb: die Lächerlichkeit der Existenz." Aber ist nicht gerade diese Erfahrung die unsicherste überhaupt? Lohnt es sich für einen Menschen wirklich, die eigene Existenz als "lächerlich" hinzustellen - und damit aus lauter Ungeduld die Sünde wider den heiligen Geist zu begehen, statt die Sinnfrage geduldig offenzuhalten? Ist die Behauptung der lächerlichen Existenz nicht vielmehr selbst die lächerlichste aller Dezisionen? Und ist die statische Perspektive, in welcher Benn sich die Welt in "Linien" erschließen will, nicht im Grunde - einem Grunde, auf dem doch für Benn nur Sprachspiele existieren - eine recht komische Prätention? Läßt sich "die Lage" durch knappes Vorbeischauen, durch Lücke lassen, nicht allemal besser erkennen als durch die angestrengte Draufsicht auf ein kohärentes Ganzes? Hat der um ein Ganzes bittende Diogenes-Benn in der Tonne von Landsberg nicht etwas durch und durch Rührendes? Benns von aggressiver Affektlosigkeit getragene Vorstellung, Urin, Kot, Essig im Schlund und verwesende Leichen seien Medien, um in die Existenz einzutauchen, müssen einem fröhlichen Skeptiker denn auch weniger anstößig als albern vorkommen. "Seit den frühen Gedichten die gleiche Geste: Die Nähe zu dem, was als ekelhaft gilt, verbürgt wahre Erfahrung", bemerkt Lethen. "Handelt es sich hier um politischen Existentialismus, physiologisch gewendet, da an die Stelle der tödlichen Gefahr, die den Ernst des Lebens garantiert, die Ekelsphäre getreten ist?"
Lethen entzaubert Benns Habitusideal des monsieur vivisecteur in Weste und Hut als komische Oper gleichsam im Vorbeigehen, durch einen lässigen Blick von der Seite, ohne dabei den Erkenntnisgewinn der physiologischen Warte zu bestreiten, die den Vorteil habe, "die Aufmerksamkeit ganz auf die Bewegungsabläufe, den Aktionsradius der Menschen zu konzentrieren". Die Tiefe der Figuren liege denn auch bei Benn "weder psychoanalytisch in ihren seelischen Depots noch soziologisch in ihrem Zustand als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern in den sichtbaren Äußerungsformen ihrer Affekte, in ihren Launen und Moden, Anpassungen und Aggressionen". Benns Verfahren ist gerade dort, wo es ihm um die "Unterseite der Ideale" geht, handlungstheoretisch, nicht introspektiv.
Die Disposition zum Umschlag, zur hemmungslosen Anpassung einer Existenz, die nicht selber ist, es sei denn als Schnittpunkt externer Faktoren - sie hat hier ihren Ort: in der Erwartung, überhaupt je zu so etwas wie einem "Elementarreich" vorstoßen zu können. Von hier aus verläuft für Lethen eine direkte Linie zu "Benns Verbrechen" unter den Nazis. "Ähnlich wie Carl Schmitt glaubt Benn, durch hemmungslose Überbietung der harmlosen Mitläufer, durch eine Art intellektuellen Satanismus, das Ohr des Machthabers zu erreichen." Zu den durchkomponiertesten Passagen des Buchs zählen jene, in denen Benn im Dreigestirn mit Jünger und Schmitt auftaucht: "Diese drei Männer, die der Kollaboration (mit den Nazis) bezichtigt werden, bemühen sich, auf keinen Fall als Reumütige dazustehen. Der Rechtsgelehrte Carl Schmitt, Staatsrat von Görings Gnaden, achtet peinlich darauf, wer als Erster dieses ungeschriebene Gesetz der Satisfaktionsgesellschaft bricht. Mit dem Erscheinen von Benns autobiographischer Schrift ,Doppelleben' steht für Schmitt fest: Benn ist der erste Abtrünnige. So schleppen die, die sich einbilden, Mitglieder einer ehrenwerten Gesellschaft zu sein, das neunzehnte Jahrhundert mit sich herum." Dieses aufregende Kapitel über Benn, Jünger und Schmitt - über drei Männer, die sich unentwegt gegenseitig belauern - trägt die Überschrift "Drei Männer im Schutt".
Lethen spricht von "Benns Verbrechen", und mit diesem deutlichen Begriff wendet er Benns handlungstheoretische Methode auf ihn selbst an: Was bei der Bewertung zählt, sind nicht seelische Depots oder soziologische Verhältnisse, sondern die sichtbaren Äußerungen der Anpassungen und Aggressionen. Damit nimmt sich Lethen auf einen halbierten Historiker zurück, der gleichsam ohne psychologische und soziologische Hilfswissenschaften zu sagen begehrt, wie es eigentlich gewesen ist. Etwaige Zweifel an der Angemessenheit dieser Methode fielen dann gewissermaßen auf Benn selbst zurück. Jedenfalls will Lethen bei der Frage, warum Benn mit den Nazis in der Zeit des Umbruchs gemeinsame Sache machte, alles ausschließen, was nur durch raffinierte Auslegung von Textspuren erschlossen werden könnte. "Es geht vielmehr um ,Fakten', die - wie man in der Schule der Evidenz, aus der Benn kam, sagen würde - mindestens von zwei Beobachtern registriert werden können. Das sind in diesem Fall: Mithilfe zur Säuberung der Akademie von republikanischen, jüdischen und sozialistischen Schriftstellern; Unterstützung der NS-Eugenik in der Phase ihrer Vorbereitung des ,Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses'; Rechtfertigung der Vertreibung kritischer Künstler in die Emigration. Das sind farblose Dinge, und die Textspuren zeigen auf eine bewußte, keine erzwungene Kooperation. Das läßt sich ebenfalls und für einen erheblich längeren Zeitraum für Carl Schmitt sagen - aber zur großen Überraschung der Zeitgenossen nicht für Ernst Jünger."
Warum hat Helmut Lethen dieses einnehmende, auf weiten Strecken so kalte Benn-Buch geschrieben? Vermutlich hat er keinen anderen Weg gesehen, um seine Bewunderung für den gefallenen Dichter in die Öffentlichkeit zu schmuggeln.
Helmut Lethen: "Der Sound der Väter". Gottfried Benn und seine Zeit. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 318 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einnehmend und faszinierend findet Rezensent Christian Geyer dieses Buch über Gottfried Benn und seine Zeit, dass sich für ihn fast wie die erweiterte Fassung von Helmut Lethens "Klassiker von 1994" über die "Verhaltenslehren der Kälte" gelesen hat. Zwar ist die Studie seiner Ansicht nach etwas pädagogisch. Trotzdem eröffnet sie dem Rezensenten erhellende wie ernüchternde Perspektiven auf den umstrittenen Dichter, auf sein Werk und dessen "unheimliche Nachbarschaften". Dabei entzaubere Lethen auch Benns Habitusideal des "monsieur vivisecteur" als komische Oper, seine existenzielle Beziehung zu "Urin, Kot, Essig im Schlund und verwesenden Leichen" als albern und vermittele doch große Bewunderung für diesen epochalen Autor. Beeindruckt ist der Rezensent auch von Lethens Verfahren, bei der Diskussion um "Benns Verbrechen" dessen eigene handlungstheoretische Methode anzuwenden. Am gestalterisch gelungensten, ja aufregendsten findet Geyer schließlich die Passagen, in denen er Benn neben Carl Schmitt und Ernst Jünger auftauchen sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH