Pere Gimferrer zählt zu den wichtigsten katalanischen Lyrikern der letzten fünfzig Jahre. Seine Gedichte sind komplexe Gebilde, in denen sich die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung und die theoretische Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Vermittlung überlagern und gegenseitig bedingen. Gimferrers vielstimmige, anspielungsreiche Lyrik unternimmt den Versuch, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch den poetischen Akt zu überwinden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2008Schwarzes Lethenwasser
Endlich übersetzt: Der Lyriker Pere Gimferrer
Was vom letztjährigen Gastspiel der katalanischen Kultur bei der Frankfurter Buchmesse bleibt, ist glücklicherweise nicht die ebenso hitzige wie unfruchtbare Debatte um Ursachen und Auswüchse des sogenannten katalanischen Nationalismus. Erst mit etwas zeitlichem Abstand wird der Gewinn voll begreifbar, dass aus diesem Anlass zahlreiche Autoren ins Deutsche übersetzt wurden, die seit Jahrzehnten zu den bedeutenden in Europa zählen, aber aufgrund der Nischenlage ihrer Sprache bislang kaum Öffentlichkeit fanden.
Besonders gilt das für den Lyriker Pere Gimferrer, der, von Essays zu Max Ernst oder Antonio Tàpies abgesehen, hierzulande bisher allenfalls durch verstreute Gedichte in Anthologien Beachtung fand. Zudem beleuchteten Letztere oft nur sein Werk in spanischer Sprache, eine Schaffensperiode, die der Dichter vor fast vierzig Jahren hinter sich ließ. Nun liegen erstmals zwei seiner Gedichtbände ungekürzt vor, die in der Zeit des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie entstanden. Als "Die Spiegel" ("Els miralls") 1970 in Barcelona erschien, konnte es nur als Provokation gelesen werden: allein durch die Tatsache, dass es auf Katalanisch geschrieben war.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Dichter bereits eine eindrucksvolle Blitzkarriere im Spanischen hinter sich und 1966, im Alter von einundzwanzig Jahren, den Nationalen Literaturpreis bekommen. Sein Wechsel in eine Sprache, deren Publikation bereits Ursache einer Strafverfolgung sein konnte, war schon für sich genommen eine politische Positionsbestimmung. Dennoch versagt sich der Autor in seiner Dichtung einer näheren Zuordnung, indem er, wie bereits am Eingangsgedicht "Fallen" deutlich wird, das Buch explizit als eine metaliterarische Etüde konzipiert.
"Poetry is the subject of the poem", verkündet Gimferrer mit den Worten seines Säulenheiligen Wallace Stevens. Aber mehr noch: "Die Poesie ist / ein System von drehbaren / Spiegeln." Diese reflektierende Vorrichtung soll es möglich machen, "auf die andere Seite des Gedichts zu sehen". Doch was befindet sich dort? Der Dichter? Die poetologische Reflexion, die in "Die Spiegel" in provokant prosaischer, fast literaturwissenschaftlicher Weise in die Gedichte eindringt? Oder die Realität, der das Gedicht immer verpflichtet bleibt und die es doch nie erreichen kann?
Aus ihr konstituiert es sich, wenngleich aus einer Vielzahl spiegelnder Fragmente: Szenen der Gegenwart und Kindheitserinnerungen; Splitter aus der Literatur wie das "Zwischenspiel" von "Sherlock Holmes im Wald", in dem die Verse "eine Montage erstellen / einen Agentenfilm"; aber auch historische Ereignisse wie in "Der Sturm auf den Winterpalast", wo sich unter "Hakenkreuzen" und "Nazi-Hynmen, die man beim Öffnen der Fenster im sterbenden April vernahm", das Gedicht unversehens wieder in die Gegenwart öffnet.
Weitaus weniger heterogen, zugleich komplexer und hermetischer ist Gimferrers Sicht in seinem sieben Jahre später erschienenen Band "Der öde Raum", der sich sowohl hinsichtlich seiner Form als auch seines auf "Das wüste Land" anspielenden Titels als eine Hommage an T. S. Eliot lesen lässt. An die Stelle der schlaglichtartigen Fragmente und ihrer teils offenkundig ironischen Titel ("Jetzt begeht der Dichter eine praktische Handlung") ist ein durchgehender Gedichtzyklus getreten, dessen einzelne Teile, spartanisch mit römischen Ziffern von I bis X überschrieben, fast eine Art Kurzepos bilden - wenngleich ohne Helden, ohne Handlungseinheit, ohne durchgehenden Schauplatz: "Es ist ein Initiationsweg."
Ausgehend von "all diesen Körpern, die vorbeigehen" aus dem ersten Vers, führt er durch Pflanzenwelten und Familienbilder, durch archaisch-religiöse Menschenopferszenen, die sich brüsk als eine hochtechnisierte Gegenwart enttarnen, bevölkert von Menschen, die als "das perfekte Erzeugnis von dreißig Jahren Faschismus" erkennbar sind, um im Schlussgedicht ans "Fundament der materiellen Welt", in die "Grube des Seins" hinabzusteigen. Das Nichts ist das Ziel: "damit wir den Raum sehen, wo es keinen Raum gibt, / damit wir den Raum sehen, der der ganze Raum ist".
Für Gimferrers Übersetzer, den deutsch-katalanischen Lyriker Axel Sanjosé, ist diese Lyrik "ein großangelegter Versuch, die erkenntnistheoretische Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch die Konstitution von Wirklichkeit im poetischen Akt selbst zu überwinden". Die Komplexität des Werks erschließt sich dadurch allerdings nur zum Teil. Denn alle optischen Vorrichtungen und Reflexsysteme finden bei Gimferrer stets vor dem "Hintergrund eines gesprungenen Spiegels" statt. Die Wiederherstellung einer ungebrochenen Ganzheit, wie sie ein "Artistenevangelium" im Sinne Nietzsches oder Benns zumindest noch in der Kunst verhieß, ist unmöglich. Worte sind für Gimferrer "keine wundertätige Macht", sondern nur noch Teil eines linguistischen Verweisungssystems: "Die Worte sind nicht: sie bezeichnen." Zugleich aber, wie es in dem Zyklus "Zweite Märzvision" heißt, "leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche zu bezeichnen / und kann es zugleich nicht bezeichnen: Es braucht Umschreibungen".
Gerade dies Nicht-Bezeichnen-Können oder -Dürfen verbindet poetische mit politischer, erkenntnistheoretische mit zensurbedingter Aphasie. Das dumpfe, künstlich apolitische Ambiente unter der Diktatur bricht bei Gimferrer immer wieder unter den poetologischen Reflexionen hervor. "In den Cafés sprach man nicht von Politik", heißt es etwa in dem Gedicht "Wendekreis des Steinbocks", und der Tod des katalanischen Anarchisten Sabater unter den Kugeln von Francos Polizei wird in den Zeitungen überkleistert durch Berichte über "lebendig begrabene Frauen, alkoholkranke Mörder, verführte Dienstmädchen".
Poesie und Metapoesie, Realitäten und Verweisungsebenen, Ernst und Ironie durchdringen und durchbrechen einander bei Gimferrer in einer Weise, die eine sichere Festlegung nicht mehr möglich macht. Und doch bleibt, dem alten Topos "Dichten ist Segelsetzen" folgend, auch im Meer der Ödnis der Akt des Schreibens als letztes Rettungsboot. Für "alle im Kanu - die wir das schwarze Gewässer der Lethe durchqueren", wird sie eine Art körperlicher Wirklichkeit, die das Erinnern gegen das Vergessen verteidigt. Nach Jahrzehnten haben Gimferrers ebenso beunruhigende wie brillante Verse nichts von ihrer Frische und Aktualität verloren. Sie werden in diesem Kanu ohne Frage die Lethe der Zeiten überdauern.
FLORIAN BORCHMEYER.
Pere Gimferrer: "Die Spiegel. Der öde Raum". Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Katalanischen übersetzt von Axel Sanjosé. Edition Lyrik Kabinett. Hanser Verlag, München 2007. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich übersetzt: Der Lyriker Pere Gimferrer
Was vom letztjährigen Gastspiel der katalanischen Kultur bei der Frankfurter Buchmesse bleibt, ist glücklicherweise nicht die ebenso hitzige wie unfruchtbare Debatte um Ursachen und Auswüchse des sogenannten katalanischen Nationalismus. Erst mit etwas zeitlichem Abstand wird der Gewinn voll begreifbar, dass aus diesem Anlass zahlreiche Autoren ins Deutsche übersetzt wurden, die seit Jahrzehnten zu den bedeutenden in Europa zählen, aber aufgrund der Nischenlage ihrer Sprache bislang kaum Öffentlichkeit fanden.
Besonders gilt das für den Lyriker Pere Gimferrer, der, von Essays zu Max Ernst oder Antonio Tàpies abgesehen, hierzulande bisher allenfalls durch verstreute Gedichte in Anthologien Beachtung fand. Zudem beleuchteten Letztere oft nur sein Werk in spanischer Sprache, eine Schaffensperiode, die der Dichter vor fast vierzig Jahren hinter sich ließ. Nun liegen erstmals zwei seiner Gedichtbände ungekürzt vor, die in der Zeit des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie entstanden. Als "Die Spiegel" ("Els miralls") 1970 in Barcelona erschien, konnte es nur als Provokation gelesen werden: allein durch die Tatsache, dass es auf Katalanisch geschrieben war.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Dichter bereits eine eindrucksvolle Blitzkarriere im Spanischen hinter sich und 1966, im Alter von einundzwanzig Jahren, den Nationalen Literaturpreis bekommen. Sein Wechsel in eine Sprache, deren Publikation bereits Ursache einer Strafverfolgung sein konnte, war schon für sich genommen eine politische Positionsbestimmung. Dennoch versagt sich der Autor in seiner Dichtung einer näheren Zuordnung, indem er, wie bereits am Eingangsgedicht "Fallen" deutlich wird, das Buch explizit als eine metaliterarische Etüde konzipiert.
"Poetry is the subject of the poem", verkündet Gimferrer mit den Worten seines Säulenheiligen Wallace Stevens. Aber mehr noch: "Die Poesie ist / ein System von drehbaren / Spiegeln." Diese reflektierende Vorrichtung soll es möglich machen, "auf die andere Seite des Gedichts zu sehen". Doch was befindet sich dort? Der Dichter? Die poetologische Reflexion, die in "Die Spiegel" in provokant prosaischer, fast literaturwissenschaftlicher Weise in die Gedichte eindringt? Oder die Realität, der das Gedicht immer verpflichtet bleibt und die es doch nie erreichen kann?
Aus ihr konstituiert es sich, wenngleich aus einer Vielzahl spiegelnder Fragmente: Szenen der Gegenwart und Kindheitserinnerungen; Splitter aus der Literatur wie das "Zwischenspiel" von "Sherlock Holmes im Wald", in dem die Verse "eine Montage erstellen / einen Agentenfilm"; aber auch historische Ereignisse wie in "Der Sturm auf den Winterpalast", wo sich unter "Hakenkreuzen" und "Nazi-Hynmen, die man beim Öffnen der Fenster im sterbenden April vernahm", das Gedicht unversehens wieder in die Gegenwart öffnet.
Weitaus weniger heterogen, zugleich komplexer und hermetischer ist Gimferrers Sicht in seinem sieben Jahre später erschienenen Band "Der öde Raum", der sich sowohl hinsichtlich seiner Form als auch seines auf "Das wüste Land" anspielenden Titels als eine Hommage an T. S. Eliot lesen lässt. An die Stelle der schlaglichtartigen Fragmente und ihrer teils offenkundig ironischen Titel ("Jetzt begeht der Dichter eine praktische Handlung") ist ein durchgehender Gedichtzyklus getreten, dessen einzelne Teile, spartanisch mit römischen Ziffern von I bis X überschrieben, fast eine Art Kurzepos bilden - wenngleich ohne Helden, ohne Handlungseinheit, ohne durchgehenden Schauplatz: "Es ist ein Initiationsweg."
Ausgehend von "all diesen Körpern, die vorbeigehen" aus dem ersten Vers, führt er durch Pflanzenwelten und Familienbilder, durch archaisch-religiöse Menschenopferszenen, die sich brüsk als eine hochtechnisierte Gegenwart enttarnen, bevölkert von Menschen, die als "das perfekte Erzeugnis von dreißig Jahren Faschismus" erkennbar sind, um im Schlussgedicht ans "Fundament der materiellen Welt", in die "Grube des Seins" hinabzusteigen. Das Nichts ist das Ziel: "damit wir den Raum sehen, wo es keinen Raum gibt, / damit wir den Raum sehen, der der ganze Raum ist".
Für Gimferrers Übersetzer, den deutsch-katalanischen Lyriker Axel Sanjosé, ist diese Lyrik "ein großangelegter Versuch, die erkenntnistheoretische Kluft zwischen Subjekt und Objekt durch die Konstitution von Wirklichkeit im poetischen Akt selbst zu überwinden". Die Komplexität des Werks erschließt sich dadurch allerdings nur zum Teil. Denn alle optischen Vorrichtungen und Reflexsysteme finden bei Gimferrer stets vor dem "Hintergrund eines gesprungenen Spiegels" statt. Die Wiederherstellung einer ungebrochenen Ganzheit, wie sie ein "Artistenevangelium" im Sinne Nietzsches oder Benns zumindest noch in der Kunst verhieß, ist unmöglich. Worte sind für Gimferrer "keine wundertätige Macht", sondern nur noch Teil eines linguistischen Verweisungssystems: "Die Worte sind nicht: sie bezeichnen." Zugleich aber, wie es in dem Zyklus "Zweite Märzvision" heißt, "leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche zu bezeichnen / und kann es zugleich nicht bezeichnen: Es braucht Umschreibungen".
Gerade dies Nicht-Bezeichnen-Können oder -Dürfen verbindet poetische mit politischer, erkenntnistheoretische mit zensurbedingter Aphasie. Das dumpfe, künstlich apolitische Ambiente unter der Diktatur bricht bei Gimferrer immer wieder unter den poetologischen Reflexionen hervor. "In den Cafés sprach man nicht von Politik", heißt es etwa in dem Gedicht "Wendekreis des Steinbocks", und der Tod des katalanischen Anarchisten Sabater unter den Kugeln von Francos Polizei wird in den Zeitungen überkleistert durch Berichte über "lebendig begrabene Frauen, alkoholkranke Mörder, verführte Dienstmädchen".
Poesie und Metapoesie, Realitäten und Verweisungsebenen, Ernst und Ironie durchdringen und durchbrechen einander bei Gimferrer in einer Weise, die eine sichere Festlegung nicht mehr möglich macht. Und doch bleibt, dem alten Topos "Dichten ist Segelsetzen" folgend, auch im Meer der Ödnis der Akt des Schreibens als letztes Rettungsboot. Für "alle im Kanu - die wir das schwarze Gewässer der Lethe durchqueren", wird sie eine Art körperlicher Wirklichkeit, die das Erinnern gegen das Vergessen verteidigt. Nach Jahrzehnten haben Gimferrers ebenso beunruhigende wie brillante Verse nichts von ihrer Frische und Aktualität verloren. Sie werden in diesem Kanu ohne Frage die Lethe der Zeiten überdauern.
FLORIAN BORCHMEYER.
Pere Gimferrer: "Die Spiegel. Der öde Raum". Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Katalanischen übersetzt von Axel Sanjosé. Edition Lyrik Kabinett. Hanser Verlag, München 2007. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Florian Borchmeyer feiert die deutsche Erstübersetzung dieser Lyrik wie ein Fest. Die von ihm beklagte "Nischenlage" katalanischer Literatur im Allgemeinen und die von Pere Gimferrers Spätwerk im Besonderen wird nun ein bisschen korrigiert. Dabei hat Borchmeyer durchaus seine Schwierigkeiten mit der Heterogenität und Fragmentarität der Texte im Band "Der Spiegel". Obgleich hermetischer, sieht er im zweiten Teil der Auswahl mit dem Titel "Der öde Raum" hingegen "eine Art Kurzepos". Im spürbaren Unvermögen der Texte zu bezeichnen, verbindet sich für ihn das Poetische mit dem Politischen einer Kritik an der Sprachlosigkeit während der Franco-Diktatur. Das Ergebnis, findet Borchmeyer, sind brillante, auch nach über 35 Jahren noch immer aktuelle Verse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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