"Träume werden nicht erwachsen. Träume sind ohne Zeit. Die Geschichte von Jelena Felder ist auch ohne Zeit. Dennoch hat ihr Abschied eine eigene Stunde. Auf der Straße der Bilder herrscht das Gleichmaß. Aber welches Gedächtnis hat der Abschied, welche Farbe, welchen Geruch?"
Jelenas erste Zugfahrt beginnt mit einer Lüge: Die Vorbereitungen für die Ausreise nach Deutschland werden dem nichtsahnenden Großvater als Zahnarztbesuche ausgegeben. Die Koffer sind gepackt. Der bevorstehende Abschied vom ersten Land, der ersten Sprache wirft einen Schatten auf die Gesichter der Kinder. Und doch ist da diese Vorfreude auf ein Land, das "weiter als Italien" liegen soll.
Auf die Abreise folgt später, viel später, der Wunsch, an den Ursprung zurückzukehren. Der Doppeldecker bringt das zehnjährige Mädchen nach Dalmatien, einmal und dann immer wieder, zur Ferienzeit, bis sich das Ziel verliert und das alte Leben nur noch in der eigenen Vorstellung vorhanden ist. Bald gibt es in der alten Heimat niemanden mehr, der Jelena kennt.
In ihrem ersten Roman erzählt Marica BodroæiÊ von einem immerwährenden Abschied - und erzählt die Geschichte einer Familie, die aus ihrer Zeit fällt und in einer anderen ankommt, von Biographien, die uns durch ihre Fremdheit bezaubern und zu Komplizen der Erinnerung machen.
Jelenas erste Zugfahrt beginnt mit einer Lüge: Die Vorbereitungen für die Ausreise nach Deutschland werden dem nichtsahnenden Großvater als Zahnarztbesuche ausgegeben. Die Koffer sind gepackt. Der bevorstehende Abschied vom ersten Land, der ersten Sprache wirft einen Schatten auf die Gesichter der Kinder. Und doch ist da diese Vorfreude auf ein Land, das "weiter als Italien" liegen soll.
Auf die Abreise folgt später, viel später, der Wunsch, an den Ursprung zurückzukehren. Der Doppeldecker bringt das zehnjährige Mädchen nach Dalmatien, einmal und dann immer wieder, zur Ferienzeit, bis sich das Ziel verliert und das alte Leben nur noch in der eigenen Vorstellung vorhanden ist. Bald gibt es in der alten Heimat niemanden mehr, der Jelena kennt.
In ihrem ersten Roman erzählt Marica BodroæiÊ von einem immerwährenden Abschied - und erzählt die Geschichte einer Familie, die aus ihrer Zeit fällt und in einer anderen ankommt, von Biographien, die uns durch ihre Fremdheit bezaubern und zu Komplizen der Erinnerung machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2005Album der inneren Blicke
Marcia Bodrozic liest in der Lounge des Hauptbahnhofs
"Ich habe immer gewartet", erzählt Marcia Bodrozic: darauf, daß etwas geschieht, daß jemand vorbeikommt. Und daß das Leben spannend wird. Und genauso ergeht es der jungen Heldin ihres Buchs "Der Spieler der inneren Stunde", Jelena Felder. Jelena sitzt am liebsten auf der Treppenschwelle vor dem Haus und wartet, beobachtet die vorbeifahrenden Autos, merkt sich deren Kennzeichen und träumt davon, wegzugehen. Und irgendwann später verläßt sie tatsächlich das kroatische Dorf ihrer Kindheit und folgt ihren Eltern nach Deutschland.
In ihrem ersten, stark autobiographisch gefärbten Roman, aus dem sie nun in der Literatur-Matinee-Reihe in der Lounge des Frankfurter Hauptbahnhofs las, hat Marcia Bodrozic die Kindheit eines Mädchens in einem namenlosen dalmatinischen Dorf beschrieben. Die 1973 in Dalmatien geborene Autorin, die bei ihrem Großvater aufwuchs, während ihre Eltern schon in Deutschland lebten und arbeiteten, kam selbst erst im Alter von zehn Jahren nach Frankfurt. Schon ihr erstes, 2002 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch "Tito ist tot", ein Band mit 24 Kurzerzählungen, handelt vor allem von den unmittelbaren Erfahrungen ihrer Kindheit.
Und auch in ihrem Debütroman versetzt sich die Schriftstellerin wieder zurück in das Mädchen im Grundschulalter, aus dessen Sicht sie das Dorf, den Großvater Nikola und die vielen Onkel und Tanten und Nachbarn beschreibt, die alle in einer Armut leben, die durch die aus Deutschland anreisenden und mit Geschenken ausgestatteten Eltern erst augenfällig wird. Das bescheidene, zurückgezogene Leben in einer kargen Landschaft aber ermöglicht dem Kind vielleicht erst einen Blick, der Details um so genauer wahrnimmt. Jedenfalls besticht Marcia Bodrozics Werk vor allem durch seine Sprache, die, eigenartig sperrig und suggestiv zugleich, immer neue, ungewohnte und mythische Bilder heraufbeschwört.
Wie sie ihre Kindheitserinnerungen wiederfinde, fragte sie der Moderator Heiner Boehnke. Die Erinnerungen seien etwas, was die Sprache einem selbst erzähle, erwiderte die Autorin, die zur Zeit nicht mehr in Frankfurt, sondern in Berlin wohnt. In der Sprache lebten die Bilder, und in dieses Album der inneren Blicke tauche sie am besten wieder ein, indem sie sich in Gedanken in den Wipfel des alten Mandelbaums setze, der im Garten des Hauses vom Großvater stand. Von dort aus gesehen, wisse sie wieder, wie es war oder vielmehr, wie es gewesen sein könnte, denn natürlich sei ihr Roman Fiktion.
Vor allem aber sei die Natur für sie immer wie ein Kamerad gewesen, der beständig dagewesen sei, berichtete die Schriftstellerin: "Die Menschen waren nicht da." Eine Feststellung, deren Traurigkeit im Roman unterschwellig mitschwingt. Und auch in Deutschland war sie zunächst einsam, da sie kein Deutsch konnte. Von einer "ganz großen Fremdheit" in der neuen Umgebung erzählte Marcia Bodrozic und davon, daß sie sich erst einmal ein Jahr lang für das Schweigen entschieden habe. Sie habe sich anfangs mit der Stille verbündet. "Doch die Sprache hat schon in mir gearbeitet."
KATHARINA DESCHKA-HOECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcia Bodrozic liest in der Lounge des Hauptbahnhofs
"Ich habe immer gewartet", erzählt Marcia Bodrozic: darauf, daß etwas geschieht, daß jemand vorbeikommt. Und daß das Leben spannend wird. Und genauso ergeht es der jungen Heldin ihres Buchs "Der Spieler der inneren Stunde", Jelena Felder. Jelena sitzt am liebsten auf der Treppenschwelle vor dem Haus und wartet, beobachtet die vorbeifahrenden Autos, merkt sich deren Kennzeichen und träumt davon, wegzugehen. Und irgendwann später verläßt sie tatsächlich das kroatische Dorf ihrer Kindheit und folgt ihren Eltern nach Deutschland.
In ihrem ersten, stark autobiographisch gefärbten Roman, aus dem sie nun in der Literatur-Matinee-Reihe in der Lounge des Frankfurter Hauptbahnhofs las, hat Marcia Bodrozic die Kindheit eines Mädchens in einem namenlosen dalmatinischen Dorf beschrieben. Die 1973 in Dalmatien geborene Autorin, die bei ihrem Großvater aufwuchs, während ihre Eltern schon in Deutschland lebten und arbeiteten, kam selbst erst im Alter von zehn Jahren nach Frankfurt. Schon ihr erstes, 2002 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch "Tito ist tot", ein Band mit 24 Kurzerzählungen, handelt vor allem von den unmittelbaren Erfahrungen ihrer Kindheit.
Und auch in ihrem Debütroman versetzt sich die Schriftstellerin wieder zurück in das Mädchen im Grundschulalter, aus dessen Sicht sie das Dorf, den Großvater Nikola und die vielen Onkel und Tanten und Nachbarn beschreibt, die alle in einer Armut leben, die durch die aus Deutschland anreisenden und mit Geschenken ausgestatteten Eltern erst augenfällig wird. Das bescheidene, zurückgezogene Leben in einer kargen Landschaft aber ermöglicht dem Kind vielleicht erst einen Blick, der Details um so genauer wahrnimmt. Jedenfalls besticht Marcia Bodrozics Werk vor allem durch seine Sprache, die, eigenartig sperrig und suggestiv zugleich, immer neue, ungewohnte und mythische Bilder heraufbeschwört.
Wie sie ihre Kindheitserinnerungen wiederfinde, fragte sie der Moderator Heiner Boehnke. Die Erinnerungen seien etwas, was die Sprache einem selbst erzähle, erwiderte die Autorin, die zur Zeit nicht mehr in Frankfurt, sondern in Berlin wohnt. In der Sprache lebten die Bilder, und in dieses Album der inneren Blicke tauche sie am besten wieder ein, indem sie sich in Gedanken in den Wipfel des alten Mandelbaums setze, der im Garten des Hauses vom Großvater stand. Von dort aus gesehen, wisse sie wieder, wie es war oder vielmehr, wie es gewesen sein könnte, denn natürlich sei ihr Roman Fiktion.
Vor allem aber sei die Natur für sie immer wie ein Kamerad gewesen, der beständig dagewesen sei, berichtete die Schriftstellerin: "Die Menschen waren nicht da." Eine Feststellung, deren Traurigkeit im Roman unterschwellig mitschwingt. Und auch in Deutschland war sie zunächst einsam, da sie kein Deutsch konnte. Von einer "ganz großen Fremdheit" in der neuen Umgebung erzählte Marcia Bodrozic und davon, daß sie sich erst einmal ein Jahr lang für das Schweigen entschieden habe. Sie habe sich anfangs mit der Stille verbündet. "Doch die Sprache hat schon in mir gearbeitet."
KATHARINA DESCHKA-HOECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Fasziniert zeigt sich Michael Braun von diesem Roman Marica Bodrozics über eine Kindheit zwischen Dalmatien und Deutschland, den er als ein "romantisch-synästhetisches Mosaik" würdigt. Wie schon in ihrem Debütroman "Tito ist tot" ist der Heimatverlust auch in "Der Spieler der inneren Stunde" zentrales Thema. Braun hebt allerdings hervor, dass Bodrozic hier - anders als in "Tito ist tot", wo sie Kindheit im Sehnsuchtsland Dalmatien in motivisch und chronologisch geschlossenen Episoden vergegenwärtigte - die chronologische Erzählstruktur auflöst und die Zeit zu einem endlosen Augenblick des Abschieds dehnt. Der zarte, aber suggestive Realismus des Erstlings weiche hier einem Gestaltungswillen zur unablässigen Poetisierung und allegorisierenden Überhöhung der Kindheitsszenerie. Beeindruckt haben Braun dabei die "große Kunstfertigkeit" von Bodrozics Prosa sowie ihre "verblüffende poetische Fabulierkraft", die sie vor den "Holzwegen einer epigonalen Spätromantik" bewahre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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