Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996Wir sprechen, wie die Spinnen weben
Steven Pinker greift das Sozialwissenschaftliche Standardmodell an / Von Manfred Geier
Ich bin noch nie jemandem begegnet, der sich nicht für Sprache interessiert hätte.
Im folgenden möchte ich versuchen, diesem Interesse gerecht zu werden." Mit diesem lapidaren Hinweis beginnt ein Buch, das sich an jeden Sprachbenutzer wendet, "und das heißt wirklich: an jeden Menschen", um ihn über den aktuellen Stand der Sprachforschung zu informieren. Doch diese allgemeine Adressierung bedeutet nicht, daß es sich wieder einmal nur um einen popularisierenden Einblick in die moderne Linguistik handelt, um eine Art "Linguistik light". Steven Pinker, der das Center for Cognitive Neuroscience am Massachusetts Institute of Technology leitet, hat vielmehr versucht, ein tieferliegendes leidenschaftliches Interesse zu befriedigen: Ihm zufolge bietet nämlich die Sprache den leichtesten Zugang zum menschlichen Geist; und das Wissen über die Sprache ermöglicht zugleich eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die alte essentialistische Frage: Was ist der Mensch?
Das Wesen des Menschen ist das zentrale Thema dieses Buches. Es durchzieht als roter Faden die riesige Fülle von Informationen und Reflexionen über den Stand der Forschung. Doch all das wäre für den Leser nicht weiter aufregend, hätte Pinker sein Buch nicht mit einem provozierenden Stachel versehen. Im Titel ist er herausfordernd benannt: "Der Sprachinstinkt". Denn dieser eigenwillige Begriff beinhaltet einen breit angelegten, wissenschaftlich begründeten und scharfsinnig formulierten Angriff auf eine Position, die Pinker als "Sozialwissenschaftliches Standardmodell" (SSM) etikettiert. Als akademische Grundlage der Humanwissenschaften und säkulare Ideologie des Zeitalters beherrscht es zwar unser Bild vom Menschen. Doch es ist, wie sein Opponent angriffslustig nachzuweisen versucht, dennoch völlig falsch. Es ist nur ein Götze, der auf tönernen Füßen steht und uns in die Irre leitet. Es ist faszinierend, dem Kognitionswissenschaftler bei seinem furiosen Angriff zu folgen, der die neuesten Erkenntnisse aus Biologie, Neurowissenschaften, Gehirnphysiologie, Genetik und Linguistik als Waffen benutzt, um jene Mythen zu bekämpfen, die vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften vorherrschen.
Um die Brisanz nachvollziehen zu können, die sich bereits im Titel des Buches programmatisch andeutet, gilt es zunächst den Gegner zu profilieren, den Pinker erst im Abschlußkapitel namentlich nennt und frontal attackiert: das SSM. Diesem zufolge kann zwar zugestanden werden, daß der Mensch seine fünf Sinne der ganzen bisherigen Naturgeschichte verdankt. Mit ihnen sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet er, was für ihn da ist, stets jetzt und immer hier. Doch der Mensch verließ das natürliche Dasein sinnlicher Präsenz. Er lernte, sich über das Abwesende, das Nichtexistierende, das Imaginäre zu informieren. Er entwickelte Sprache und Geist und schuf sich damit ein Reich der Geschichte und Kultur.
Das Sprachvermögen, diese erstaunliche Fähigkeit, durch Geräuschmodulationen, die beim Atmen entstehen, einem anderen Menschen verstehbare Informationen zu übermitteln, taucht gleichsam als ein sechster Sinn auf. Als Organ eines kulturgeschichtlichen Sprachspiels löst es sich aus dem Ursache-Wirkungs-Gefüge des natürlichen, physischen Universums. Wenn es determiniert ist, dann allein durch die variablen und nicht naturnotwendigen Zwänge unterschiedlicher Kulturen und ihrer jeweiligen Sprachen. Und das Lernen, mit dem jedes Kind ins Reich der Sprache und Kultur einzutreten vermag, ist nichts anderes als eine Art von Allzweckmechanismus, ebenso wie sein Gehirn nur eine universell verwendbare Lernmaschine ist, die vor der Bekanntschaft mit der sie jeweils umgebenden konkreten Kultur inhalts- und formlos ist. Hier von Instinkt zu reden kann nur als reduktionistischer Rückfall in den Naturalismus erscheinen.
Pinkers Charakterisierung seines Gegners mag überpointiert erscheinen. Doch sie trifft eine Haltung, die gegenwärtig bei vielen Kultur- und Geisteswissenschaftlern vorherrscht. Neuerdings hat sie sich, durch die Schule von Nietzsche, dem späten Wittgenstein, Davidson und Rorty gegangen, unter dem philosophischen Modebegriff der "Kontingenz" versammelt: Weder in der Sprache noch in unserem Bewußtsein oder in unseren Gemeinwesen gibt es universelle Wesensbestimmungen, die mittels allgemeiner Gesetzesaussagen erkannt werden können. Differenz, Individualität, Einzigartigkeit und Dezentrierung sind angesagt in den zufallsbedingten oder "arbiträren" Kulturwelten, deren diskontinuierliche Sprachspiele auf keiner zentrierten Struktur oder natürlichen Gesetzmäßigkeit mehr aufgebaut sind.
Nur noch Metaphysiker suchen nach einem Wesen oder einer Universalität, die dem freien Spiel der Kontingenzen eine grundlegende Basis oder beruhigende Struktur bieten sollen. Schließlich leben wir in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Nicht nur Gott ist tot. Es gibt auch keine wesentlichen oder konstitutiven Grundlagen mehr für das, was man einst universalistisch "die Sprache", "der Geist" oder "der Mensch" nannte.
Dagegen legt Pinker sein Veto ein. Aber er tut es nicht als ein Philosoph, der das Wesen der Sprache und des Geistes in einem metaphysischen oder gar göttlichen Universum ansiedelt. Statt dessen argumentiert er als ein Wissenschaftler, sachkundig vertraut mit den empirisch überprüfbaren Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft, der Neurologie, modernen Biologie und Linguistik. Das SSM, fasziniert durch die oberflächlichen Kontingenzen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen, wird in Frage gestellt durch die Entdeckung einer "natürlichen Universalität". Vor allem am Sprachvermögen des Menschen hat Pinker sie zu verdeutlichen versucht und dabei eine ganze Reihe heiliger Kühe der Kultur- und Geisteswissenschaften geschlachtet.
Seine Grundidee ist einfach: Wie faszinierend auch immer die geschichtlichen, sozialen, biographischen, sprachlichen oder genetischen Unterschiede zwischen den Menschen auch sein mögen, so unerheblich sind sie doch, wenn wir feststellen können, daß wir alle den gleichen Geist und das gleiche Sprachvermögen besitzen. Unter den oberflächlichen Variationen, die uns als kontingent erscheinen und in den herrschenden Relativismus verführen, verbergen sich die genotypischen Schaltpläne einer universalen Grammatik und einer allgemeinen Kognition als "Wunder der Natur". Deshalb ist der Mensch vor allem ein Forschungsobjekt der Biologie. Seine Sprache ist kein kulturelles Artefakt in einem geschichtlich variablen Universum linguistischer Relativität, sondern ein "spezifischer Instinkt".
Pinker weiß, daß dieser Begriff merkwürdig ist und provozierend wirkt, wenn man ihn auf die Sprache anwendet. Rückt er das menschliche Sprachvermögen nicht auf eine Ebene mit der Webkunst der Spinnen? Leugnet er nicht die Schwierigkeiten des Lernens, mit dem jedes Kind sich mühsam in die Kontingenzen kulturgeschichtlicher Sprachspiele einüben muß? Ja, sagt Pinker und packt dabei eines der heißesten Eisen der modernen Neurowissenschaft an: Wenn es einen angeborenen Sprachinstinkt gibt, so wird Sprache nicht gelernt, sondern von jedem Kind stets neu erfunden, weil es sich aufgrund seiner genetischen Ausstattung einfach nicht dagegen wehren kann; denn wenn es einen Sprachinstinkt gibt, so muß dieser irgendwo im menschlichen Gehirn verankert sein, und die entsprechenden Nervenbahnen wiederum müssen von den Genen, die sie konstruieren, auf ihre Rolle vorbereitet werden, um ihre adaptive Komplexität entfalten zu können. Bislang hat zwar noch niemand ein instinktives Sprachorgan oder ein Grammatikgen entdeckt, "aber die Fahndung läuft".
Das alles klingt, in dieser Kürze zusammengefaßt, einigermaßen erstaunlich. Um sich den ausführlichen Argumenten Pinkers und ihrer detailliert begründeten Überzeugungskraft auszusetzen, gibt es deshalb nur einen Weg. Lesen Sie "Der Sprachinstinkt", diese abenteuerliche Entdeckungsreise ins geheimnisvolle Reich des Geistes und der Sprache. Sie ist mit Leidenschaft für schlagfertige, erhellende Ideen geschrieben, voll von jüngsten Erkenntnissen über das Sprachvermögen und anschaulich angereichert durch zahlreiche Beispiele aus dem lebendigen Sprachgebrauch, von der Popkultur über aphasische Sprachstörungen bis zu den brillanten Kunstwerken der Literatur.
Außerdem gibt es viel zu erfahren über universale Sprachstrukturen, geniale Babys, Grammatikgene, Computer mit künstlicher Intelligenz, Schimpansen, die Zeichensprache beherrschen, sprechende Neandertaler, Wolfskinder, paradoxe Hirnschäden, eineiige Zwillinge, farbige Abbildungen vom denkenden Gehirn und die Suche nach der Mutter aller Sprachen.
"Der Sprachinstinkt" ist kein Buch für Spezialisten, sondern für alle, die noch immer am Wesen des Menschen interessiert sind, dessen Geist und Sprachvermögen, Pinker zufolge, eingebunden bleibt ins große Spiel der Natur und ihrer evolutionären Kräfte. Es ist das engagierte Plädoyer eines Wissenschaftlers, der dem göttlichen Schöpfungsmythos ebenso opponiert wie den Relativierungen nachmetaphysischer Kontingenzverfechter, eine Kampfansage an die Geistes- und Sozialwissenschaften mit den zugeschärften Waffen von Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie und Universalgrammatik. Daß es zum Widerspruch herausfordert, macht nicht zuletzt seinen Reiz aus. Man ist gespannt, wie ihm aus SSM-Perspektive entgegnet wird, wenn überhaupt.
Steven Pinker: "Der Sprachinstinkt". Wie der Geist die Sprache bildet. Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese. Kindler Verlag, München 1996. 560 S., geb., 49,80 DM.
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Steven Pinker greift das Sozialwissenschaftliche Standardmodell an / Von Manfred Geier
Ich bin noch nie jemandem begegnet, der sich nicht für Sprache interessiert hätte.
Im folgenden möchte ich versuchen, diesem Interesse gerecht zu werden." Mit diesem lapidaren Hinweis beginnt ein Buch, das sich an jeden Sprachbenutzer wendet, "und das heißt wirklich: an jeden Menschen", um ihn über den aktuellen Stand der Sprachforschung zu informieren. Doch diese allgemeine Adressierung bedeutet nicht, daß es sich wieder einmal nur um einen popularisierenden Einblick in die moderne Linguistik handelt, um eine Art "Linguistik light". Steven Pinker, der das Center for Cognitive Neuroscience am Massachusetts Institute of Technology leitet, hat vielmehr versucht, ein tieferliegendes leidenschaftliches Interesse zu befriedigen: Ihm zufolge bietet nämlich die Sprache den leichtesten Zugang zum menschlichen Geist; und das Wissen über die Sprache ermöglicht zugleich eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die alte essentialistische Frage: Was ist der Mensch?
Das Wesen des Menschen ist das zentrale Thema dieses Buches. Es durchzieht als roter Faden die riesige Fülle von Informationen und Reflexionen über den Stand der Forschung. Doch all das wäre für den Leser nicht weiter aufregend, hätte Pinker sein Buch nicht mit einem provozierenden Stachel versehen. Im Titel ist er herausfordernd benannt: "Der Sprachinstinkt". Denn dieser eigenwillige Begriff beinhaltet einen breit angelegten, wissenschaftlich begründeten und scharfsinnig formulierten Angriff auf eine Position, die Pinker als "Sozialwissenschaftliches Standardmodell" (SSM) etikettiert. Als akademische Grundlage der Humanwissenschaften und säkulare Ideologie des Zeitalters beherrscht es zwar unser Bild vom Menschen. Doch es ist, wie sein Opponent angriffslustig nachzuweisen versucht, dennoch völlig falsch. Es ist nur ein Götze, der auf tönernen Füßen steht und uns in die Irre leitet. Es ist faszinierend, dem Kognitionswissenschaftler bei seinem furiosen Angriff zu folgen, der die neuesten Erkenntnisse aus Biologie, Neurowissenschaften, Gehirnphysiologie, Genetik und Linguistik als Waffen benutzt, um jene Mythen zu bekämpfen, die vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften vorherrschen.
Um die Brisanz nachvollziehen zu können, die sich bereits im Titel des Buches programmatisch andeutet, gilt es zunächst den Gegner zu profilieren, den Pinker erst im Abschlußkapitel namentlich nennt und frontal attackiert: das SSM. Diesem zufolge kann zwar zugestanden werden, daß der Mensch seine fünf Sinne der ganzen bisherigen Naturgeschichte verdankt. Mit ihnen sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet er, was für ihn da ist, stets jetzt und immer hier. Doch der Mensch verließ das natürliche Dasein sinnlicher Präsenz. Er lernte, sich über das Abwesende, das Nichtexistierende, das Imaginäre zu informieren. Er entwickelte Sprache und Geist und schuf sich damit ein Reich der Geschichte und Kultur.
Das Sprachvermögen, diese erstaunliche Fähigkeit, durch Geräuschmodulationen, die beim Atmen entstehen, einem anderen Menschen verstehbare Informationen zu übermitteln, taucht gleichsam als ein sechster Sinn auf. Als Organ eines kulturgeschichtlichen Sprachspiels löst es sich aus dem Ursache-Wirkungs-Gefüge des natürlichen, physischen Universums. Wenn es determiniert ist, dann allein durch die variablen und nicht naturnotwendigen Zwänge unterschiedlicher Kulturen und ihrer jeweiligen Sprachen. Und das Lernen, mit dem jedes Kind ins Reich der Sprache und Kultur einzutreten vermag, ist nichts anderes als eine Art von Allzweckmechanismus, ebenso wie sein Gehirn nur eine universell verwendbare Lernmaschine ist, die vor der Bekanntschaft mit der sie jeweils umgebenden konkreten Kultur inhalts- und formlos ist. Hier von Instinkt zu reden kann nur als reduktionistischer Rückfall in den Naturalismus erscheinen.
Pinkers Charakterisierung seines Gegners mag überpointiert erscheinen. Doch sie trifft eine Haltung, die gegenwärtig bei vielen Kultur- und Geisteswissenschaftlern vorherrscht. Neuerdings hat sie sich, durch die Schule von Nietzsche, dem späten Wittgenstein, Davidson und Rorty gegangen, unter dem philosophischen Modebegriff der "Kontingenz" versammelt: Weder in der Sprache noch in unserem Bewußtsein oder in unseren Gemeinwesen gibt es universelle Wesensbestimmungen, die mittels allgemeiner Gesetzesaussagen erkannt werden können. Differenz, Individualität, Einzigartigkeit und Dezentrierung sind angesagt in den zufallsbedingten oder "arbiträren" Kulturwelten, deren diskontinuierliche Sprachspiele auf keiner zentrierten Struktur oder natürlichen Gesetzmäßigkeit mehr aufgebaut sind.
Nur noch Metaphysiker suchen nach einem Wesen oder einer Universalität, die dem freien Spiel der Kontingenzen eine grundlegende Basis oder beruhigende Struktur bieten sollen. Schließlich leben wir in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Nicht nur Gott ist tot. Es gibt auch keine wesentlichen oder konstitutiven Grundlagen mehr für das, was man einst universalistisch "die Sprache", "der Geist" oder "der Mensch" nannte.
Dagegen legt Pinker sein Veto ein. Aber er tut es nicht als ein Philosoph, der das Wesen der Sprache und des Geistes in einem metaphysischen oder gar göttlichen Universum ansiedelt. Statt dessen argumentiert er als ein Wissenschaftler, sachkundig vertraut mit den empirisch überprüfbaren Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft, der Neurologie, modernen Biologie und Linguistik. Das SSM, fasziniert durch die oberflächlichen Kontingenzen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen, wird in Frage gestellt durch die Entdeckung einer "natürlichen Universalität". Vor allem am Sprachvermögen des Menschen hat Pinker sie zu verdeutlichen versucht und dabei eine ganze Reihe heiliger Kühe der Kultur- und Geisteswissenschaften geschlachtet.
Seine Grundidee ist einfach: Wie faszinierend auch immer die geschichtlichen, sozialen, biographischen, sprachlichen oder genetischen Unterschiede zwischen den Menschen auch sein mögen, so unerheblich sind sie doch, wenn wir feststellen können, daß wir alle den gleichen Geist und das gleiche Sprachvermögen besitzen. Unter den oberflächlichen Variationen, die uns als kontingent erscheinen und in den herrschenden Relativismus verführen, verbergen sich die genotypischen Schaltpläne einer universalen Grammatik und einer allgemeinen Kognition als "Wunder der Natur". Deshalb ist der Mensch vor allem ein Forschungsobjekt der Biologie. Seine Sprache ist kein kulturelles Artefakt in einem geschichtlich variablen Universum linguistischer Relativität, sondern ein "spezifischer Instinkt".
Pinker weiß, daß dieser Begriff merkwürdig ist und provozierend wirkt, wenn man ihn auf die Sprache anwendet. Rückt er das menschliche Sprachvermögen nicht auf eine Ebene mit der Webkunst der Spinnen? Leugnet er nicht die Schwierigkeiten des Lernens, mit dem jedes Kind sich mühsam in die Kontingenzen kulturgeschichtlicher Sprachspiele einüben muß? Ja, sagt Pinker und packt dabei eines der heißesten Eisen der modernen Neurowissenschaft an: Wenn es einen angeborenen Sprachinstinkt gibt, so wird Sprache nicht gelernt, sondern von jedem Kind stets neu erfunden, weil es sich aufgrund seiner genetischen Ausstattung einfach nicht dagegen wehren kann; denn wenn es einen Sprachinstinkt gibt, so muß dieser irgendwo im menschlichen Gehirn verankert sein, und die entsprechenden Nervenbahnen wiederum müssen von den Genen, die sie konstruieren, auf ihre Rolle vorbereitet werden, um ihre adaptive Komplexität entfalten zu können. Bislang hat zwar noch niemand ein instinktives Sprachorgan oder ein Grammatikgen entdeckt, "aber die Fahndung läuft".
Das alles klingt, in dieser Kürze zusammengefaßt, einigermaßen erstaunlich. Um sich den ausführlichen Argumenten Pinkers und ihrer detailliert begründeten Überzeugungskraft auszusetzen, gibt es deshalb nur einen Weg. Lesen Sie "Der Sprachinstinkt", diese abenteuerliche Entdeckungsreise ins geheimnisvolle Reich des Geistes und der Sprache. Sie ist mit Leidenschaft für schlagfertige, erhellende Ideen geschrieben, voll von jüngsten Erkenntnissen über das Sprachvermögen und anschaulich angereichert durch zahlreiche Beispiele aus dem lebendigen Sprachgebrauch, von der Popkultur über aphasische Sprachstörungen bis zu den brillanten Kunstwerken der Literatur.
Außerdem gibt es viel zu erfahren über universale Sprachstrukturen, geniale Babys, Grammatikgene, Computer mit künstlicher Intelligenz, Schimpansen, die Zeichensprache beherrschen, sprechende Neandertaler, Wolfskinder, paradoxe Hirnschäden, eineiige Zwillinge, farbige Abbildungen vom denkenden Gehirn und die Suche nach der Mutter aller Sprachen.
"Der Sprachinstinkt" ist kein Buch für Spezialisten, sondern für alle, die noch immer am Wesen des Menschen interessiert sind, dessen Geist und Sprachvermögen, Pinker zufolge, eingebunden bleibt ins große Spiel der Natur und ihrer evolutionären Kräfte. Es ist das engagierte Plädoyer eines Wissenschaftlers, der dem göttlichen Schöpfungsmythos ebenso opponiert wie den Relativierungen nachmetaphysischer Kontingenzverfechter, eine Kampfansage an die Geistes- und Sozialwissenschaften mit den zugeschärften Waffen von Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie und Universalgrammatik. Daß es zum Widerspruch herausfordert, macht nicht zuletzt seinen Reiz aus. Man ist gespannt, wie ihm aus SSM-Perspektive entgegnet wird, wenn überhaupt.
Steven Pinker: "Der Sprachinstinkt". Wie der Geist die Sprache bildet. Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese. Kindler Verlag, München 1996. 560 S., geb., 49,80 DM.
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