Kogons einzigartiger Bericht stützt sich auf 150 Einzelprotokolle und Eigenerlebnisse als Inhaftierter. Wiederholt wollte der Autor sein Manuskript vernichten, so furchtbar war sein Inhalt. Aber er verwirklichte seine Absicht, die nackte Wahrheit zu schildern, objektiv, nichts zu verändern, nichts zu beschönigen und nichts zu verschweigen. So entstand ein historisches Werk ersten Ranges, das die Öffentlichkeit zum ersten Mal mit einer bis dahin für unvorstellbar gehaltenen Wirklichkeit und einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte konfrontierte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.06.2023Chronisten
der „Endlösung“
Standardwerke von Eugen Kogon und Raul Hilberg
erscheinen in Neuauflage. Heute sind sie Klassiker
der Forschung, doch vor allem Hilbergs Analyse
wurde jahrzehntelang in Deutschland nicht akzeptiert,
weil sie sehr unbequeme Wahrheiten enthielt
VON KNUD VON HARBOU
Nur wenige Klassiker der frühen Nachkriegszeit gewährten einen solchen Einblick in die unmittelbare NS-Vergangenheit wie Theodor Plieviers „Stalingrad“ (1945), Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (1946), oder auch Ernst von Salomons „Der Fragebogen“ (1951). Sie erklommen sogar den Rang von Bestsellern. Einen Sonderfall stellte die Übersetzung von Raul Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1982) dar, deren Publikationsgeschichte in Deutschland von einem deutlichen Widerstand gegen die Aufarbeitung des Holocaust geprägt war. Nun sind Kogons und Hilbergs Werke jeweils in einer Neuauflage erschienen.
Der Soziologe und Publizist Eugen Kogon (1903-1987) erhoffte sich mit der ersten historischen Analyse eines KZ, des KZ Buchenwald bei Weimar, dessen Häftling er mit Unterbrechungen von 1939 bis zur Befreiung im April 1945 war, eine Selbsterkenntnis über diesen absoluten Gewaltkosmos wie auch ein Fanal für zukünftige Generationen zu setzen. Distanziert betitelte er die Auswertung seiner Erinnerungen als „Sachbericht“. Er schrieb ihn 1945 in nur einem halben Jahr nieder, 1946 erschienen, gelten seine Aufzeichnungen als Standardwerk.
Das Interesse der Leser an der jetzt in 18. Auflage vorliegenden Studie mit mehr als einer halben Million verkaufter Bücher schien er geweckt zu haben. Zu unbefriedigend war damals der Wissensstand über Ausmaß und Art des mörderischen NS-Terrors. Doch schnell wurde der Diskurs über die „Ordnung des Terrors“ – wenn er denn stattfand – vom restaurativen Denken der Nachkriegszeit überlagert. Kogon: „Man hat sich einfach der Wiederherstellung der ökonomischen Basis unserer Existenz zugewandt, und das mit ungeheurem Erfolg.“ Es sollte 70 Jahre dauern, bis Nikolaus Wachsmann (KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Siedler, 2016) eine ähnlich faktenreiche Gesamtdarstellung des deutschen KZ-Systems vorlegte.
Wolfgang Sofsky hat in seiner großen Studie („Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“, S. Fischer 1993) auf die von Kogon aufgeworfene Frage zur Täterschaft des Lagerpersonals verwiesen. Deren 55 000 Gehilfen, die sich vornehmlich durch Mediokrität bar jeglicher moralischer Norm auszeichneten, kamen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, gelenkt von einer winzigen Funktionselite. Sie seien keine soziale Randgruppe gewesen. Es wird das Verdienst von Kogons berühmtem Klassiker bleiben, auf die inhärenten Problemstellungen der KZ-Forschung erstmalig hingewiesen und die Deutschen detailliert mit dem Lagerterror konfrontiert zu haben. Gut hätte dieser wichtigen Neuauflage von 1974 ein Nachwort über die Weiterentwicklung des KZ-Forschungsstandes angestanden.
Schon Raul Hilbergs Masterarbeit 1950 an der Columbia University New York kreiste um sein Lebensthema, die Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Er erweiterte es 1955 in seiner Doktorarbeit, doch die Veröffentlichung in einem kleinen Chicagoer Verlag zog sich bis 1961 hin. Nur dank eines Druckkostenzuschusses konnte das Typoskript überhaupt erscheinen. 1985 kam eine erweiterte zweite, 2003 bei Yale University Press eine dritte Auflage heraus. 1963 erwarb der Münchner Verlag Droemer Knaur die Übersetzungsrechte an dem mittlerweile auf 1400 Druckseiten angewachsenen Koloss, löste den Vertrag aber 1965 mit obskuren Gründen auf. Mit dieser Kündigung wurde ein Stück deutscher Nachkriegsideologiegeschichte sichtbar, auf die zuletzt bereits vielfach eingegangen wurde.
Besonders Götz Aly und René Schlott haben den massiven Widerstand gegen Hilberg seitens verschiedener Verlage wie auch die zweifelhaften Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München aufgearbeitet. Man neidete dem Außenseiter seine Arbeit, nur hiesige Historiker könnten „diese Vorgänge historisch verstehbar machen“ qua besserer historischer Methoden, auch objektiver. Dahinter stand wohl letztlich die Angst vor der ganzen Wahrheit. Bezeichnenderweise wurde Hilberg einfach ausgeblendet. Bis 1982 tat sich mit der Übersetzung nichts.
Raul Hilberg, Jahrgang 1926, emigrierte als Jude 1939 von Wien aus in die USA, seine Familie war unmittelbar von der NS-Verfolgung betroffen, alle in Osteuropa lebenden Verwandten kamen während der Besatzung ums Leben. Die letzten Kriegswochen erlebte er in der US-Army in Bayern. Zurück in den USA schrieb er sich im Brooklyn College in New York für Geschichte und Politik ein. Deutlich registrierte er die amerikanische Indolenz im Umgang mit der Vernichtung des europäischen Judentums. So warnte ihn sein Doktorvater Franz Neumann, der in „Behemoth“ (1942) die tragenden Säulen des NS-Staats analysierte – ein Konzept, das Hilberg in seiner Arbeit aufgriff –, vor dem Thema. Er ließ sich nicht beirren und zählte so zum Kreis der ersten Holocaustforscher.
Anders als man hätte vermuten können, stellte er nicht die Täter und Opfer in den Mittelpunkt, sondern hinterfragte das „Wie“ des staatlichen Mordens als Folge einer schrittweisen administrativen Verdichtung der Kriterien Definition, Enteignung, Konzentration und Vernichtung. Im Unterschied zu Kollegen hatte er das Privileg, die beschlagnahmten Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse akribisch auswerten zu dürfen. Das führte bei der Erstausgabe seines Werks zu seiner These der „Verschmelzung zu einer Vernichtungsmaschinerie“, bestehend aus den Komponenten „Partei, Zivilverwaltung, Industrie und Militär“. Die Vernichtungsmaschinerie als „bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ musste natürlich einen erheblichen Widerstand im Nachkriegsdeutschland auslösen, denn plötzlich kam jeder NS-Funktionär als Täter oder Mittäter in Betracht.
Völlig neu sprach Hilberg von einer eigendynamischen Bürokratie, die nach der Machtübernahme in Sachen Judenpolitik selbständig agieren konnte. „Es war nicht nötig (die Verwaltung) mit Richtlinien und Ideen zu versorgen.“ Nahezu sämtliche NS-Leute bezeichneten sich in den Entnazifizierungsprozessen als weisungsgebundene Befehlsempfänger und damit als unschuldig. Daraus entwickelte er das heute noch gängige sogenannte Konsensmodell, wonach „die Vernichtung der Juden nicht so sehr ein Produkt von Gesetzen und Befehlen als vielmehr eine Angelegenheit der Gesinnung, des gegenseitigen Verstehens, der Übereinstimmung und Synchronisation“ war. Das reibungslose Verständnis der Teilnehmer der Wannnseekonferenz im Januar 1942 als wichtigem Beschlussgremium zum Holocaust ist dafür vielleicht ein Beispiel.
Es war Christopher Browning, der in dieser Gedankenkette den Aspekt weiterführte, dass „ganz normale Männer“ der Einsatzgruppen sich mit außerordentlichen Herausforderungen konfrontiert sahen und in der Bewältigung ein neues, kollektives Größenselbst entwickelten. Täter wie Kommandeure hätten zunächst nur vage Vorstellungen gehabt, die aber vor Ort, getragen von der gemeinsamen Vernichtungsideologie, in einen „decision flow“ umschlugen. Jederzeit konnten sie ihre Allmachtsfantasien mörderisch ausagieren. Schon das musste zu heftigem Widerspruch führen, weil er generalisierend von der individuellen täterbezogenen Analyse abwich.
Erst recht löste Hilbergs These zur Rolle der Judenräte Empörung aus. Hielt er diesen in der ersten Auflage noch „Kollaboration“ vor, so schwächte er das in den späteren Auflagen ab und attestierte ihnen, so Browning, Fehleinschätzung ihres Handlungsspielraums und nicht fehlendes Gewissen. Er blieb aber dabei, den Holocaust als administrativen bürokratischen Prozess zu verstehen, eine Sichtweise, die sich bis heute durchgesetzt hat. Hilbergs Studie bleibt mit ihrem Ansatz die wichtigste Grundlagenforschung zur Geschichte des Holocaust. Nahezu unvorstellbar ist, dass eine Person diesen gigantischen Komplex von Details wie in einem Schaukasten zusammenfügte, ihn ordnete und deutete. Im Vorwort zur Neuauflage fasst René Schlott noch mal die zentralen These Hilbergs zusammen: den administrativen Prozesscharakter der Vernichtung, die „Dezentralität des Judenmordes“ ohne allein verantwortliche Institution, die gesplittete Zuständigkeit, eine komplette Arbeitsteilung, mit der Folge, dass sich die Täter exkulpieren konnten, kein Budget für den Judenmord, die Lasten hatten alle Institutionen zu tragen, und die Passivität, mit der Juden ihre Vernichtung erduldeten, erklärbar durch Assimilation traditioneller Sozialisationsmuster.
Anerkennung wurde Hilberg nur wenig zuteil. Hartnäckig hielt sich in den USA die Ansicht, dass sein Buch ohne Resonanz geblieben sei. Jedoch in Fachzeitschriften – und auch in der New York Times und der Washington Post – erschienen positive Besprechungen, das Buch wurde 1967 sogar als Studienausgabe zum Preis von 3,95 Dollar angeboten. Doch selbst das hatte keinen Einfluss auf die ablehnende Haltung deutscher Verlage, die gestützt auf Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte sich über zwanzig Jahre lang unter fadenscheinigsten Begründungen sträubten, das Buch zu übersetzen. Auch diese Geschichte beschreibt René Schlott im Vorwort eindrucksvoll. Man kann sie lesen als ein Stück deutscher Nachkriegsideologie des Verschweigens, Beschweigens, Negierens evidenter Fakten, die durch Hilberg erstmals auf dem Tisch lagen. Doch der Holocaust war trotz des Auschwitz-Prozesses noch ein Tabu. Man akzeptierte diesen amerikanischen Außenseiter, der ja immerhin mit 30 Jahren Professor in Vermont wurde, einfach nicht.
Was Wunder, dass die amerikanische Originalausgabe mehr oder weniger durch Zufall 1982 bei dem unbekannten Kleinstverlag Olle & Wolter in Berlin landete. Christian Seeger, der die Hauptlast der Übersetzung der 840 Seiten trug, schildert die Umstände, aus dieser Textmasse noch ein Buch zu machen. Die Besprechung des Buches in der SZ vom 18. Mai 1983 gibt einen Einblick in die damalige Mentalität, distanzierter kann man die bahnbrechende Monografie kaum besprechen, ähnlich karg die Rezension in der FAZ ein Jahr später. Kein deutscher Historiker äußerte sich zu Hilberg. Im Ergebnis brach jedoch der Kontakt zu Wolters Verlag ab, und die Rechte fielen an Hilberg zurück.
Nutznießer war der S.-Fischer-Verlag, dessen Lektor Walter Pehle von Anfang an plante, das Buch in der von ihm herausgegebenen „Schwarzen Reihe“ als „programmatischen Kern“ zu platzieren. Diese Reihe mit damals 70 Titeln (heute mehr als 200) war schon zu dieser Zeit Ausdruck eines gewandelten öffentlichen Interesses. Die Studie erschien 1990 als dreibändige Taschenbuchausgabe mit 1350 Seiten, sie war ein ökonomischer Erfolg. So ist umso mehr zu würdigen, dass die jetzt gebundene einbändige Ausgabe eine späte Reverenz an das Lebenswerk von Raul Hilberg, den vor zwei Jahren verstorbenen Promotor Walter Pehle und seine mithin exklusivste Sammlung zur NS-Geschichte ist.
Sein Doktorvater
warnte Hilberg
vor diesem Thema
Erst 1982 erschien das Werk
erstmals auf Deutsch,
in einem Kleinverlag
Eugen Kogon:
Der SS-Staat.
Das System der deutschen Konzentrationslager.
Heyne Verlag, München, 2023, Neuauflage.
527 Seiten, 16 Euro.
Raul Hilberg:
Die Vernichtung der
europäischen Juden.
Aus dem Englischen von Christian Seeger, Harry Maor, Walle Bengs, Wilfried Szepan. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023, Neuauflage. 1472 Seiten, 98 Euro.
(im Handel ab 28. Juni)
Eine Collage aus Karteikarten zu den Ermittlungen gegen Angehörige des Reichssicherheitshauptamts, wo der Holocaust maßgeblich organisiert wurde. Raul Hilberg (oben), Eugen Kogon (unten).
Fotos: Sean Gallup/Getty, dpa, SZ-Photo
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der „Endlösung“
Standardwerke von Eugen Kogon und Raul Hilberg
erscheinen in Neuauflage. Heute sind sie Klassiker
der Forschung, doch vor allem Hilbergs Analyse
wurde jahrzehntelang in Deutschland nicht akzeptiert,
weil sie sehr unbequeme Wahrheiten enthielt
VON KNUD VON HARBOU
Nur wenige Klassiker der frühen Nachkriegszeit gewährten einen solchen Einblick in die unmittelbare NS-Vergangenheit wie Theodor Plieviers „Stalingrad“ (1945), Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (1946), oder auch Ernst von Salomons „Der Fragebogen“ (1951). Sie erklommen sogar den Rang von Bestsellern. Einen Sonderfall stellte die Übersetzung von Raul Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1982) dar, deren Publikationsgeschichte in Deutschland von einem deutlichen Widerstand gegen die Aufarbeitung des Holocaust geprägt war. Nun sind Kogons und Hilbergs Werke jeweils in einer Neuauflage erschienen.
Der Soziologe und Publizist Eugen Kogon (1903-1987) erhoffte sich mit der ersten historischen Analyse eines KZ, des KZ Buchenwald bei Weimar, dessen Häftling er mit Unterbrechungen von 1939 bis zur Befreiung im April 1945 war, eine Selbsterkenntnis über diesen absoluten Gewaltkosmos wie auch ein Fanal für zukünftige Generationen zu setzen. Distanziert betitelte er die Auswertung seiner Erinnerungen als „Sachbericht“. Er schrieb ihn 1945 in nur einem halben Jahr nieder, 1946 erschienen, gelten seine Aufzeichnungen als Standardwerk.
Das Interesse der Leser an der jetzt in 18. Auflage vorliegenden Studie mit mehr als einer halben Million verkaufter Bücher schien er geweckt zu haben. Zu unbefriedigend war damals der Wissensstand über Ausmaß und Art des mörderischen NS-Terrors. Doch schnell wurde der Diskurs über die „Ordnung des Terrors“ – wenn er denn stattfand – vom restaurativen Denken der Nachkriegszeit überlagert. Kogon: „Man hat sich einfach der Wiederherstellung der ökonomischen Basis unserer Existenz zugewandt, und das mit ungeheurem Erfolg.“ Es sollte 70 Jahre dauern, bis Nikolaus Wachsmann (KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Siedler, 2016) eine ähnlich faktenreiche Gesamtdarstellung des deutschen KZ-Systems vorlegte.
Wolfgang Sofsky hat in seiner großen Studie („Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“, S. Fischer 1993) auf die von Kogon aufgeworfene Frage zur Täterschaft des Lagerpersonals verwiesen. Deren 55 000 Gehilfen, die sich vornehmlich durch Mediokrität bar jeglicher moralischer Norm auszeichneten, kamen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, gelenkt von einer winzigen Funktionselite. Sie seien keine soziale Randgruppe gewesen. Es wird das Verdienst von Kogons berühmtem Klassiker bleiben, auf die inhärenten Problemstellungen der KZ-Forschung erstmalig hingewiesen und die Deutschen detailliert mit dem Lagerterror konfrontiert zu haben. Gut hätte dieser wichtigen Neuauflage von 1974 ein Nachwort über die Weiterentwicklung des KZ-Forschungsstandes angestanden.
Schon Raul Hilbergs Masterarbeit 1950 an der Columbia University New York kreiste um sein Lebensthema, die Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Er erweiterte es 1955 in seiner Doktorarbeit, doch die Veröffentlichung in einem kleinen Chicagoer Verlag zog sich bis 1961 hin. Nur dank eines Druckkostenzuschusses konnte das Typoskript überhaupt erscheinen. 1985 kam eine erweiterte zweite, 2003 bei Yale University Press eine dritte Auflage heraus. 1963 erwarb der Münchner Verlag Droemer Knaur die Übersetzungsrechte an dem mittlerweile auf 1400 Druckseiten angewachsenen Koloss, löste den Vertrag aber 1965 mit obskuren Gründen auf. Mit dieser Kündigung wurde ein Stück deutscher Nachkriegsideologiegeschichte sichtbar, auf die zuletzt bereits vielfach eingegangen wurde.
Besonders Götz Aly und René Schlott haben den massiven Widerstand gegen Hilberg seitens verschiedener Verlage wie auch die zweifelhaften Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München aufgearbeitet. Man neidete dem Außenseiter seine Arbeit, nur hiesige Historiker könnten „diese Vorgänge historisch verstehbar machen“ qua besserer historischer Methoden, auch objektiver. Dahinter stand wohl letztlich die Angst vor der ganzen Wahrheit. Bezeichnenderweise wurde Hilberg einfach ausgeblendet. Bis 1982 tat sich mit der Übersetzung nichts.
Raul Hilberg, Jahrgang 1926, emigrierte als Jude 1939 von Wien aus in die USA, seine Familie war unmittelbar von der NS-Verfolgung betroffen, alle in Osteuropa lebenden Verwandten kamen während der Besatzung ums Leben. Die letzten Kriegswochen erlebte er in der US-Army in Bayern. Zurück in den USA schrieb er sich im Brooklyn College in New York für Geschichte und Politik ein. Deutlich registrierte er die amerikanische Indolenz im Umgang mit der Vernichtung des europäischen Judentums. So warnte ihn sein Doktorvater Franz Neumann, der in „Behemoth“ (1942) die tragenden Säulen des NS-Staats analysierte – ein Konzept, das Hilberg in seiner Arbeit aufgriff –, vor dem Thema. Er ließ sich nicht beirren und zählte so zum Kreis der ersten Holocaustforscher.
Anders als man hätte vermuten können, stellte er nicht die Täter und Opfer in den Mittelpunkt, sondern hinterfragte das „Wie“ des staatlichen Mordens als Folge einer schrittweisen administrativen Verdichtung der Kriterien Definition, Enteignung, Konzentration und Vernichtung. Im Unterschied zu Kollegen hatte er das Privileg, die beschlagnahmten Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse akribisch auswerten zu dürfen. Das führte bei der Erstausgabe seines Werks zu seiner These der „Verschmelzung zu einer Vernichtungsmaschinerie“, bestehend aus den Komponenten „Partei, Zivilverwaltung, Industrie und Militär“. Die Vernichtungsmaschinerie als „bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ musste natürlich einen erheblichen Widerstand im Nachkriegsdeutschland auslösen, denn plötzlich kam jeder NS-Funktionär als Täter oder Mittäter in Betracht.
Völlig neu sprach Hilberg von einer eigendynamischen Bürokratie, die nach der Machtübernahme in Sachen Judenpolitik selbständig agieren konnte. „Es war nicht nötig (die Verwaltung) mit Richtlinien und Ideen zu versorgen.“ Nahezu sämtliche NS-Leute bezeichneten sich in den Entnazifizierungsprozessen als weisungsgebundene Befehlsempfänger und damit als unschuldig. Daraus entwickelte er das heute noch gängige sogenannte Konsensmodell, wonach „die Vernichtung der Juden nicht so sehr ein Produkt von Gesetzen und Befehlen als vielmehr eine Angelegenheit der Gesinnung, des gegenseitigen Verstehens, der Übereinstimmung und Synchronisation“ war. Das reibungslose Verständnis der Teilnehmer der Wannnseekonferenz im Januar 1942 als wichtigem Beschlussgremium zum Holocaust ist dafür vielleicht ein Beispiel.
Es war Christopher Browning, der in dieser Gedankenkette den Aspekt weiterführte, dass „ganz normale Männer“ der Einsatzgruppen sich mit außerordentlichen Herausforderungen konfrontiert sahen und in der Bewältigung ein neues, kollektives Größenselbst entwickelten. Täter wie Kommandeure hätten zunächst nur vage Vorstellungen gehabt, die aber vor Ort, getragen von der gemeinsamen Vernichtungsideologie, in einen „decision flow“ umschlugen. Jederzeit konnten sie ihre Allmachtsfantasien mörderisch ausagieren. Schon das musste zu heftigem Widerspruch führen, weil er generalisierend von der individuellen täterbezogenen Analyse abwich.
Erst recht löste Hilbergs These zur Rolle der Judenräte Empörung aus. Hielt er diesen in der ersten Auflage noch „Kollaboration“ vor, so schwächte er das in den späteren Auflagen ab und attestierte ihnen, so Browning, Fehleinschätzung ihres Handlungsspielraums und nicht fehlendes Gewissen. Er blieb aber dabei, den Holocaust als administrativen bürokratischen Prozess zu verstehen, eine Sichtweise, die sich bis heute durchgesetzt hat. Hilbergs Studie bleibt mit ihrem Ansatz die wichtigste Grundlagenforschung zur Geschichte des Holocaust. Nahezu unvorstellbar ist, dass eine Person diesen gigantischen Komplex von Details wie in einem Schaukasten zusammenfügte, ihn ordnete und deutete. Im Vorwort zur Neuauflage fasst René Schlott noch mal die zentralen These Hilbergs zusammen: den administrativen Prozesscharakter der Vernichtung, die „Dezentralität des Judenmordes“ ohne allein verantwortliche Institution, die gesplittete Zuständigkeit, eine komplette Arbeitsteilung, mit der Folge, dass sich die Täter exkulpieren konnten, kein Budget für den Judenmord, die Lasten hatten alle Institutionen zu tragen, und die Passivität, mit der Juden ihre Vernichtung erduldeten, erklärbar durch Assimilation traditioneller Sozialisationsmuster.
Anerkennung wurde Hilberg nur wenig zuteil. Hartnäckig hielt sich in den USA die Ansicht, dass sein Buch ohne Resonanz geblieben sei. Jedoch in Fachzeitschriften – und auch in der New York Times und der Washington Post – erschienen positive Besprechungen, das Buch wurde 1967 sogar als Studienausgabe zum Preis von 3,95 Dollar angeboten. Doch selbst das hatte keinen Einfluss auf die ablehnende Haltung deutscher Verlage, die gestützt auf Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte sich über zwanzig Jahre lang unter fadenscheinigsten Begründungen sträubten, das Buch zu übersetzen. Auch diese Geschichte beschreibt René Schlott im Vorwort eindrucksvoll. Man kann sie lesen als ein Stück deutscher Nachkriegsideologie des Verschweigens, Beschweigens, Negierens evidenter Fakten, die durch Hilberg erstmals auf dem Tisch lagen. Doch der Holocaust war trotz des Auschwitz-Prozesses noch ein Tabu. Man akzeptierte diesen amerikanischen Außenseiter, der ja immerhin mit 30 Jahren Professor in Vermont wurde, einfach nicht.
Was Wunder, dass die amerikanische Originalausgabe mehr oder weniger durch Zufall 1982 bei dem unbekannten Kleinstverlag Olle & Wolter in Berlin landete. Christian Seeger, der die Hauptlast der Übersetzung der 840 Seiten trug, schildert die Umstände, aus dieser Textmasse noch ein Buch zu machen. Die Besprechung des Buches in der SZ vom 18. Mai 1983 gibt einen Einblick in die damalige Mentalität, distanzierter kann man die bahnbrechende Monografie kaum besprechen, ähnlich karg die Rezension in der FAZ ein Jahr später. Kein deutscher Historiker äußerte sich zu Hilberg. Im Ergebnis brach jedoch der Kontakt zu Wolters Verlag ab, und die Rechte fielen an Hilberg zurück.
Nutznießer war der S.-Fischer-Verlag, dessen Lektor Walter Pehle von Anfang an plante, das Buch in der von ihm herausgegebenen „Schwarzen Reihe“ als „programmatischen Kern“ zu platzieren. Diese Reihe mit damals 70 Titeln (heute mehr als 200) war schon zu dieser Zeit Ausdruck eines gewandelten öffentlichen Interesses. Die Studie erschien 1990 als dreibändige Taschenbuchausgabe mit 1350 Seiten, sie war ein ökonomischer Erfolg. So ist umso mehr zu würdigen, dass die jetzt gebundene einbändige Ausgabe eine späte Reverenz an das Lebenswerk von Raul Hilberg, den vor zwei Jahren verstorbenen Promotor Walter Pehle und seine mithin exklusivste Sammlung zur NS-Geschichte ist.
Sein Doktorvater
warnte Hilberg
vor diesem Thema
Erst 1982 erschien das Werk
erstmals auf Deutsch,
in einem Kleinverlag
Eugen Kogon:
Der SS-Staat.
Das System der deutschen Konzentrationslager.
Heyne Verlag, München, 2023, Neuauflage.
527 Seiten, 16 Euro.
Raul Hilberg:
Die Vernichtung der
europäischen Juden.
Aus dem Englischen von Christian Seeger, Harry Maor, Walle Bengs, Wilfried Szepan. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023, Neuauflage. 1472 Seiten, 98 Euro.
(im Handel ab 28. Juni)
Eine Collage aus Karteikarten zu den Ermittlungen gegen Angehörige des Reichssicherheitshauptamts, wo der Holocaust maßgeblich organisiert wurde. Raul Hilberg (oben), Eugen Kogon (unten).
Fotos: Sean Gallup/Getty, dpa, SZ-Photo
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