Die sehr geringe Zahl der Arbeiten, die sich der Geschichte des französischen Staates widmen, steht in krassem Gegensatz zur Geltung, die die Urteile zu diesem Thema erlangt haben. Woher kommt dieses Mißverhältnis? Der Staat als politisches Problem, oder als bürokratisches Phänomen, ist zwar Dreh- und Angelpunkt leidenschaftlicher Debatten. Dabei ist er bisher aber nicht als historisches Objekt erfaßt worden. Pierre Rosanvallon will diese Lücke schließen. Daher arbeitet er in seinem - im Original bei du Seuil erschienenen - Buch die Geschichte des französischen Staates und seiner Gesellschaft anhand von vier zentralen Aspekten heraus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2001Großer Funkenschlag aus der Steuerbilanz
Eine meisterhafte Erzählung: Pierre Rosanvallon erklärt Europa im Spiegel von Frankreich
Das Buch wirkt wie ein Spiegel. Als Deutscher erkennt man den modernen Staat, der ja auch der eigene ist, aber im ungewohnten französischen Kontext. Trotzdem erscheint alles vertraut, bis hin zu den Epocheneinteilungen. Die deutsch-französischen Kriege waren tiefe Einschnitte für beide Länder, aber auch europäische Interaktionen. Das Buch handelt also von der spezifischen Andersartigkeit der französischen Politik in der europäischen Gleichartigkeit. Die strukturbildenden Merkmale werden aber nicht einfach aufgezählt, ihre Entwicklung wird meisterhaft erzählt. Der Verfasser weiß selbst aus Statistiken Funken zu schlagen.
Natürlich beginnt Europa nicht 1789, sondern mit den Karolingern. Seitdem differenzierte es sich intern nach dem Verhältnis der Völkergruppen zur katholischen Kirche. Der Konflikt zwischen dem Papst und dem römisch-deutschen Kaiser schwächte in Deutschland die Zentralgewalt, in Frankreich und England stärkte er sie. Folglich führte die Entkoppelung von Religion und Politik nach der Reformation in Deutschland zur Dezentralisierung, in England und Frankreich zur Zentralisierung. Die Zentralstaaten taten sich leichter, die diffuse religiöse Legitimation durch selbstbezügliche Größen wie den Willen des Volkes oder die Souveränität der Nation zu ersetzen. Für den Autor Pierre Rosanvallon ist der moderne Staat also eine Folge der Säkularisierung. Man darf ihn aber nicht wie eine Substanz als Einheit, man muß ihn funktional begreifen. Der Staat drückt die relative Verselbständigung der Politik aus, er formt die Gesellschaft, vermindert Ungewißheiten und setzt die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
Die relative Verselbständigung der Politik versteht Rosanvallon als Demokratisierung, als Rückkoppelung politischer Entscheidungen an das Volk. Zur Erklärung greift er nicht auf die Geistesgeschichte, sondern auf die Verfassungsgeschichte zurück. Der Feudalismus habe Steuern als finanzielle Hilfen der Untertanen in besonderen Notlagen verstanden, besonders im Kriegsfalle. Bei diesem Verständnis sei der Herrscher daran interessiert gewesen, Aufkommen und Verwendung der Steuern geheimzuhalten. Die Geheimhaltung löste zunächst Widerstand gegen die Steuererhebung und dann die Revolution aus. Das Haushaltsrecht, das die Revolutionäre in Anspruch nahmen, war daher weit mehr als ein Wechsel in der Gesetzgebungskompetenz. Der Wechsel schloß die Herstellung von Öffentlichkeit ein, Kosten-Nutzen-Rechnungen, Statistiken, eine "billige Regierung" und damit eine Modernisierung der Verwaltung, besonders des öffentlichen Dienstes.
Dabei zeigt sich ein verblüffender Unterschied zur deutschen Entwicklung. In Deutschland gaben Verwaltungsbeamte den Ton an, die an mittelalterlichen Universitäten ausgebildet waren. In Frankreich galten solche Beamte als Maschinisten der Gesetzgebungsmaschinerie. Hier gaben die staatlichen Ingenieure den Ton an, die ihre Ausbildung an den "Großen Schulen" für Kriegsbaukunst, Artillerie, Brücken- und Wegebau, Bergbau und Technik erhalten hatten, die seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gegründet worden waren. Die Zugehörigkeit zu diesen Schulen ersetzte gleichsam das Beamtenrecht. Zu einem Beamtenrecht im deutschen Sinne kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Folgerichtig versteht Rosanvallon etwas als "Regulierung" der Beziehungen zwischen Staatsmacht und Verwaltung, was in Deutschland als nationales Unglück gilt: Säuberungen nach Regimewechseln. In Deutschland wird das Problem mit den politischen Beamten gelöst, die jederzeit in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden können. In Frankreich war eine solche Lösung auch wegen des tiefen Mißtrauens in die Beamten nicht möglich.
So klar und nüchtern wie die Ausdifferenzierung der Politik erzählt Rosanvallon auch die Formung der Gesellschaft, die Vorsorge und die Wirtschaftsregulierung durch den Staat. Der Staat mußte die Gesellschaft formen, weil die Französische Revolution alle traditionellen intermediären Gewalten als Verfälschungen des Volkswillens zerschlagen hatte und dann gezwungen gewesen war, sie zu ersetzen, damit ihre Funktionen erfüllt werden konnten. Deshalb traten an die Stelle der Provinzen die Zentralregierung und dreiundachtzig ungefähr gleich große Départements. Die Auflösung traditioneller Vereinigungen wie der Zünfte ist Frankreich auf mittlere Sicht aber nicht gut bekommen. Die staatliche Steuerungskraft stieß schnell an ihre Grenzen, und es zeigte sich, daß sich die Eigeninitiative der Bürger ohne die Stützen einer Tradition schwächer entwickelte als in Ländern mit verhältnismäßig sicheren Traditionen wie Deutschland und England. Frankreich fiel in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinter diese beiden Länder zurück.
Bei der Lektüre verfestigt sich im Leser der Eindruck, jeden Satz und jeden Abschnitt sofort zu verstehen. Wenn man das Buch gelesen hat, hat man nicht nur die französische Politik besser verstanden, sondern auch Europa. Selbst auf die etwas vegetative politische Philosophie Michel Foucaults fällt ein erhellendes Licht.
GERD ROELLECKE
Pierre Rosanvallon: "Der Staat in Frankreich". Von 1789 bis heute. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000. 273 S., br., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine meisterhafte Erzählung: Pierre Rosanvallon erklärt Europa im Spiegel von Frankreich
Das Buch wirkt wie ein Spiegel. Als Deutscher erkennt man den modernen Staat, der ja auch der eigene ist, aber im ungewohnten französischen Kontext. Trotzdem erscheint alles vertraut, bis hin zu den Epocheneinteilungen. Die deutsch-französischen Kriege waren tiefe Einschnitte für beide Länder, aber auch europäische Interaktionen. Das Buch handelt also von der spezifischen Andersartigkeit der französischen Politik in der europäischen Gleichartigkeit. Die strukturbildenden Merkmale werden aber nicht einfach aufgezählt, ihre Entwicklung wird meisterhaft erzählt. Der Verfasser weiß selbst aus Statistiken Funken zu schlagen.
Natürlich beginnt Europa nicht 1789, sondern mit den Karolingern. Seitdem differenzierte es sich intern nach dem Verhältnis der Völkergruppen zur katholischen Kirche. Der Konflikt zwischen dem Papst und dem römisch-deutschen Kaiser schwächte in Deutschland die Zentralgewalt, in Frankreich und England stärkte er sie. Folglich führte die Entkoppelung von Religion und Politik nach der Reformation in Deutschland zur Dezentralisierung, in England und Frankreich zur Zentralisierung. Die Zentralstaaten taten sich leichter, die diffuse religiöse Legitimation durch selbstbezügliche Größen wie den Willen des Volkes oder die Souveränität der Nation zu ersetzen. Für den Autor Pierre Rosanvallon ist der moderne Staat also eine Folge der Säkularisierung. Man darf ihn aber nicht wie eine Substanz als Einheit, man muß ihn funktional begreifen. Der Staat drückt die relative Verselbständigung der Politik aus, er formt die Gesellschaft, vermindert Ungewißheiten und setzt die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
Die relative Verselbständigung der Politik versteht Rosanvallon als Demokratisierung, als Rückkoppelung politischer Entscheidungen an das Volk. Zur Erklärung greift er nicht auf die Geistesgeschichte, sondern auf die Verfassungsgeschichte zurück. Der Feudalismus habe Steuern als finanzielle Hilfen der Untertanen in besonderen Notlagen verstanden, besonders im Kriegsfalle. Bei diesem Verständnis sei der Herrscher daran interessiert gewesen, Aufkommen und Verwendung der Steuern geheimzuhalten. Die Geheimhaltung löste zunächst Widerstand gegen die Steuererhebung und dann die Revolution aus. Das Haushaltsrecht, das die Revolutionäre in Anspruch nahmen, war daher weit mehr als ein Wechsel in der Gesetzgebungskompetenz. Der Wechsel schloß die Herstellung von Öffentlichkeit ein, Kosten-Nutzen-Rechnungen, Statistiken, eine "billige Regierung" und damit eine Modernisierung der Verwaltung, besonders des öffentlichen Dienstes.
Dabei zeigt sich ein verblüffender Unterschied zur deutschen Entwicklung. In Deutschland gaben Verwaltungsbeamte den Ton an, die an mittelalterlichen Universitäten ausgebildet waren. In Frankreich galten solche Beamte als Maschinisten der Gesetzgebungsmaschinerie. Hier gaben die staatlichen Ingenieure den Ton an, die ihre Ausbildung an den "Großen Schulen" für Kriegsbaukunst, Artillerie, Brücken- und Wegebau, Bergbau und Technik erhalten hatten, die seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gegründet worden waren. Die Zugehörigkeit zu diesen Schulen ersetzte gleichsam das Beamtenrecht. Zu einem Beamtenrecht im deutschen Sinne kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Folgerichtig versteht Rosanvallon etwas als "Regulierung" der Beziehungen zwischen Staatsmacht und Verwaltung, was in Deutschland als nationales Unglück gilt: Säuberungen nach Regimewechseln. In Deutschland wird das Problem mit den politischen Beamten gelöst, die jederzeit in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden können. In Frankreich war eine solche Lösung auch wegen des tiefen Mißtrauens in die Beamten nicht möglich.
So klar und nüchtern wie die Ausdifferenzierung der Politik erzählt Rosanvallon auch die Formung der Gesellschaft, die Vorsorge und die Wirtschaftsregulierung durch den Staat. Der Staat mußte die Gesellschaft formen, weil die Französische Revolution alle traditionellen intermediären Gewalten als Verfälschungen des Volkswillens zerschlagen hatte und dann gezwungen gewesen war, sie zu ersetzen, damit ihre Funktionen erfüllt werden konnten. Deshalb traten an die Stelle der Provinzen die Zentralregierung und dreiundachtzig ungefähr gleich große Départements. Die Auflösung traditioneller Vereinigungen wie der Zünfte ist Frankreich auf mittlere Sicht aber nicht gut bekommen. Die staatliche Steuerungskraft stieß schnell an ihre Grenzen, und es zeigte sich, daß sich die Eigeninitiative der Bürger ohne die Stützen einer Tradition schwächer entwickelte als in Ländern mit verhältnismäßig sicheren Traditionen wie Deutschland und England. Frankreich fiel in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinter diese beiden Länder zurück.
Bei der Lektüre verfestigt sich im Leser der Eindruck, jeden Satz und jeden Abschnitt sofort zu verstehen. Wenn man das Buch gelesen hat, hat man nicht nur die französische Politik besser verstanden, sondern auch Europa. Selbst auf die etwas vegetative politische Philosophie Michel Foucaults fällt ein erhellendes Licht.
GERD ROELLECKE
Pierre Rosanvallon: "Der Staat in Frankreich". Von 1789 bis heute. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000. 273 S., br., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rudolf Walther zeigt sich äußerst angetan von diesem Buch. Zwar findet er, dass der Autor hier keine "umfassende Synthese zur Geschichte des Staates" vorgelegt hat. Es gefällt ihm jedoch, dass Rosanvallon verschiedene Thesen untersucht, "exemplarisches Material" ausbreitet und Ideen vorstellt, "wie eine solche Geschichte zu erarbeiten wäre". Walther betont mehrfach die differenzierte Herangehensweise des Autors, der sich von pauschalisierenden Begriffen wie "Zentralismus" oder der verbreiteten Ansicht, ein Staat sei gleichzusetzen mit der Staatsquote, distanziert. Nach Rosanvallons Meinung könne das Wesen eines Staates nicht mit Statistiken und Quantifizierungen erfasst werden, und daher beleuchte er die Wechselwirkungen von Staat und Gesellschaft, die Brüche in der staatlichen Entwicklung und die "Beziehungen zwischen Politik, Verwaltung und Gesellschaft". Zuletzt weist Walther noch auf die äußerst umfangreiche und "hervorragende gegliederte und kommentierte" Bibliografie hin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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