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Produktdetails
  • Verlag: Henschel Verlag
  • Seitenzahl: 256
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 454g
  • ISBN-13: 9783894873240
  • Artikelnr.: 24219897
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1999

Lehr- und Schurkenstück
Wieder eine Moro-Mord-Komplott-Theorie

Klaus Kellmann: Der Staat lässt morden. Politik und Terrorismus - heimliche Verbündete. Henschel Verlag, Berlin 1999. 256 Seiten, 5 Abbildungen, 2 Karten, 39,90 Mark.

Ende September ging die Nachricht durch die Weltpresse: in dem seit mehr als drei Jahren laufenden Prozess vor dem Schwurgericht in Perugia war der frühere christdemokratische Spitzenpolitiker Giulio Andreotti von der Anklage der Anstiftung zum Mord "wegen erwiesener Unschuld" freigesprochen worden. Der gewaltsame Tod des Skandaljournalisten Mino Pecorelli im März 1979 bleibt so weiterhin ungeklärt. In der Justizgeschichte Italiens bildet das Urteil einen Wendepunkt. Andreotti, siebenfacher Ministerpräsident, langjähriger Außen- und Verteidigungsminister, einer der mächtigsten und bekanntesten Politiker Italiens im letzten halben Jahrhundert, erscheint vielen Beobachtern als das Rätsel in Person, ein Salamander, der durch viele zehrende Feuer unversehrt hindurch geschlüpft ist, ein alter Fuchs, der allen Fallen zu entgehen wusste. Schüler Alcide De Gasperis, gläubiger Katholik, Autor vieler Bücher, bekannt wegen seines Witzes und seiner Zynismen, beim Heiligen Stuhl "persona gratissima" (nach dem Urteil eines hochgestellten Spötters "der beste Außenminister, den der Vatikan je hatte") stand Andreotti gleichzeitig im Zentrum vieler ungeklärter Skandale der Nachkriegsrepublik. Er amtierte als Ministerpräsident, als am 16. März 1978 der christdemokratische Politiker Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt und nach dramatischen Verhandlungen am 9. Mai 1978 ermordet wurde.

Moros Tod bleibt ein zentrales Ereignis in der Geschichte Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss und vier große Prozesse haben sich mit dem Thema befasst. Viele Fragen sind trotzdem offen geblieben. Was hat sich wirklich in jenen quälenden Wochen zwischen dem 16. März und dem 9. Mai 1978 abgespielt? Viele Rätselfragen haben bis heute keine Antwort gefunden. Stand hinter den zahlreichen Fehlleistungen und Unterlassungen des staatlichen Suchapparats nur Ineffizienz oder eine Strategie des "Nichtfindenwollens"? Hätte statt der Strategie der Härte eine Politik der Verhandlungsbereitschaft größere Chancen geboten, das Leben Moros zu retten? Gab es hinter den Aktionen der "Roten Brigaden" eine zweite Ebene? Gab es in oder gar außerhalb Italiens irgendwo (Moskau? CIA? Mossad?) den großen Puppenspieler, der die Fäden zog? Solche Verschwörungstheorien, die durch andere Skandale (P2, Banco Ambrosiano, Sindona, Enimont) immer wieder neue Nahrung erhielten, bilden das Unterfutter jeder Moro-Diskussion.

Bei der Vorliebe der Italiener für die "dietrologia" (also die Neigung, hinter der offiziellen "Wahrheit" die wirklichen Ursachen und Motive zu vermuten) hat die "Affaire Moro" eine breite "Enthüllungsliteratur" von sehr unterschiedlichem Wert hervorgebracht. Auf der Linken zirkuliert seit langem die Theorie von "Doppelstaat", nach der es jenseits der politischen Fassade eine zweite illegale Machtstruktur gab, die den Gang der Dinge entscheidend beeinflusst habe. Zu diesem Typ der Interpretation gehört auch der Beitrag des Kieler Zeithistorikers Klaus Kellmann. Seiner Ansicht nach waren die "Brigate Rosse" nur "Werkzeuge in den Händen anderer, Instrumente und nützliche Idioten". Der Mord wurde ferngelenkt von Washington. Er war ein Werk der CIA und der Nato-Geheimdienste bei Mitwisserschaft und Mittäterschaft bestimmter Teile der Democrazia Cristiana. Die im Zeichen des Eurokommunismus stehende und von Moro angestrebte Machtbeteiligung der Kommunisten habe unter allen Umständen verhindert werden müssen: Die Washingtoner Politik exekutierte eine Art "umgekehrter Breschnewdoktrin". "Die Entfernung Aldo Moros aus dem politischen Leben und sein gewaltsamer Tod sind deshalb nicht nur ein ,einfacher' Mord . . . Sie sind . . . weltpolitisch folgenreicher als die Schüsse auf John F. Kennedy. Sie sind das negative politische Lehrstück und der Sündenfall des Westens im Kalten Krieg."

Diese in der Literatur der italienischen Geschichte (und nicht nur dort) verbreitete These wird vom Kellmann mit Geschick und Verve vorgetragen. Der in zehn Kapiteln klug komponierte Text liest sich flüssig, suggestiv und hat romanhafte Züge. Es handelt sich um einen auf eine zentrale These hin komponierten Text, der alles beiseite lässt, was dieser Deutung widersprechen könnte, um ein Lehrstück mit zynischen Schurken (Andreotti, Gelli), Komparsen und einem christusähnlichen, leidenden, heroischen Opfer (Moro). Auf Deutsch existieren schon etliche Darstellungen des gleichen Typs, etwa die Beiträge von Raith, Igel, Oschwald und andere. Der historischen Wahrheit ist damit wenig gedient.

JENS PETERSEN

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