Es ist sicherlich kein Zufall, daB die neue Verfassung der DDR yom 6. April 1968 den Artikel 48 zum symboltrachtig postierten Zentralar tikel des staatlichen Organisationsgefliges wahlte. Ratte die Weimarer Verfassung mit den gesetzgeberischen Notstandsbefugnissen ihres be ruchtigten Artikel 48 jenen Sprengsatz in das parlamentarische System eingebaut, mit dessen Rilfe die Prasidialkabinette ermoglicht und die Parlamente aus dem politis chen EntscheidungsprozeB katapultiert wur den, so solI offenkundig Artikel 48 der DDR-Verfassung demgegenuber unverbruchliche Geltungskraft des Gegenprinzips postulieren: "Die Volks kammer ist das einzige verfassungs- und gesetzgebende Organ in der Deutschen Demokratischen Republik. Niemand kann ihre Rechte einschran ken. " Und in Lenins Gefolgschaft - der in seiner beruhmten, 1917 erst mals publizierten Schrift "Staat und Revolution" die burgerlichen Parla mente verachtlich als "Schwatzbuden" abqualifizierte, denen das Prole tariat seine neuen arbeitenden, d. h. zugleich gesetzgebenden und voll ziehenden Vertretungskorperschaften entgegenstellen sollte - heiBt es weiter in Artikel 48 der neuen Sozialistischen Verfassung: "Die Volks kammer verwirklicht in ihrer Tatigkeit den Grundsatz der Einheit von BeschluBfassung und Durchflihrung. " Die Botschaft kontrastiert allerdings mit der Realitat. Bereits 1954 hatte Bertold Brecht als systemkonformer Beobachter in vorsichtiger Doppeldeutigkeitgeseufzt: "Vielleicht machen wir zu wenig aus unserer Volkskammer. " Tatsachlich scheint die Volks kammer jenes deutsche Parlament zu sein, das bei seinen seltenen offent-· lichen Auftritten Lenins Epitheton den hochsten Tribut zollt: es prasentiert sich als eine "Schwatzbude" ohne echte Entscheidungsmacht. Die Entwicklung hierzu war bereits mit der alten Verfassung ermoglicht.
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