Für die in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die UdSSR gelangten Kommunisten bedeutete die Begegnung mit den Praktiken der sowjetischen Partei eine grundlegend neue Erfahrung. Sie mussten nun lernen, als stalinistische Parteikader zu denken und zu handeln. Tausende von Berichten in den Archiven geben Zeugnis über diese Prozesse der Ausbildung stalinistischer Subjekte. In ihnen spiegelt sich über die Selbstbeschreibung wie über die Fremdbeschreibung durch den Blick des Apparates in faszinierender Weise die Innen-und Außenansicht der jeweiligen Person. Diese Berichte und Beschreibungen dienen hier als historisches Fenster zum Verständnis des Stalinismus als eigene Lebenswelt: Sie geben Einblick in die Subjektempfindung der Parteikader.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2002Stalins Knechte
"Jeder Deutsche ein Agent der Gestapo": Wie ausländische Kader in Moskau ab- und hingerichtet wurden
Brigitte Studer/Berthold Unfried: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2001. 326 Seiten, 29,90 Euro.
"Die Kader entscheiden alles." Diesen vielzitierten Ukas gab Stalin im Kreml am 4. Mai 1935 in einer Ansprache vor Absolventen der Akademien der Roten Armee aus. Bisher habe es geheißen, die Technik entscheide alles. Nunmehr sei jedoch die Basis für die Ausrüstung der Arbeiter mit "erstklassiger Technik" geschaffen worden. Jetzt müßten sich die Kader den Menschen zuwenden, die die Technik beherrschen sollen. Doch Stalin ging es keineswegs nur um die Heranbildung von befähigten Facharbeitern und Spezialisten. Kader gehörten für ihn zum "Kommandobestand" der Partei und der leitenden Staatsorgane. Sie waren als politische Beauftragte und Funktionäre verpflichtet, sich nach deren jeweils vorgegebenen Normen zu verhalten und die Weisungen der Parteiführung widerspruchslos auszuführen.
Der Kaderauslese mußten sich auch Tausende west- und mitteleuropäischer Kommunisten unterziehen, die voller Enthusiasmus in den zwanziger und dreißiger Jahren meist auf Veranlassung der KP ihres Heimatlandes in die Sowjetunion emigriert waren. Sie arbeiteten in qualifizierten Berufen, waren als Mitarbeiter oder Funktionäre bei der Kommunistischen Internationale (Komintern) beschäftigt, oder sie studierten an der Moskauer "Internationalen Leninschule" beziehungsweise an der "Kommunistischen Universität der nationalen Minoritäten des Westens". Im Zuge der wachsenden Ausländerfeindlichkeit und mit der damit einhergehenden Auflösung des Emigrantenmilieus schloß man 1936/37 diese Kaderschulen. Viele Studenten wurden danach verhaftet und fielen dem "Großen Terror" zum Opfer.
Brigitte Studer und Berthold Unfried haben untersucht, wie die westlichen Polit-Emigranten in den dreißiger Jahren mit den Denk- und Verhaltensformen der stalinistischen Gesellschaft in Berührung kamen, sich ihnen anpaßten oder widersetzten. Sie beschreiben die Desillusionierung, Isolation, Identitätsaufgabe und die Verfolgungsängste der europäischen Emigranten in der ihnen fremden Kultur des Stalinismus. Die häufig entwürdigenden Überführungsverfahren in die bolschewistische sowjetische Partei aus der KP des Herkunftslandes werden ebenso wie die Kritik-und-Selbstkritik-Rituale an den Parteischulen und bei den gefürchteten Parteisäuberungen anhand neuer Quellen dargestellt. Hierzu gehören auch die von den Parteikontrollinstanzen permanent angeforderten Autobiographien. Der Eintritt in die Kaderexistenz bedingte die Aufgabe der Identität und damit des vorhergehenden Lebens. Die Autoren konnten hinsichtlich der schriftlichen und mündlichen Selbstzeugnisse von Polit-Emigranten ertragreiche Recherchen in Moskauer Archiven anstellen. Sie profitierten von den dort nur zeitweilig großzügig gehandhabten Benutzungsmodalitäten.
Formal löste Stalin die Komintern im Interesse des Kriegsbündnisses mit den Westmächten 1943 auf. Tatsächlich war sie Ende der dreißiger Jahre ausgeschaltet. Die Propaganda schürte die Fremdenfeindlichkeit und heizte das "gesunde russische Volksempfinden" gegen die privilegiert lebenden Komintern-Mitarbeiter an.
Der deutsche Kommunist Franz Schwarzmüller beschwerte sich darüber im April 1939 in einem an die sowjetische Partei- und Staatsführung sowie an Wilhelm Pieck gerichteten Schreiben, wobei er aus der sowjetischen Presse zitierte: "Es wäre keinesfalls eine Übertreibung zu sagen, daß jeder im Ausland lebende Japaner ein Spion ist, ebenso wie jeder im Ausland lebende deutsche Staatsbürger ein Agent der Gestapo ist."
Ein Schauprozeß gegen Komintern-Funktionäre war offensichtlich schon geplant. Doch die Schmutzarbeit überließ man dann dem Geheimdienst NKVD, der "Geständnisse" vorzugsweise durch Folterung erpreßte. Nach einer Schätzung des KPD-Funktionärs Paul Jäkel vom April 1938 wurden über 70 Prozent der deutschen Kommunisten verhaftet. Das bedeutet, daß etwa 3000 deutsche Polit-Emigranten in der Sowjetunion davon betroffen waren. Die ausländischen Kader, die die physische Vernichtung überlebt und sich nicht selten selbst an der Liquidierung ihrer Genossen beteiligt haben, bildeten nach dem Kriege die Personalreserve der Sowjets bei der Errichtung der "Volksdemokratien" in Mittel- und Osteuropa. Walter Ulbricht und Pieck gehörten dazu und übernahmen das Regiment in der SBZ/DDR.
GUNTER HOLZWEISSIG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Jeder Deutsche ein Agent der Gestapo": Wie ausländische Kader in Moskau ab- und hingerichtet wurden
Brigitte Studer/Berthold Unfried: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2001. 326 Seiten, 29,90 Euro.
"Die Kader entscheiden alles." Diesen vielzitierten Ukas gab Stalin im Kreml am 4. Mai 1935 in einer Ansprache vor Absolventen der Akademien der Roten Armee aus. Bisher habe es geheißen, die Technik entscheide alles. Nunmehr sei jedoch die Basis für die Ausrüstung der Arbeiter mit "erstklassiger Technik" geschaffen worden. Jetzt müßten sich die Kader den Menschen zuwenden, die die Technik beherrschen sollen. Doch Stalin ging es keineswegs nur um die Heranbildung von befähigten Facharbeitern und Spezialisten. Kader gehörten für ihn zum "Kommandobestand" der Partei und der leitenden Staatsorgane. Sie waren als politische Beauftragte und Funktionäre verpflichtet, sich nach deren jeweils vorgegebenen Normen zu verhalten und die Weisungen der Parteiführung widerspruchslos auszuführen.
Der Kaderauslese mußten sich auch Tausende west- und mitteleuropäischer Kommunisten unterziehen, die voller Enthusiasmus in den zwanziger und dreißiger Jahren meist auf Veranlassung der KP ihres Heimatlandes in die Sowjetunion emigriert waren. Sie arbeiteten in qualifizierten Berufen, waren als Mitarbeiter oder Funktionäre bei der Kommunistischen Internationale (Komintern) beschäftigt, oder sie studierten an der Moskauer "Internationalen Leninschule" beziehungsweise an der "Kommunistischen Universität der nationalen Minoritäten des Westens". Im Zuge der wachsenden Ausländerfeindlichkeit und mit der damit einhergehenden Auflösung des Emigrantenmilieus schloß man 1936/37 diese Kaderschulen. Viele Studenten wurden danach verhaftet und fielen dem "Großen Terror" zum Opfer.
Brigitte Studer und Berthold Unfried haben untersucht, wie die westlichen Polit-Emigranten in den dreißiger Jahren mit den Denk- und Verhaltensformen der stalinistischen Gesellschaft in Berührung kamen, sich ihnen anpaßten oder widersetzten. Sie beschreiben die Desillusionierung, Isolation, Identitätsaufgabe und die Verfolgungsängste der europäischen Emigranten in der ihnen fremden Kultur des Stalinismus. Die häufig entwürdigenden Überführungsverfahren in die bolschewistische sowjetische Partei aus der KP des Herkunftslandes werden ebenso wie die Kritik-und-Selbstkritik-Rituale an den Parteischulen und bei den gefürchteten Parteisäuberungen anhand neuer Quellen dargestellt. Hierzu gehören auch die von den Parteikontrollinstanzen permanent angeforderten Autobiographien. Der Eintritt in die Kaderexistenz bedingte die Aufgabe der Identität und damit des vorhergehenden Lebens. Die Autoren konnten hinsichtlich der schriftlichen und mündlichen Selbstzeugnisse von Polit-Emigranten ertragreiche Recherchen in Moskauer Archiven anstellen. Sie profitierten von den dort nur zeitweilig großzügig gehandhabten Benutzungsmodalitäten.
Formal löste Stalin die Komintern im Interesse des Kriegsbündnisses mit den Westmächten 1943 auf. Tatsächlich war sie Ende der dreißiger Jahre ausgeschaltet. Die Propaganda schürte die Fremdenfeindlichkeit und heizte das "gesunde russische Volksempfinden" gegen die privilegiert lebenden Komintern-Mitarbeiter an.
Der deutsche Kommunist Franz Schwarzmüller beschwerte sich darüber im April 1939 in einem an die sowjetische Partei- und Staatsführung sowie an Wilhelm Pieck gerichteten Schreiben, wobei er aus der sowjetischen Presse zitierte: "Es wäre keinesfalls eine Übertreibung zu sagen, daß jeder im Ausland lebende Japaner ein Spion ist, ebenso wie jeder im Ausland lebende deutsche Staatsbürger ein Agent der Gestapo ist."
Ein Schauprozeß gegen Komintern-Funktionäre war offensichtlich schon geplant. Doch die Schmutzarbeit überließ man dann dem Geheimdienst NKVD, der "Geständnisse" vorzugsweise durch Folterung erpreßte. Nach einer Schätzung des KPD-Funktionärs Paul Jäkel vom April 1938 wurden über 70 Prozent der deutschen Kommunisten verhaftet. Das bedeutet, daß etwa 3000 deutsche Polit-Emigranten in der Sowjetunion davon betroffen waren. Die ausländischen Kader, die die physische Vernichtung überlebt und sich nicht selten selbst an der Liquidierung ihrer Genossen beteiligt haben, bildeten nach dem Kriege die Personalreserve der Sowjets bei der Errichtung der "Volksdemokratien" in Mittel- und Osteuropa. Walter Ulbricht und Pieck gehörten dazu und übernahmen das Regiment in der SBZ/DDR.
GUNTER HOLZWEISSIG
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie erging es in den dreißiger Jahren westlichen Polit-Emigranten in der stalinistischen Gesellschaft? Passten sie sich den herrschenden Denk- und Verhaltensformen an oder widersetzten sie sich ihnen? Gunter Holzweissig begnügt sich in seiner Rezension mit einem Referat des Buchinhalts. Er zeichnet nach, wie Stalin in den dreißiger Jahren eine Kaderauslese anordnete, die auch Tausende west- und mitteleuropäische, in die Sowjetunion emigrierte Kommunisten betraf. Doch angesichts der wachsenden Ausländerfeindlichkeit, löste sich das Emigrantenmilieu nach und nach auf, und 1936/37 wurden auch die Kaderschulen geschlossen. Viele Studenten wurden daraufhin verhaftet oder "fielen dem 'Großen Terror' zum Opfer. Studer und Unfried beschreiben die "Desillusionierung, Isolation, Identitätsaufgabe und Verfolgungsängste der europäischen Emigranten", so Holzweissig. Viel mehr ist allerdings nicht zu erfahren. Zwar gibt der Rezensent über die Thesen und Erkenntnisse der Untersuchung, sowie über das Recherchematerial Auskunft, hält sich jedoch mit einer Einschätzung zurück. Der Urteilssuchende muss Hunger leiden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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