Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.1997Und nie mehr droht der Baggerzahn
Jörg Müller renoviert die Kinderzimmer und erzählt von standhaftem Spielzeug in kalter Welt
Irgendwann war Bullerbü. Da tobten pausbäckige Kinder durch idyllische Landschaften, und das größte Problem der Welt war, Mama schonend beizubringen, daß man den Milchkrug umgestoßen hatte. Dann kam der Atomblitz, radioaktiver Fallout rieselte auf Schewenborn nieder. Mit Sirenengeheul hatte die Neuzeit das Kinderbuch eingeholt - plötzlich schien alles gesagt, geschrieben, gezeichnet, gelesen.
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom spielerischen Umgang mit dem Zitat. Ihre Literatur lebt vom Rückgriff auf Mythen und Märchen, vom Austausch alter Erzählformen durch radikal neue, gebrochene. Der Autor verschwindet hinter dem Erzählten, er löst sich auf; nur so kann er sich noch einmischen. Jörg Müllers Neuinterpretation des Andersen-Märchens vom standhaften Zinnsoldaten läßt sich dabei zunächst gemütlich an. Ein Kinderzimmer wird eingerichtet, unter alten Dielen findet sich ein vergessener Zinnsoldat. Die Wände werden neu tapeziert, und bald prangen dort Bilder aus Jörg Müllers früheren Büchern: Auf einem Poster droht der längst zum Klassiker gewordene Baggerzahn, auf einem anderen sind es die ins fahle Neonlicht der Großstädte gerückten Bremer Stadtmusikanten. Kindheit politisch korrekt, sozusagen. Da soll es dem armen Zinnsoldaten nun wohl ergehen, will der Betrachter denken - und stockt angesichts der bedrohlichen Untersicht, in der die Bildertafeln komponiert sind. Außerdem rumort irgendwo das Wissen, daß Andersens Soldat schlußendlich, vom Feuer unerfüllter Liebe zu einer zierlichen Tänzerin verzehrt, sein Dasein als geschmolzener Zinnklecks beendete.
Die Zeiten wandeln sich, das Kind wird älter. Neue Medien erobern sein Zimmer, selbst der Baggerzahn muß weichen: dem auf Weltersatz getrimmten Gesang der Kelly Family; den Disneyhelden aus dem Computer. Derweil türmt sich auf dem Fußboden eine klägliche Armee alten Spielzeugs - benutzt, vergessen, schließlich fortgeworfen. Auch den Zinnsoldaten wirbelt es hinaus in die kalte Welt der Neunziger. Von denen zeugen Werbetafeln und Schlagzeilen: Chirac, Woody Allen, Lady Diana.
Da muß selbst der Standhafteste verzagen. Schon bei Andersen war der Zinnsoldat tragisches Opfer der Unfähigkeit, aus sich herauszugehen; ein einbeiniger Kerl, der sich lieber Wunschvorstellungen hingab, als der Realität ins Auge zu blicken. Jörg Müller nimmt ihm nun auch die letzte Illusion. Die Liebe zur Tänzerin - eine glattkalte Barbiepuppe - reduziert sich auf Äußerlichkeiten, scharf am Rande der Obszönität. Das Bajonett des Soldaten verhakt sich im Minirock der Plastikprinzessin, nur deshalb sind die beiden aneinandergekettet auf ihrer düsteren Reise durch Gully, Weltmeer, Fischbauch, Müllhalde und Flugzeug. Und doch blitzt hier und da ein Kinderlachen auf, sieht man freudige Gesichter, wenn aus Zeitungsseiten ein Boot gefaltet wird, wenn der Vater aus dem Müll der Wohlstandsgesellschaft ein Spielzeug fertigt.
Auch die Zirkularität ist ein Merkmal postmoderner Literatur, Anfang und Ende sind eins. So landen Zinnsoldat und Barbie nach ihrer Reise durch die zum globalen Dorf geschrumpfte Welt fast wieder dort, wo sie hergekommen sind. Endgültig befreit vom ursprünglichen Daseinszweck, äußerlich gezeichnet, fristen sie nun als Exponate eines überholten Lebensabschnitts ihr Dasein im ethnologischen Museum. Barbie strahlt ihr Plastiklächeln, schweigend hält der Zinnsoldat sein Bajonett.
Ganz ohne Text kommt das großformatige Bilderbuch aus. Gerade deshalb lädt es zum wiederholten Lesen ein. Kinder werden die Geschichte anders interpretieren als Erwachsene. Wärme aber und Trost, das kuschelige Aufgehobensein im Märchen wollen sich bei der Lektüre nicht einstellen - und das ist ganz im Sinne Andersens. Beklemmend sind die Bilder in ihrem Realismus, traurig ist die von ihnen dargebrachte Geschichte, gnadenlos und großartig die Parabel. ANDREAS STEINHÖFEL Jörg Müller: "Der standhafte Zinnsoldat". Verlag Sauerländer, Frankfurt am Main 1996. 32 S., geb., 29,80 DM. Ab 6 J.
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Jörg Müller renoviert die Kinderzimmer und erzählt von standhaftem Spielzeug in kalter Welt
Irgendwann war Bullerbü. Da tobten pausbäckige Kinder durch idyllische Landschaften, und das größte Problem der Welt war, Mama schonend beizubringen, daß man den Milchkrug umgestoßen hatte. Dann kam der Atomblitz, radioaktiver Fallout rieselte auf Schewenborn nieder. Mit Sirenengeheul hatte die Neuzeit das Kinderbuch eingeholt - plötzlich schien alles gesagt, geschrieben, gezeichnet, gelesen.
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom spielerischen Umgang mit dem Zitat. Ihre Literatur lebt vom Rückgriff auf Mythen und Märchen, vom Austausch alter Erzählformen durch radikal neue, gebrochene. Der Autor verschwindet hinter dem Erzählten, er löst sich auf; nur so kann er sich noch einmischen. Jörg Müllers Neuinterpretation des Andersen-Märchens vom standhaften Zinnsoldaten läßt sich dabei zunächst gemütlich an. Ein Kinderzimmer wird eingerichtet, unter alten Dielen findet sich ein vergessener Zinnsoldat. Die Wände werden neu tapeziert, und bald prangen dort Bilder aus Jörg Müllers früheren Büchern: Auf einem Poster droht der längst zum Klassiker gewordene Baggerzahn, auf einem anderen sind es die ins fahle Neonlicht der Großstädte gerückten Bremer Stadtmusikanten. Kindheit politisch korrekt, sozusagen. Da soll es dem armen Zinnsoldaten nun wohl ergehen, will der Betrachter denken - und stockt angesichts der bedrohlichen Untersicht, in der die Bildertafeln komponiert sind. Außerdem rumort irgendwo das Wissen, daß Andersens Soldat schlußendlich, vom Feuer unerfüllter Liebe zu einer zierlichen Tänzerin verzehrt, sein Dasein als geschmolzener Zinnklecks beendete.
Die Zeiten wandeln sich, das Kind wird älter. Neue Medien erobern sein Zimmer, selbst der Baggerzahn muß weichen: dem auf Weltersatz getrimmten Gesang der Kelly Family; den Disneyhelden aus dem Computer. Derweil türmt sich auf dem Fußboden eine klägliche Armee alten Spielzeugs - benutzt, vergessen, schließlich fortgeworfen. Auch den Zinnsoldaten wirbelt es hinaus in die kalte Welt der Neunziger. Von denen zeugen Werbetafeln und Schlagzeilen: Chirac, Woody Allen, Lady Diana.
Da muß selbst der Standhafteste verzagen. Schon bei Andersen war der Zinnsoldat tragisches Opfer der Unfähigkeit, aus sich herauszugehen; ein einbeiniger Kerl, der sich lieber Wunschvorstellungen hingab, als der Realität ins Auge zu blicken. Jörg Müller nimmt ihm nun auch die letzte Illusion. Die Liebe zur Tänzerin - eine glattkalte Barbiepuppe - reduziert sich auf Äußerlichkeiten, scharf am Rande der Obszönität. Das Bajonett des Soldaten verhakt sich im Minirock der Plastikprinzessin, nur deshalb sind die beiden aneinandergekettet auf ihrer düsteren Reise durch Gully, Weltmeer, Fischbauch, Müllhalde und Flugzeug. Und doch blitzt hier und da ein Kinderlachen auf, sieht man freudige Gesichter, wenn aus Zeitungsseiten ein Boot gefaltet wird, wenn der Vater aus dem Müll der Wohlstandsgesellschaft ein Spielzeug fertigt.
Auch die Zirkularität ist ein Merkmal postmoderner Literatur, Anfang und Ende sind eins. So landen Zinnsoldat und Barbie nach ihrer Reise durch die zum globalen Dorf geschrumpfte Welt fast wieder dort, wo sie hergekommen sind. Endgültig befreit vom ursprünglichen Daseinszweck, äußerlich gezeichnet, fristen sie nun als Exponate eines überholten Lebensabschnitts ihr Dasein im ethnologischen Museum. Barbie strahlt ihr Plastiklächeln, schweigend hält der Zinnsoldat sein Bajonett.
Ganz ohne Text kommt das großformatige Bilderbuch aus. Gerade deshalb lädt es zum wiederholten Lesen ein. Kinder werden die Geschichte anders interpretieren als Erwachsene. Wärme aber und Trost, das kuschelige Aufgehobensein im Märchen wollen sich bei der Lektüre nicht einstellen - und das ist ganz im Sinne Andersens. Beklemmend sind die Bilder in ihrem Realismus, traurig ist die von ihnen dargebrachte Geschichte, gnadenlos und großartig die Parabel. ANDREAS STEINHÖFEL Jörg Müller: "Der standhafte Zinnsoldat". Verlag Sauerländer, Frankfurt am Main 1996. 32 S., geb., 29,80 DM. Ab 6 J.
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