Ein existentieller und grandioser Roman, mächtig wie die Täler und Berge, in denen er spielt: In den Bergen Piemonts sind die Menschen von einer unsichtbaren Naturgewalt bestimmt. Eine explosive Stille umgibt die Dorfbewohner. Sie hüten ein Geheimnis, doch Cesare, der Steingänger, kommt der Wahrheit gefährlich nahe. In einer dichten, kargen Sprache, mit einzelnen Sätzen schneidend wie Fels, nimmt diese außergewöhnliche Geschichte ihren Lauf. Unabänderlich wie der Zyklus der Jahreszeiten scheint das Schicksal der Menschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2007Die Spur der Steine
Davide Longo sucht das Verbrechen in der schweigsamen Provinz
Grenzen provozieren Grenzerfahrungen. Sie schließen ein; sie schließen aus. Je schärfer ihre Linien gezogen sind, desto größer die Schatten des Trennenden. Ereignishaft wird dadurch der Übergang, in dem sich vielfältige Probleme - mit ebenso vielen Geschichten - spiegeln lassen.
Ein junger Autor, fast noch ein Debütant, sogleich mit Preisen bedacht, Davide Longo (Jahrgang 1971), hat sich diesen narrativen Ort mit einer bemerkenswerten und durchdringenden Schreibweise erschlossen. Oben in den Bergen Piemonts, an der Grenze zu Frankreich, entlädt sich die Konfrontation in einem Mord. Der Kriminalfall als Träger einer Geschichte ist inzwischen beliebt; Beispiele erübrigen sich. Auf die Aufklärung kommt es an; sie gibt Gelegenheit, das Lebensbedrohliche dahinter aufzudecken. Den Vordergrund nehmen zunächst die "passeurs" ein. Sie üben den unehrenwerten Beruf des Schleusers aus. Das Syndikat vermittelt draußen in der Ebene der Stadt die Illegalen, die über den Unort der Berge nach Frankreich wollen. Als Cesare seinen Berufsschüler und Freund Fausto erschossen und aufgequollen in einem Gebirgsbach findet, raucht er noch mehr als sonst. Gefahr und Tod sind zwar stets Begleiter, aber auch sie haben ihre Ordnung. Werden sie aktiv, muss eine gravierende Störung eingetreten sein.
Gewiss, die Polizei untersucht. Für ihre Logik gibt es an diesem Außenort jedoch kein Durchkommen. Er ist nur von innen, von Cesare zu verstehen. Seine Ermittlungen haben - fatalen - Erfolg: Er stößt dabei an seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu den äußeren sind sie allerdings unüberwindlich. Aus Freundschaft hatte er den Auftrag Francos zu Ende geführt. Nachts, beim Übergang, an der unwegsamsten Stelle, wird er beschossen. Es gelingt ihm, sich dem Täter zu nähern. Lautlos ersticht er ihn; wortlos, geradezu verabredungsgemäß, nimmt dieser den Tod hin. Es ist sein alter Weggefährte Ettore. Er wollte verhindern, dass Cesare hinter den Mord an Franco kommt. Also kein Berufsverbrechen; verratene Liebe und Ehre, mithin Gängiges der Kriminalunterhaltung, sind der Grund. Doch das wäre höchstens die halbe, die uneigentliche Geschichte, lediglich narrative Logistik für das, was sie eigentlich bewegt. Denn effektiv liegt sie so gar nicht vor; sie wird ungleich mehr vorenthalten als ausgebreitet. Was sie (und ihren Autor) auszeichnet, ist eine entschiedene, fast manieristisch insistierende Kunst des Verschweigens. Sie wirkt vor allem durch das, wie sie etwas nicht sagt, und gleicht darin einem sensiblen Dokumentarfilm (den Longo selbst pflegt), der zeigt, aber sich selbst kaum deutet.
Der erzähltechnische Kunstgriff hat jedoch Methode: Er betreibt geradezu Ethnographie, weil er die Schweigsamkeit des Landes und der Leute zu einem Stilprinzip macht. Aus gutem Grund - es ist eine sterbende Welt. Mit ihr geht eine Sprache verloren, die es versteht, sich jenseits der Worte zu verständigen. Natürlich hat dort oben jeder Gefühle, heftige, archaische; aber sie werden nicht geäußert. Nahezu wortlos dringen die Figuren in den Körper der anderen ein; mit Gedanken, Waffen, sexuell.
Warum auch viel Worte machen? Hier bestimmt die Natur die Syntax des Lebens. Ihre "bellezza" aber, sagt der Autor, "è sempre crudele". Sie ist mithin keineswegs menschenfreundliches Biotop. Respekt vor dem Lebenswillen fordert sie ein, mehr nicht, den Tod eingeschlossen. Und die Bereitschaft, auf ihre stumme Sprache der Fatalität einzugehen, das heißt, auf zerfallende Hütten, dürftige Kost, verwaiste Familien, Einsamkeit, Stille, grundlose Erwartung. Eine dritte Grenze zieht sich durch diese Welt am Rande: oben die wenigen, die es mit der Natur noch aufnehmen; unten die, die glauben, sich ihrer Unerbittlichkeit entziehen zu können.
Cesare, der Grenzgänger, weiß am Ende nicht mehr, wo er hingehört. Er hatte das Syndikat unten verdächtigt und verraten, und wartet nun oben, mit dem Rücken zur Tür, bis sie kommen und ihn auch physisch erledigen. Steine, gibt der (italienische) Titel zu verstehen, lassen sich nicht einfach verzehren - es sei denn, sie werden einem gelungenen Roman in den Mund gelegt.
WINFRIED WEHLE
Davide Longo: "Der Steingänger". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Suse Vetterlein. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 170 S., geb., 17,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Davide Longo sucht das Verbrechen in der schweigsamen Provinz
Grenzen provozieren Grenzerfahrungen. Sie schließen ein; sie schließen aus. Je schärfer ihre Linien gezogen sind, desto größer die Schatten des Trennenden. Ereignishaft wird dadurch der Übergang, in dem sich vielfältige Probleme - mit ebenso vielen Geschichten - spiegeln lassen.
Ein junger Autor, fast noch ein Debütant, sogleich mit Preisen bedacht, Davide Longo (Jahrgang 1971), hat sich diesen narrativen Ort mit einer bemerkenswerten und durchdringenden Schreibweise erschlossen. Oben in den Bergen Piemonts, an der Grenze zu Frankreich, entlädt sich die Konfrontation in einem Mord. Der Kriminalfall als Träger einer Geschichte ist inzwischen beliebt; Beispiele erübrigen sich. Auf die Aufklärung kommt es an; sie gibt Gelegenheit, das Lebensbedrohliche dahinter aufzudecken. Den Vordergrund nehmen zunächst die "passeurs" ein. Sie üben den unehrenwerten Beruf des Schleusers aus. Das Syndikat vermittelt draußen in der Ebene der Stadt die Illegalen, die über den Unort der Berge nach Frankreich wollen. Als Cesare seinen Berufsschüler und Freund Fausto erschossen und aufgequollen in einem Gebirgsbach findet, raucht er noch mehr als sonst. Gefahr und Tod sind zwar stets Begleiter, aber auch sie haben ihre Ordnung. Werden sie aktiv, muss eine gravierende Störung eingetreten sein.
Gewiss, die Polizei untersucht. Für ihre Logik gibt es an diesem Außenort jedoch kein Durchkommen. Er ist nur von innen, von Cesare zu verstehen. Seine Ermittlungen haben - fatalen - Erfolg: Er stößt dabei an seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu den äußeren sind sie allerdings unüberwindlich. Aus Freundschaft hatte er den Auftrag Francos zu Ende geführt. Nachts, beim Übergang, an der unwegsamsten Stelle, wird er beschossen. Es gelingt ihm, sich dem Täter zu nähern. Lautlos ersticht er ihn; wortlos, geradezu verabredungsgemäß, nimmt dieser den Tod hin. Es ist sein alter Weggefährte Ettore. Er wollte verhindern, dass Cesare hinter den Mord an Franco kommt. Also kein Berufsverbrechen; verratene Liebe und Ehre, mithin Gängiges der Kriminalunterhaltung, sind der Grund. Doch das wäre höchstens die halbe, die uneigentliche Geschichte, lediglich narrative Logistik für das, was sie eigentlich bewegt. Denn effektiv liegt sie so gar nicht vor; sie wird ungleich mehr vorenthalten als ausgebreitet. Was sie (und ihren Autor) auszeichnet, ist eine entschiedene, fast manieristisch insistierende Kunst des Verschweigens. Sie wirkt vor allem durch das, wie sie etwas nicht sagt, und gleicht darin einem sensiblen Dokumentarfilm (den Longo selbst pflegt), der zeigt, aber sich selbst kaum deutet.
Der erzähltechnische Kunstgriff hat jedoch Methode: Er betreibt geradezu Ethnographie, weil er die Schweigsamkeit des Landes und der Leute zu einem Stilprinzip macht. Aus gutem Grund - es ist eine sterbende Welt. Mit ihr geht eine Sprache verloren, die es versteht, sich jenseits der Worte zu verständigen. Natürlich hat dort oben jeder Gefühle, heftige, archaische; aber sie werden nicht geäußert. Nahezu wortlos dringen die Figuren in den Körper der anderen ein; mit Gedanken, Waffen, sexuell.
Warum auch viel Worte machen? Hier bestimmt die Natur die Syntax des Lebens. Ihre "bellezza" aber, sagt der Autor, "è sempre crudele". Sie ist mithin keineswegs menschenfreundliches Biotop. Respekt vor dem Lebenswillen fordert sie ein, mehr nicht, den Tod eingeschlossen. Und die Bereitschaft, auf ihre stumme Sprache der Fatalität einzugehen, das heißt, auf zerfallende Hütten, dürftige Kost, verwaiste Familien, Einsamkeit, Stille, grundlose Erwartung. Eine dritte Grenze zieht sich durch diese Welt am Rande: oben die wenigen, die es mit der Natur noch aufnehmen; unten die, die glauben, sich ihrer Unerbittlichkeit entziehen zu können.
Cesare, der Grenzgänger, weiß am Ende nicht mehr, wo er hingehört. Er hatte das Syndikat unten verdächtigt und verraten, und wartet nun oben, mit dem Rücken zur Tür, bis sie kommen und ihn auch physisch erledigen. Steine, gibt der (italienische) Titel zu verstehen, lassen sich nicht einfach verzehren - es sei denn, sie werden einem gelungenen Roman in den Mund gelegt.
WINFRIED WEHLE
Davide Longo: "Der Steingänger". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Suse Vetterlein. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 170 S., geb., 17,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Endlich mal ein Stück relevanter Literatur aus Italien, freut sich Rezensent Franz Haas über einen zudem vortrefflich übersetzten Roman. Davide Longo erzähle von einem fünfzigjährigen Grenzschlepper und Schmuggler Cesare in einem Bergdorf, der seinen Patensohn ins Metier einführt, aber dann tot auffindet. Mit einer "raffinierten" Methode des Verschweigens, so der Rezensent, erzähle der Autor einerseits von Cesares kriminalistischer Recherche nach den Mördern, aber andererseits und eigentlich gehe es weniger um den Kriminalfall als um die Atmosphäre und das "Beziehungsgeflecht" im Bergdorf. Beides beschreibe der Autor "präzise, trocken und ein wenig melancholisch" und erinnere damit an den Neorealismus von Cesare Pavese. Nicht die Mafia, nicht die immer wieder auftauchenden Zigeuner haben den Patensohn umgebracht, bekommt Cesare schließlich heraus, sondern eine ganz banale Geschichte war sein Verhängnis. Mit dem Thema Grenzschlepper, merkt der Rezensent an, behandele Davide Longo en passant auch das hochaktuelle Thema der Flüchtlinge, deren Auftreten in Cesares Bergwelt mit dem bei Longo üblichen "feinen Gehör" für Wörter beschrieben werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Meisterwerk ... und sein Autor, eine große Entdeckung. Brigitte