Ein existentieller und grandioser Roman, mächtig wie die Täler und Berge, in denen er spielt: In den Bergen Piemonts sind die Menschen von einer unsichtbaren Naturgewalt bestimmt. Eine explosive Stille umgibt die Dorfbewohner. Sie hüten ein Geheimnis, doch Cesare, der Steingänger, kommt der Wahrheit gefährlich nahe. In einer dichten, kargen Sprache, mit einzelnen Sätzen schneidend wie Fels, nimmt diese außergewöhnliche Geschichte ihren Lauf. Unabänderlich wie der Zyklus der Jahreszeiten scheint das Schicksal der Menschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2007Die Spur der Steine
Davide Longo sucht das Verbrechen in der schweigsamen Provinz
Grenzen provozieren Grenzerfahrungen. Sie schließen ein; sie schließen aus. Je schärfer ihre Linien gezogen sind, desto größer die Schatten des Trennenden. Ereignishaft wird dadurch der Übergang, in dem sich vielfältige Probleme - mit ebenso vielen Geschichten - spiegeln lassen.
Ein junger Autor, fast noch ein Debütant, sogleich mit Preisen bedacht, Davide Longo (Jahrgang 1971), hat sich diesen narrativen Ort mit einer bemerkenswerten und durchdringenden Schreibweise erschlossen. Oben in den Bergen Piemonts, an der Grenze zu Frankreich, entlädt sich die Konfrontation in einem Mord. Der Kriminalfall als Träger einer Geschichte ist inzwischen beliebt; Beispiele erübrigen sich. Auf die Aufklärung kommt es an; sie gibt Gelegenheit, das Lebensbedrohliche dahinter aufzudecken. Den Vordergrund nehmen zunächst die "passeurs" ein. Sie üben den unehrenwerten Beruf des Schleusers aus. Das Syndikat vermittelt draußen in der Ebene der Stadt die Illegalen, die über den Unort der Berge nach Frankreich wollen. Als Cesare seinen Berufsschüler und Freund Fausto erschossen und aufgequollen in einem Gebirgsbach findet, raucht er noch mehr als sonst. Gefahr und Tod sind zwar stets Begleiter, aber auch sie haben ihre Ordnung. Werden sie aktiv, muss eine gravierende Störung eingetreten sein.
Gewiss, die Polizei untersucht. Für ihre Logik gibt es an diesem Außenort jedoch kein Durchkommen. Er ist nur von innen, von Cesare zu verstehen. Seine Ermittlungen haben - fatalen - Erfolg: Er stößt dabei an seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu den äußeren sind sie allerdings unüberwindlich. Aus Freundschaft hatte er den Auftrag Francos zu Ende geführt. Nachts, beim Übergang, an der unwegsamsten Stelle, wird er beschossen. Es gelingt ihm, sich dem Täter zu nähern. Lautlos ersticht er ihn; wortlos, geradezu verabredungsgemäß, nimmt dieser den Tod hin. Es ist sein alter Weggefährte Ettore. Er wollte verhindern, dass Cesare hinter den Mord an Franco kommt. Also kein Berufsverbrechen; verratene Liebe und Ehre, mithin Gängiges der Kriminalunterhaltung, sind der Grund. Doch das wäre höchstens die halbe, die uneigentliche Geschichte, lediglich narrative Logistik für das, was sie eigentlich bewegt. Denn effektiv liegt sie so gar nicht vor; sie wird ungleich mehr vorenthalten als ausgebreitet. Was sie (und ihren Autor) auszeichnet, ist eine entschiedene, fast manieristisch insistierende Kunst des Verschweigens. Sie wirkt vor allem durch das, wie sie etwas nicht sagt, und gleicht darin einem sensiblen Dokumentarfilm (den Longo selbst pflegt), der zeigt, aber sich selbst kaum deutet.
Der erzähltechnische Kunstgriff hat jedoch Methode: Er betreibt geradezu Ethnographie, weil er die Schweigsamkeit des Landes und der Leute zu einem Stilprinzip macht. Aus gutem Grund - es ist eine sterbende Welt. Mit ihr geht eine Sprache verloren, die es versteht, sich jenseits der Worte zu verständigen. Natürlich hat dort oben jeder Gefühle, heftige, archaische; aber sie werden nicht geäußert. Nahezu wortlos dringen die Figuren in den Körper der anderen ein; mit Gedanken, Waffen, sexuell.
Warum auch viel Worte machen? Hier bestimmt die Natur die Syntax des Lebens. Ihre "bellezza" aber, sagt der Autor, "è sempre crudele". Sie ist mithin keineswegs menschenfreundliches Biotop. Respekt vor dem Lebenswillen fordert sie ein, mehr nicht, den Tod eingeschlossen. Und die Bereitschaft, auf ihre stumme Sprache der Fatalität einzugehen, das heißt, auf zerfallende Hütten, dürftige Kost, verwaiste Familien, Einsamkeit, Stille, grundlose Erwartung. Eine dritte Grenze zieht sich durch diese Welt am Rande: oben die wenigen, die es mit der Natur noch aufnehmen; unten die, die glauben, sich ihrer Unerbittlichkeit entziehen zu können.
Cesare, der Grenzgänger, weiß am Ende nicht mehr, wo er hingehört. Er hatte das Syndikat unten verdächtigt und verraten, und wartet nun oben, mit dem Rücken zur Tür, bis sie kommen und ihn auch physisch erledigen. Steine, gibt der (italienische) Titel zu verstehen, lassen sich nicht einfach verzehren - es sei denn, sie werden einem gelungenen Roman in den Mund gelegt.
WINFRIED WEHLE
Davide Longo: "Der Steingänger". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Suse Vetterlein. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 170 S., geb., 17,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Davide Longo sucht das Verbrechen in der schweigsamen Provinz
Grenzen provozieren Grenzerfahrungen. Sie schließen ein; sie schließen aus. Je schärfer ihre Linien gezogen sind, desto größer die Schatten des Trennenden. Ereignishaft wird dadurch der Übergang, in dem sich vielfältige Probleme - mit ebenso vielen Geschichten - spiegeln lassen.
Ein junger Autor, fast noch ein Debütant, sogleich mit Preisen bedacht, Davide Longo (Jahrgang 1971), hat sich diesen narrativen Ort mit einer bemerkenswerten und durchdringenden Schreibweise erschlossen. Oben in den Bergen Piemonts, an der Grenze zu Frankreich, entlädt sich die Konfrontation in einem Mord. Der Kriminalfall als Träger einer Geschichte ist inzwischen beliebt; Beispiele erübrigen sich. Auf die Aufklärung kommt es an; sie gibt Gelegenheit, das Lebensbedrohliche dahinter aufzudecken. Den Vordergrund nehmen zunächst die "passeurs" ein. Sie üben den unehrenwerten Beruf des Schleusers aus. Das Syndikat vermittelt draußen in der Ebene der Stadt die Illegalen, die über den Unort der Berge nach Frankreich wollen. Als Cesare seinen Berufsschüler und Freund Fausto erschossen und aufgequollen in einem Gebirgsbach findet, raucht er noch mehr als sonst. Gefahr und Tod sind zwar stets Begleiter, aber auch sie haben ihre Ordnung. Werden sie aktiv, muss eine gravierende Störung eingetreten sein.
Gewiss, die Polizei untersucht. Für ihre Logik gibt es an diesem Außenort jedoch kein Durchkommen. Er ist nur von innen, von Cesare zu verstehen. Seine Ermittlungen haben - fatalen - Erfolg: Er stößt dabei an seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz zu den äußeren sind sie allerdings unüberwindlich. Aus Freundschaft hatte er den Auftrag Francos zu Ende geführt. Nachts, beim Übergang, an der unwegsamsten Stelle, wird er beschossen. Es gelingt ihm, sich dem Täter zu nähern. Lautlos ersticht er ihn; wortlos, geradezu verabredungsgemäß, nimmt dieser den Tod hin. Es ist sein alter Weggefährte Ettore. Er wollte verhindern, dass Cesare hinter den Mord an Franco kommt. Also kein Berufsverbrechen; verratene Liebe und Ehre, mithin Gängiges der Kriminalunterhaltung, sind der Grund. Doch das wäre höchstens die halbe, die uneigentliche Geschichte, lediglich narrative Logistik für das, was sie eigentlich bewegt. Denn effektiv liegt sie so gar nicht vor; sie wird ungleich mehr vorenthalten als ausgebreitet. Was sie (und ihren Autor) auszeichnet, ist eine entschiedene, fast manieristisch insistierende Kunst des Verschweigens. Sie wirkt vor allem durch das, wie sie etwas nicht sagt, und gleicht darin einem sensiblen Dokumentarfilm (den Longo selbst pflegt), der zeigt, aber sich selbst kaum deutet.
Der erzähltechnische Kunstgriff hat jedoch Methode: Er betreibt geradezu Ethnographie, weil er die Schweigsamkeit des Landes und der Leute zu einem Stilprinzip macht. Aus gutem Grund - es ist eine sterbende Welt. Mit ihr geht eine Sprache verloren, die es versteht, sich jenseits der Worte zu verständigen. Natürlich hat dort oben jeder Gefühle, heftige, archaische; aber sie werden nicht geäußert. Nahezu wortlos dringen die Figuren in den Körper der anderen ein; mit Gedanken, Waffen, sexuell.
Warum auch viel Worte machen? Hier bestimmt die Natur die Syntax des Lebens. Ihre "bellezza" aber, sagt der Autor, "è sempre crudele". Sie ist mithin keineswegs menschenfreundliches Biotop. Respekt vor dem Lebenswillen fordert sie ein, mehr nicht, den Tod eingeschlossen. Und die Bereitschaft, auf ihre stumme Sprache der Fatalität einzugehen, das heißt, auf zerfallende Hütten, dürftige Kost, verwaiste Familien, Einsamkeit, Stille, grundlose Erwartung. Eine dritte Grenze zieht sich durch diese Welt am Rande: oben die wenigen, die es mit der Natur noch aufnehmen; unten die, die glauben, sich ihrer Unerbittlichkeit entziehen zu können.
Cesare, der Grenzgänger, weiß am Ende nicht mehr, wo er hingehört. Er hatte das Syndikat unten verdächtigt und verraten, und wartet nun oben, mit dem Rücken zur Tür, bis sie kommen und ihn auch physisch erledigen. Steine, gibt der (italienische) Titel zu verstehen, lassen sich nicht einfach verzehren - es sei denn, sie werden einem gelungenen Roman in den Mund gelegt.
WINFRIED WEHLE
Davide Longo: "Der Steingänger". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Suse Vetterlein. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 170 S., geb., 17,50 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.04.2007Die leblosen Augen der Hündin
Aus den piemontesischen Bergen: Davide Longo erzählt in seinem Roman „Der Steingänger” vom Italien der Regionen
Die Wege sind jahrhundertealt, aber nur noch wenige kennen sie. Sie führen an Bergkämmen, Seen und Almen entlang durch dichte Wälder auf ein hochgelegenes Felsplateau, wo der Abstieg in Richtung Frankreich beginnt: geheime Routen in den piemontesischen Alpen, die Schmuggler, Banditen und Schleuser benutzten. Früher wurden Salzkarawanen überfallen, man verschob Waren, lotste während des Krieges Flüchtlinge aus Italien nach Frankreich. Seit einigen Jahren sind es Illegale, die über die Grenze gebracht werden. Damit wollte Cesare nichts mehr zu tun haben. Sein Patenkind Fausto aber hat er noch eingeweiht in die Tücken der Felslandschaft. Doch Fausto setzt zu viel aufs Spiel. Wer gegen die Gesetze der Bergdörfer verstößt, wird unweigerlich bestraft.
Schon in den ersten Zeilen seines Romans „Der Steingänger” erzeugt der Piemontese Davide Longo eine ganz eigene Stimmung und erzwingt eine gespannte Aufmerksamkeit. Man merkt, dass der 1971 in Carmagnola geborene Autor die Welt der Berge von Kindheit an kennt. Sein Gespür für diesen Handlungsraum lagert sich in der Sprache ab. Die Stille der Nacht, das Kreisen eines Mäusebussards, die schroffen Bergketten, die Holunderbüsche, die Witterung oder die stummen Blicke im Gasthaus – all das gewinnt eine bedrängende Gegenwärtigkeit. Schneeflocken fallen wie „Stofffetzen” zu Boden. Mit seinem Ton setzt Davide Longo einen Maßstab, und wundersamer Weise kann er die Erwartungen einlösen. Ein derartig geschlossener Roman, der erst am Ende sein Geheimnis preisgibt, ästhetisch etwas zu bieten hat und durch und durch zeitgenössisch ist, kam schon lange nicht mehr aus Italien.
Es gibt eine ruhige Erzählerstimme, die in knappen Kapiteln die Geschehnisse kommentarlos vor uns ausbreitet, den Blick über die Landschaft schweifen lässt, dann wieder die Figuren abtastet und Gesten festhält. Die erste Szene strahlt etwas Heimeliges aus: Cesare, der Held von „Der Steingänger”, legt eine Stoffserviette auf den Tisch, stellt einen Weinkrug daneben, füllt sich Suppe in den Teller und schaltet das Radio ein.
Paten sterben nicht im Bett
Als er nach dem Essen abwaschen will, kommen nur ein paar Tropfen aus dem Hahn. Wie oft im Herbst muss Treibholz in die Rohre des Flussbettes geraten sein. Der vierschrötige Fünfzigjährige, der früher zur See gefahren ist, danach auf den geheimen Pfaden unterwegs war und sich mittlerweile die Zeit mit der Schnitzerei von Heiligenfiguren vertreibt, macht sich auf den Weg nach Champaneise, eine verlassene Ortschaft oberhalb seines Dorfes, von wo das Trinkwasser ins Tal fließt. Während des Aufstiegs denkt er an seine Frau Adele. Die stetig herab- sinkende Dunkelheit und die Erinnerung an seine verstorbene Frau nehmen das Unheil schon vorweg, das auch Cesares Hündin bald zu wittern scheint. Im ausgebaggerten Flussbecken hinter den zerfallenen grauen Steinhäusern treibt eine aufgedunsene Leiche. Es ist Fausto, Schleuser wie er. Eine Forelle schnappt nach dem nur noch an einem Hautfaden hängenden Ohr.
Immer wieder entwirft Davide Longo Bilder, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. In ihnen steckt etwas Ursprüngliches, etwas, das mit der Landschaft und den ungeschriebenen Regeln dort zu tun hat und das unausgesprochen bleibt, weil ohnehin alle davon wissen. Die Gnadenlosigkeit, mit der ein Vergehen geahndet wird, ist faszinierend und abstoßend zugleich. In welcher Beziehung sein Held zu dem Toten stand, erfahren wir erst nach einigen Kapiteln, denn Longo reproduziert mit seinem Erzählrhythmus das tiefe Schweigen des Dorfes, die stumme Anschuldigung, die Cesare entgegengebracht wird.
Schließlich war er der Pate des Toten, von dem man seit jeher sagte, dass er nicht im Bett sterben werde. Obwohl Cesare im Dorf geboren wurde, ist er ein Außenseiter. Sein Vater war, wie viele Piemontesen, in den fünfziger Jahren nach Marseille emigriert, und Cesare kehrte erst als Erwachsener in seine Heimat zurück. „Den Franzosen” nennen sie ihn. Nach und nach ahnt man, wie spinnennetzartig das Beziehungsgefüge in den Bergen ist. Die bedrohliche Spannung steigert sich, als eine zweite Hauptfigur auftaucht: Sergio, Sohn eines Almbauern, halb Kind, halb Mann. Weil seine Mutter die Familie verließ, gehört auch er nicht richtig dazu. Sergio hatte Fausto am Abend vor seinem Tod beobachtet und führt Cesare zu der Stelle, an der er ihn sah. Inzwischen ermittelt die Polizei, eine Kommissarin nimmt die Sache in die Hand. Dann findet Cesare seine Hündin, die mit durchgeschnittener Kehle von der Decke baumelt. Ihre leblosen Augen liegen unter seinem Kopfkissen.
Etwas Archaisches bestimmt seine Haltung, ein eigenes Verständnis von Ehre und Rechtschaffenheit. Er führt zu Ende, was Fausto nicht mehr tun konnte, schleust in einer nächtlichen Aktion – großartig von Longo als Höhepunkt inszeniert – eine Gruppe illegaler Einwanderer nach Frankreich, zeigt Sergio den Weg in die Freiheit und klärt den Tod seines Patensohnes. Das Packende an dem kantigen Cesare ist seine Fähigkeit, sein Schicksal auf sich zu nehmen. Obwohl Longo weit über neorealistische Erzählmuster hinausgeht, spürt man den Bezug auf die großen Romane von Cesare Pavese: wie er mit einer Gestik der Unmittelbarkeit spielt, das Zyklische des Landlebens vermittelt, die physische Kraft der Männer beschreibt und einen Mord als einen rituellen Akt schildert.
Seine Hauptfiguren erinnern an Paveses Helden Anguilla und Nuto aus „Junger Mond” (1950), auf den Longo auch formal über die knappen Kapitel Bezug nimmt. Mit „Der Steingänger” kommt Davide Longo auf etwas Ureigenes der italienischen Literatur zurück: die Verankerung im Regionalen. Damit reiht er sich ein in eine große Tradition, die im Piemont durch Cesare Pavese und Beppe Fenoglio geprägt ist, und belebt ein Kraftzentrum, das ein Gegengewicht zur globalisierten Trash-Kultur vieler jüngerer italienischer Schriftsteller sein könnte. Denn ihren Reichtum bezieht die italienische Literatur seit jeher aus der Spannung zwischen Hochkultur und regionalen Eigenarten. Wenn es Ressourcen gibt, dann liegen sie hier. Kleinere Schwächen – manchmal setzt Longo poetische Vergleiche zu dicht, nicht jede Verknüpfung leuchtet ein – können diesem Roman nichts anhaben. „Der Steingänger” erzählt beeindruckend eine alte neue Geschichte. MAIKE ALBATH
DAVIDE LONGO: Der Steingänger. Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2007. 170 Seiten, 17, 50 Euro.
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Aus den piemontesischen Bergen: Davide Longo erzählt in seinem Roman „Der Steingänger” vom Italien der Regionen
Die Wege sind jahrhundertealt, aber nur noch wenige kennen sie. Sie führen an Bergkämmen, Seen und Almen entlang durch dichte Wälder auf ein hochgelegenes Felsplateau, wo der Abstieg in Richtung Frankreich beginnt: geheime Routen in den piemontesischen Alpen, die Schmuggler, Banditen und Schleuser benutzten. Früher wurden Salzkarawanen überfallen, man verschob Waren, lotste während des Krieges Flüchtlinge aus Italien nach Frankreich. Seit einigen Jahren sind es Illegale, die über die Grenze gebracht werden. Damit wollte Cesare nichts mehr zu tun haben. Sein Patenkind Fausto aber hat er noch eingeweiht in die Tücken der Felslandschaft. Doch Fausto setzt zu viel aufs Spiel. Wer gegen die Gesetze der Bergdörfer verstößt, wird unweigerlich bestraft.
Schon in den ersten Zeilen seines Romans „Der Steingänger” erzeugt der Piemontese Davide Longo eine ganz eigene Stimmung und erzwingt eine gespannte Aufmerksamkeit. Man merkt, dass der 1971 in Carmagnola geborene Autor die Welt der Berge von Kindheit an kennt. Sein Gespür für diesen Handlungsraum lagert sich in der Sprache ab. Die Stille der Nacht, das Kreisen eines Mäusebussards, die schroffen Bergketten, die Holunderbüsche, die Witterung oder die stummen Blicke im Gasthaus – all das gewinnt eine bedrängende Gegenwärtigkeit. Schneeflocken fallen wie „Stofffetzen” zu Boden. Mit seinem Ton setzt Davide Longo einen Maßstab, und wundersamer Weise kann er die Erwartungen einlösen. Ein derartig geschlossener Roman, der erst am Ende sein Geheimnis preisgibt, ästhetisch etwas zu bieten hat und durch und durch zeitgenössisch ist, kam schon lange nicht mehr aus Italien.
Es gibt eine ruhige Erzählerstimme, die in knappen Kapiteln die Geschehnisse kommentarlos vor uns ausbreitet, den Blick über die Landschaft schweifen lässt, dann wieder die Figuren abtastet und Gesten festhält. Die erste Szene strahlt etwas Heimeliges aus: Cesare, der Held von „Der Steingänger”, legt eine Stoffserviette auf den Tisch, stellt einen Weinkrug daneben, füllt sich Suppe in den Teller und schaltet das Radio ein.
Paten sterben nicht im Bett
Als er nach dem Essen abwaschen will, kommen nur ein paar Tropfen aus dem Hahn. Wie oft im Herbst muss Treibholz in die Rohre des Flussbettes geraten sein. Der vierschrötige Fünfzigjährige, der früher zur See gefahren ist, danach auf den geheimen Pfaden unterwegs war und sich mittlerweile die Zeit mit der Schnitzerei von Heiligenfiguren vertreibt, macht sich auf den Weg nach Champaneise, eine verlassene Ortschaft oberhalb seines Dorfes, von wo das Trinkwasser ins Tal fließt. Während des Aufstiegs denkt er an seine Frau Adele. Die stetig herab- sinkende Dunkelheit und die Erinnerung an seine verstorbene Frau nehmen das Unheil schon vorweg, das auch Cesares Hündin bald zu wittern scheint. Im ausgebaggerten Flussbecken hinter den zerfallenen grauen Steinhäusern treibt eine aufgedunsene Leiche. Es ist Fausto, Schleuser wie er. Eine Forelle schnappt nach dem nur noch an einem Hautfaden hängenden Ohr.
Immer wieder entwirft Davide Longo Bilder, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. In ihnen steckt etwas Ursprüngliches, etwas, das mit der Landschaft und den ungeschriebenen Regeln dort zu tun hat und das unausgesprochen bleibt, weil ohnehin alle davon wissen. Die Gnadenlosigkeit, mit der ein Vergehen geahndet wird, ist faszinierend und abstoßend zugleich. In welcher Beziehung sein Held zu dem Toten stand, erfahren wir erst nach einigen Kapiteln, denn Longo reproduziert mit seinem Erzählrhythmus das tiefe Schweigen des Dorfes, die stumme Anschuldigung, die Cesare entgegengebracht wird.
Schließlich war er der Pate des Toten, von dem man seit jeher sagte, dass er nicht im Bett sterben werde. Obwohl Cesare im Dorf geboren wurde, ist er ein Außenseiter. Sein Vater war, wie viele Piemontesen, in den fünfziger Jahren nach Marseille emigriert, und Cesare kehrte erst als Erwachsener in seine Heimat zurück. „Den Franzosen” nennen sie ihn. Nach und nach ahnt man, wie spinnennetzartig das Beziehungsgefüge in den Bergen ist. Die bedrohliche Spannung steigert sich, als eine zweite Hauptfigur auftaucht: Sergio, Sohn eines Almbauern, halb Kind, halb Mann. Weil seine Mutter die Familie verließ, gehört auch er nicht richtig dazu. Sergio hatte Fausto am Abend vor seinem Tod beobachtet und führt Cesare zu der Stelle, an der er ihn sah. Inzwischen ermittelt die Polizei, eine Kommissarin nimmt die Sache in die Hand. Dann findet Cesare seine Hündin, die mit durchgeschnittener Kehle von der Decke baumelt. Ihre leblosen Augen liegen unter seinem Kopfkissen.
Etwas Archaisches bestimmt seine Haltung, ein eigenes Verständnis von Ehre und Rechtschaffenheit. Er führt zu Ende, was Fausto nicht mehr tun konnte, schleust in einer nächtlichen Aktion – großartig von Longo als Höhepunkt inszeniert – eine Gruppe illegaler Einwanderer nach Frankreich, zeigt Sergio den Weg in die Freiheit und klärt den Tod seines Patensohnes. Das Packende an dem kantigen Cesare ist seine Fähigkeit, sein Schicksal auf sich zu nehmen. Obwohl Longo weit über neorealistische Erzählmuster hinausgeht, spürt man den Bezug auf die großen Romane von Cesare Pavese: wie er mit einer Gestik der Unmittelbarkeit spielt, das Zyklische des Landlebens vermittelt, die physische Kraft der Männer beschreibt und einen Mord als einen rituellen Akt schildert.
Seine Hauptfiguren erinnern an Paveses Helden Anguilla und Nuto aus „Junger Mond” (1950), auf den Longo auch formal über die knappen Kapitel Bezug nimmt. Mit „Der Steingänger” kommt Davide Longo auf etwas Ureigenes der italienischen Literatur zurück: die Verankerung im Regionalen. Damit reiht er sich ein in eine große Tradition, die im Piemont durch Cesare Pavese und Beppe Fenoglio geprägt ist, und belebt ein Kraftzentrum, das ein Gegengewicht zur globalisierten Trash-Kultur vieler jüngerer italienischer Schriftsteller sein könnte. Denn ihren Reichtum bezieht die italienische Literatur seit jeher aus der Spannung zwischen Hochkultur und regionalen Eigenarten. Wenn es Ressourcen gibt, dann liegen sie hier. Kleinere Schwächen – manchmal setzt Longo poetische Vergleiche zu dicht, nicht jede Verknüpfung leuchtet ein – können diesem Roman nichts anhaben. „Der Steingänger” erzählt beeindruckend eine alte neue Geschichte. MAIKE ALBATH
DAVIDE LONGO: Der Steingänger. Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2007. 170 Seiten, 17, 50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Endlich mal ein Stück relevanter Literatur aus Italien, freut sich Rezensent Franz Haas über einen zudem vortrefflich übersetzten Roman. Davide Longo erzähle von einem fünfzigjährigen Grenzschlepper und Schmuggler Cesare in einem Bergdorf, der seinen Patensohn ins Metier einführt, aber dann tot auffindet. Mit einer "raffinierten" Methode des Verschweigens, so der Rezensent, erzähle der Autor einerseits von Cesares kriminalistischer Recherche nach den Mördern, aber andererseits und eigentlich gehe es weniger um den Kriminalfall als um die Atmosphäre und das "Beziehungsgeflecht" im Bergdorf. Beides beschreibe der Autor "präzise, trocken und ein wenig melancholisch" und erinnere damit an den Neorealismus von Cesare Pavese. Nicht die Mafia, nicht die immer wieder auftauchenden Zigeuner haben den Patensohn umgebracht, bekommt Cesare schließlich heraus, sondern eine ganz banale Geschichte war sein Verhängnis. Mit dem Thema Grenzschlepper, merkt der Rezensent an, behandele Davide Longo en passant auch das hochaktuelle Thema der Flüchtlinge, deren Auftreten in Cesares Bergwelt mit dem bei Longo üblichen "feinen Gehör" für Wörter beschrieben werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Meisterwerk ... und sein Autor, eine große Entdeckung. Brigitte