Die letzten Essays des großen Verteidigers der Poesie: witzige, herausfordernde und intelligente Demonstration, wie über Dichtung und Dichter gesprochen werden kann. Neben Brodskys berühmter Nobelpreisrede enthält der Band Texte zur Bedeutung von Dichtung in unserer Zeit und die großen politischen Essays über die Bedingungen des Exils oder über den Doppelagenten Kim Philby. Doch der Kern all seiner Überlegungen bleibt die Sprache der Poesie.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2002Die Gefahr göttlicher Leichtigkeit
Dichten als starke Beschleunigung der Denkprozesse: Über den Lyriker und Essayisten Joseph Brodsky und seine Metaphysik der Versform / Von Maja Turowskaja
Joseph Brodsky, in der Nachkriegs-Sowjetunion als erster Schriftsteller des Landes verwiesen, wurde noch zu Lebzeiten ein Klassiker. Im Unterschied zu vielen anderen Autoren kehrte er jedoch nie ins postsowjetische Rußland zurück. Sei es, weil er wußte, daß es "jenen" Chronotop bereits nicht mehr gab; sei es, weil er sich nicht als Messias empfand; weil auf allen Lorbeerkränzen mittlerweile Staub lag und verspäteter Enthusiasmus ihn abschreckte; oder weil es an den Ort, "wo ich mein Herz begrub" (Puschkin), sowieso keine Rückkehr gibt. Vielleicht genügte ihm, daß seine Bücher ins Gebiet der russischen Sprache zurückkehrten. Um so mehr wucherte die "Brodskologie", als wollte sie dieses "Loch in der Landschaft" ausfüllen. Publikationen, Symposien, Memoiren, Interviews und natürlich auch "Gesammelte Werke" wurden zu einer Art Bußübung, vor allem nach dem Tod des Dichters.
Im Interview sah Brodsky "eine ziemlich niedere Form linguistischer Aktivität". Valentina Poluchina, die (britische) Herausgeberin des "Großen Buchs der Interviews", merkt an, daß das lyrische Ich in den Gedichten "den Autor überragt", hingegen sei das Ich in den Interviews "kleiner als der Autor" oder, um es auf Brodskys eigene Formel zu bringen, "less than one". Die unwillkürliche Publizität, der obligatorische Umgang mit den Medien führt aus Gründen des Selbstschutzes verständlicherweise zu stereotypen Antworten, die den Interviewern nur den Blick auf die eine Seite des Mondes gestatten, während die Launen und Neurosen, die Manien und Phobien den Memoiren und dem Klatsch überlassen bleiben.
Gegenüber der Wahrnehmung als "politischer Aktivist" hat sich Brodsky immer distanziert. Politisierung hatte mit amtlichem Geruch das gesamte sowjetische Leben durchdrungen, und da der Westen als antipodischer Raum erschien, war zu hoffen, dem Dichter würde im Exil endlich zugestanden, daß er sich mit dem, was Gottes ist, befaßt und die Zumutungen dessen, was des Kaisers ist, im vergangenen Leben zurückläßt. In den Medien suchte Brodsky möglichst nicht als Opfer und auch nicht als Kämpfer dazustehen, sondern einfach als Schriftsteller.
In einer bipolaren Welt haben die beiden Seiten jedoch leider die Tendenz, sich gegenseitig zu spiegeln. Der Nobelpreis, der Brodsky 1987 den verdienten Nimbus verlieh, war russischen Schriftstellern schon früher stets dank der Kuppelei der Politik zugefallen: dem Emigranten Bunin, dem in Ungnade gefallenen Pasternak, dem offiziösen Scholochow, dem tatsächlichen politischen Aktivisten Solschenizyn und schließlich Brodsky.
Diese unerwartete Paradoxie schockierte ihn dermaßen, daß er mit Professor Etkind brach, seinem alten Verteidiger, der ein Buch über den Prozeß gegen ihn veröffentlicht hatte, ein für Brodsky höchst ehrenvolles Buch. Die politische Paradoxie hat aber noch eine andere Seite, die sich nur im Vergleich erschließt. Auch Puschkin hatte sich zu seiner Zeit in Verbannung begeben müssen, und nur ein - für die russische Literatur glücklicher - Zufall rettete ihn vor dem Zwangsarbeiterschicksal der Dekabristenfreunde in Sibiriens Bergwerksschächten. Obwohl von allen russischen Schriftstellern der weltliterarisch offenste, war Puschkin kein "Reisekader", von seinem entwürdigend niedrigen Rang unter den Hofchargen ganz zu schweigen. Und da es noch keinen Nobelpreis gab, verspätete sich seine Anerkennung in der Welt um gut anderthalb Jahrhunderte. Unter diesem Aspekt ist Anna Achmatowas berühmte Replik während des Brodsky-Prozesses zu verstehen: "Was für eine Biographie sie dem Rotschopf machen!"
Den vergänglichen Elfenbeinturm, die einzige nicht zu enteignende Immobilie der Dichter, hält die Gesellschaft leider allzuoft für eine Barrikade. Brodsky hat beharrlich, bis zum letzten Atemzug, seine Biographie entheroisiert, er wollte dem traditionellen russischen "Leidensweg" mit allen daraus folgenden westlichen Dividenden keinen Fußbreit von seiner Biographie abtreten, genausowenig jedoch der traditionellen "Nostalgie". Denn der Dichter ist in seiner Sicht unter jeglichen Verhältnissen ein Fremdling. Verbannung und Vertreibung sind die beiden Pole der Entfremdung, über die Brodsky, allen Stereotypen zum Trotz, sich mit Dankbarkeit äußert, zumindest sucht er diese in sich zu erwecken.
Ich spreche nicht als seßhafter Mensch, sondern als Nomade. So kam es eben, daß mir mit zweiunddreißig ein mongolisches Geschick zuteil wurde", bemerkte der Dichter in einem Gespräch von 1988. In konventioneller Sprache nennt sich so etwas normalerweise "Weltbürger", in sowjetischer "Kosmopolit" (als Synonym zu "Volksfeind"). Im übrigen sah Brodsky darin etwas eher Metaphysisches: "In gewissem Sinn gibt es auf dieser Welt mehr Ozean und Leere als mit Details erfüllten Raum." Leben muß man allerdings in diesem Teil des Raums. Doch obwohl Brodsky zu den seltenen Verbannten gehört, die unermüdlich daran erinnern, daß das Schicksal anderer Migranten viel härter ist, und obwohl er für sich selbst die Strategie des größtmöglichen Widerstands gewählt hatte - nämlich so zu tun, als wäre nichts geschehen -, wirkte der Schock der Enthermetisierung auch auf ihn.
Viele seiner Maximen kreisen um diese Spannung zwischen der besonderen Situation des Exilierten und der allgemeinen Conditio des Dichters: "Gedichte schreiben ist schlicht und einfach eine starke Beschleunigung der Denkprozesse." Oder: "Der Dichter ist wie ein Vogel, er wird auf jedem Zweig singen, auf dem er sich niederläßt." Und schließlich: "Mehr oder weniger gehört man dem Leben oder dem Tod, sonst nichts und niemandem."
Obwohl Brodsky schon vor dem Nobelpreis den National Book Critics' Award für seinen englischen Essayband erhalten hatte, äußert er sich über seine Zweisprachigkeit stets prosaisch: Er habe Geld gebraucht, deshalb Aufträge angenommen, sei in Termindruck gewesen. Präzisiert jedoch, Zweisprachigkeit sei die Norm, Puschkin habe auf französisch Briefe geschrieben, er selbst sei kein Nabokov, für Nabokov sei Englisch eine Muttersprache gewesen. Tatsächlich ist Brodskys Biographie selbst in Mosaikform keineswegs banal zu nennen. Er besaß keinerlei Zeugnisse und Diplome außer dem Nobelpreis, dem Preis der MacArthur Foundation, dem Orden der Ehrenlegion und anderen hohen Auszeichnungen. Mit fünfzehn hatte er die Schule verlassen, aber als sich herausstellte, daß man an moderne Literatur in der Sowjetunion nur auf polnisch herankam, eignete er sich Polnisch an. Danach fügte er seinem Russisch, gemäß Niels Bohrs Prinzip der Komplementarität, das Englische hinzu (seine Aussprachefehler hinderten ihn nicht, ein brillanter Essayist zu werden). Daß hinter dieser gewaltigen Bildung und hinter dem eigenwilligen Denken, vom ausgeklügelten poetischen Raffinement gar nicht zu reden, ein Autodidakt steht, kann man sich nur vorstellen, wenn man von der Dimension seiner Begabung ausgeht.
Auf die Frage der Richterin Saweljewa, wer ihn in die Riege der Dichter aufgenommen habe und was ihm das Recht zu dieser Tätigkeit gebe, hatte Brodsky seinerzeit im Gerichtssaal geantwortet: "Ich glaube, das kommt - von Gott." Keine triviale Antwort für einen sowjetischen Burschen, der, von allem anderen abgesehen, des "Schmarotzertums" angeklagt ist. Das Urteil - fünf Jahre Zwangsarbeit - bestätigte es, die Ausweisung bekräftigte es. Ob nun er sich die Sprache der Poesie erwählt oder ob die Sprache ihn erwählt hat (Brodsky hielt den Dichter für ein Werkzeug der Sprache und nicht umgekehrt), ist schwer zu sagen. Brodsky scheint sich, oberflächlich betrachtet, immer treu zu bleiben. Doch auch wenn wie bei den Jahresringen eines Baumes das Ornament gleichbleibt, gibt es Zeichen für Veränderungen. Brodskys innere Schubkraft führt ihn sogar von denen fort, die zu seinem engsten dichterischen Kreis gehört hatten (den "Achmatowa-Waisen"), führt ihn in Einsamkeit (natürlich nicht im Alltagsleben, sondern in der Dichtkunst), in eine metaphysische "Gravitation nach außen", aus der es "keine Rückkehr gibt, egal, auf welchen Knopf man drückt". Denn das Fortgehen bildet das dynamische Stereotyp seiner Dichterpersönlichkeit.
Anschauungsmaterial liefert in dieser Hinsicht, wie sich ein Gespräch mit dem Dichter Jewgeni Rein, den er seinen ersten Lehrer nannte und bei erstbester Gelegenheit zu Besuch einlud (unter dem Vorwand eines Filmvorhabens, das damals, 1988, aber nicht zustande kam), sich unterscheidet von einem weiteren Austausch während der Aufnahmen zu dem 1994 dann zustande gekommenen Film. Sind es zunächst noch gemeinsame Erinnerungen, geht es im zweiten Gespräch um Jambus und Daktylus, um männliche und weibliche Endungen, und plötzlich klafft zwischen den Repliken ein Abgrund. Rein: "Trotzdem, für mich ist in der Lyrik das wichtigste der Drive, während du eher entspannte Verse vorziehst." - "Nicht entspannte, sondern monotone . . . Mir scheint, ein Vers soll auch an das erinnern, was er benutzt, nämlich die Zeit." Das ist bereits eine Stimme aus dem Kosmos.
Als einmal ein Interviewpartner einen Scherz macht, bringt ihn Brodsky zurück auf das "allerwichtigste Gespräch" über die Versprosodie, die seine Ethik und Metaphysik darstellt. Brodskys Dichtung ist sehr früh zu einer "späten" geworden. Am Tag, als er vierzig wurde, schrieb er: "Was sag' ich vom Leben? Es erwies sich als lang." Heutzutage zählt dieses Alter noch zur Jugend, vielleicht zur zweiten Jugend. Allerdings wurde Puschkin nicht einmal achtunddreißig, dennoch gibt es einen "späten Puschkin". Brodsky erwähnt Puschkin seltener als andere Namen, womöglich aufgrund seiner Abneigung gegenüber Gemeinplätzen oder weil Puschkin sozusagen zum Oberdichter "ernannt" worden war. Das Verhältnis war kompliziert; die poetischen Reminiszenzen sind zahlreicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Brodsky sieht in Puschkins "Harmonisierung" des schwergewichtigen Verses seiner Vorgänger, in seinem "dolce stile nuovo" die Gefahr, daß Puschkins "Ausgeglichenheit" später in eine jedermann zugängliche glatte Schreibe ausarten könnte.
Merkwürdigerweise spürte Puschkin selbst, nachdem er das Dornröschen der russischen Sprache wachgeküßt hatte, was für eine Gefahr der Kunst von jener göttlichen Leichtigkeit drohte, die ihm zufällig in den Schoß gefallen war. Darum, und nicht aus Neid, flößt sein Salieri seinem Mozart Gift ein: "Was nützt er uns? Ein Cherubim, so brachte / Er ein paar Lieder aus dem Paradies . . ."
". . . niemals wird dir gelingen, im Gedicht diese Leichtigkeit und zugleich Schwere zu verwirklichen, die Mozart besitzt", sagte eine Angebetete einmal zu Brodsky. In Wirklichkeit verfügte er mit eleganter Virtuosität über jedes Versmaß und jede Form, vom Sonett bis zum Vers libre, und er schweißte alle Sprachebenen zusammen, vom untersten Slang bis zur Bibel. Die scheinbare Leichtigkeit des Reimeschmiedens nach Puschkin macht es jedoch bis zum heutigen Tag erforderlich, daß der Vers sich die Würde der Arbeit zurückerobert. Bei Achmatowa hatte Brodsky würdiges Verhalten gelernt, als seine Patronin erwählte er Zwetajewa ("Ich weiß, daß die Venus von Händen gemacht, / Als Meisterin kenn ich das Handwerk"). Brodsky bindet, ob bewußt oder unbewußt, die "cherubimische" Puschkinsche Leichtigkeit, er flicht die Sprache zu seiner unglaublichen Syntax mit ihrer Fülle von Enjambements, die nicht nur über die Zeilen-, sondern auch die Strophenenden hinausgehen; diese Syntax dauert und reißt wie die Fäden der Zeit.
Während Zwetajewa mit dem Wort gearbeitet hat wie ein Sprengmeister, mit der Sprache gerungen hat wie Jakob mit dem Engel, nimmt Brodsky die Arbeit einer Parze auf sich, die den groben Faden der Zeit spinnt. Deshalb ist das Wort "Monotonie" für ihn kein Antonym zu "Drive", sondern der Kernpunkt, das Allerwichtigste im wichtigsten Gespräch, "das es auf dieser Welt geben kann", nicht nur mit dem Dichterfreund, sondern auch mit sich selbst. Und vielleicht auch mit Puschkin, der, ob Brodsky das will oder nicht, in Reminiszenzen nicht nur die Verse durchzieht, sondern sein ganzes Denken. Als Brodsky tot war, wurde auch er zum "Oberdichter" seiner Zeit.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Maja Turowskaja arbeitet als Journalistin und Theaterkritikerin in Moskau.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dichten als starke Beschleunigung der Denkprozesse: Über den Lyriker und Essayisten Joseph Brodsky und seine Metaphysik der Versform / Von Maja Turowskaja
Joseph Brodsky, in der Nachkriegs-Sowjetunion als erster Schriftsteller des Landes verwiesen, wurde noch zu Lebzeiten ein Klassiker. Im Unterschied zu vielen anderen Autoren kehrte er jedoch nie ins postsowjetische Rußland zurück. Sei es, weil er wußte, daß es "jenen" Chronotop bereits nicht mehr gab; sei es, weil er sich nicht als Messias empfand; weil auf allen Lorbeerkränzen mittlerweile Staub lag und verspäteter Enthusiasmus ihn abschreckte; oder weil es an den Ort, "wo ich mein Herz begrub" (Puschkin), sowieso keine Rückkehr gibt. Vielleicht genügte ihm, daß seine Bücher ins Gebiet der russischen Sprache zurückkehrten. Um so mehr wucherte die "Brodskologie", als wollte sie dieses "Loch in der Landschaft" ausfüllen. Publikationen, Symposien, Memoiren, Interviews und natürlich auch "Gesammelte Werke" wurden zu einer Art Bußübung, vor allem nach dem Tod des Dichters.
Im Interview sah Brodsky "eine ziemlich niedere Form linguistischer Aktivität". Valentina Poluchina, die (britische) Herausgeberin des "Großen Buchs der Interviews", merkt an, daß das lyrische Ich in den Gedichten "den Autor überragt", hingegen sei das Ich in den Interviews "kleiner als der Autor" oder, um es auf Brodskys eigene Formel zu bringen, "less than one". Die unwillkürliche Publizität, der obligatorische Umgang mit den Medien führt aus Gründen des Selbstschutzes verständlicherweise zu stereotypen Antworten, die den Interviewern nur den Blick auf die eine Seite des Mondes gestatten, während die Launen und Neurosen, die Manien und Phobien den Memoiren und dem Klatsch überlassen bleiben.
Gegenüber der Wahrnehmung als "politischer Aktivist" hat sich Brodsky immer distanziert. Politisierung hatte mit amtlichem Geruch das gesamte sowjetische Leben durchdrungen, und da der Westen als antipodischer Raum erschien, war zu hoffen, dem Dichter würde im Exil endlich zugestanden, daß er sich mit dem, was Gottes ist, befaßt und die Zumutungen dessen, was des Kaisers ist, im vergangenen Leben zurückläßt. In den Medien suchte Brodsky möglichst nicht als Opfer und auch nicht als Kämpfer dazustehen, sondern einfach als Schriftsteller.
In einer bipolaren Welt haben die beiden Seiten jedoch leider die Tendenz, sich gegenseitig zu spiegeln. Der Nobelpreis, der Brodsky 1987 den verdienten Nimbus verlieh, war russischen Schriftstellern schon früher stets dank der Kuppelei der Politik zugefallen: dem Emigranten Bunin, dem in Ungnade gefallenen Pasternak, dem offiziösen Scholochow, dem tatsächlichen politischen Aktivisten Solschenizyn und schließlich Brodsky.
Diese unerwartete Paradoxie schockierte ihn dermaßen, daß er mit Professor Etkind brach, seinem alten Verteidiger, der ein Buch über den Prozeß gegen ihn veröffentlicht hatte, ein für Brodsky höchst ehrenvolles Buch. Die politische Paradoxie hat aber noch eine andere Seite, die sich nur im Vergleich erschließt. Auch Puschkin hatte sich zu seiner Zeit in Verbannung begeben müssen, und nur ein - für die russische Literatur glücklicher - Zufall rettete ihn vor dem Zwangsarbeiterschicksal der Dekabristenfreunde in Sibiriens Bergwerksschächten. Obwohl von allen russischen Schriftstellern der weltliterarisch offenste, war Puschkin kein "Reisekader", von seinem entwürdigend niedrigen Rang unter den Hofchargen ganz zu schweigen. Und da es noch keinen Nobelpreis gab, verspätete sich seine Anerkennung in der Welt um gut anderthalb Jahrhunderte. Unter diesem Aspekt ist Anna Achmatowas berühmte Replik während des Brodsky-Prozesses zu verstehen: "Was für eine Biographie sie dem Rotschopf machen!"
Den vergänglichen Elfenbeinturm, die einzige nicht zu enteignende Immobilie der Dichter, hält die Gesellschaft leider allzuoft für eine Barrikade. Brodsky hat beharrlich, bis zum letzten Atemzug, seine Biographie entheroisiert, er wollte dem traditionellen russischen "Leidensweg" mit allen daraus folgenden westlichen Dividenden keinen Fußbreit von seiner Biographie abtreten, genausowenig jedoch der traditionellen "Nostalgie". Denn der Dichter ist in seiner Sicht unter jeglichen Verhältnissen ein Fremdling. Verbannung und Vertreibung sind die beiden Pole der Entfremdung, über die Brodsky, allen Stereotypen zum Trotz, sich mit Dankbarkeit äußert, zumindest sucht er diese in sich zu erwecken.
Ich spreche nicht als seßhafter Mensch, sondern als Nomade. So kam es eben, daß mir mit zweiunddreißig ein mongolisches Geschick zuteil wurde", bemerkte der Dichter in einem Gespräch von 1988. In konventioneller Sprache nennt sich so etwas normalerweise "Weltbürger", in sowjetischer "Kosmopolit" (als Synonym zu "Volksfeind"). Im übrigen sah Brodsky darin etwas eher Metaphysisches: "In gewissem Sinn gibt es auf dieser Welt mehr Ozean und Leere als mit Details erfüllten Raum." Leben muß man allerdings in diesem Teil des Raums. Doch obwohl Brodsky zu den seltenen Verbannten gehört, die unermüdlich daran erinnern, daß das Schicksal anderer Migranten viel härter ist, und obwohl er für sich selbst die Strategie des größtmöglichen Widerstands gewählt hatte - nämlich so zu tun, als wäre nichts geschehen -, wirkte der Schock der Enthermetisierung auch auf ihn.
Viele seiner Maximen kreisen um diese Spannung zwischen der besonderen Situation des Exilierten und der allgemeinen Conditio des Dichters: "Gedichte schreiben ist schlicht und einfach eine starke Beschleunigung der Denkprozesse." Oder: "Der Dichter ist wie ein Vogel, er wird auf jedem Zweig singen, auf dem er sich niederläßt." Und schließlich: "Mehr oder weniger gehört man dem Leben oder dem Tod, sonst nichts und niemandem."
Obwohl Brodsky schon vor dem Nobelpreis den National Book Critics' Award für seinen englischen Essayband erhalten hatte, äußert er sich über seine Zweisprachigkeit stets prosaisch: Er habe Geld gebraucht, deshalb Aufträge angenommen, sei in Termindruck gewesen. Präzisiert jedoch, Zweisprachigkeit sei die Norm, Puschkin habe auf französisch Briefe geschrieben, er selbst sei kein Nabokov, für Nabokov sei Englisch eine Muttersprache gewesen. Tatsächlich ist Brodskys Biographie selbst in Mosaikform keineswegs banal zu nennen. Er besaß keinerlei Zeugnisse und Diplome außer dem Nobelpreis, dem Preis der MacArthur Foundation, dem Orden der Ehrenlegion und anderen hohen Auszeichnungen. Mit fünfzehn hatte er die Schule verlassen, aber als sich herausstellte, daß man an moderne Literatur in der Sowjetunion nur auf polnisch herankam, eignete er sich Polnisch an. Danach fügte er seinem Russisch, gemäß Niels Bohrs Prinzip der Komplementarität, das Englische hinzu (seine Aussprachefehler hinderten ihn nicht, ein brillanter Essayist zu werden). Daß hinter dieser gewaltigen Bildung und hinter dem eigenwilligen Denken, vom ausgeklügelten poetischen Raffinement gar nicht zu reden, ein Autodidakt steht, kann man sich nur vorstellen, wenn man von der Dimension seiner Begabung ausgeht.
Auf die Frage der Richterin Saweljewa, wer ihn in die Riege der Dichter aufgenommen habe und was ihm das Recht zu dieser Tätigkeit gebe, hatte Brodsky seinerzeit im Gerichtssaal geantwortet: "Ich glaube, das kommt - von Gott." Keine triviale Antwort für einen sowjetischen Burschen, der, von allem anderen abgesehen, des "Schmarotzertums" angeklagt ist. Das Urteil - fünf Jahre Zwangsarbeit - bestätigte es, die Ausweisung bekräftigte es. Ob nun er sich die Sprache der Poesie erwählt oder ob die Sprache ihn erwählt hat (Brodsky hielt den Dichter für ein Werkzeug der Sprache und nicht umgekehrt), ist schwer zu sagen. Brodsky scheint sich, oberflächlich betrachtet, immer treu zu bleiben. Doch auch wenn wie bei den Jahresringen eines Baumes das Ornament gleichbleibt, gibt es Zeichen für Veränderungen. Brodskys innere Schubkraft führt ihn sogar von denen fort, die zu seinem engsten dichterischen Kreis gehört hatten (den "Achmatowa-Waisen"), führt ihn in Einsamkeit (natürlich nicht im Alltagsleben, sondern in der Dichtkunst), in eine metaphysische "Gravitation nach außen", aus der es "keine Rückkehr gibt, egal, auf welchen Knopf man drückt". Denn das Fortgehen bildet das dynamische Stereotyp seiner Dichterpersönlichkeit.
Anschauungsmaterial liefert in dieser Hinsicht, wie sich ein Gespräch mit dem Dichter Jewgeni Rein, den er seinen ersten Lehrer nannte und bei erstbester Gelegenheit zu Besuch einlud (unter dem Vorwand eines Filmvorhabens, das damals, 1988, aber nicht zustande kam), sich unterscheidet von einem weiteren Austausch während der Aufnahmen zu dem 1994 dann zustande gekommenen Film. Sind es zunächst noch gemeinsame Erinnerungen, geht es im zweiten Gespräch um Jambus und Daktylus, um männliche und weibliche Endungen, und plötzlich klafft zwischen den Repliken ein Abgrund. Rein: "Trotzdem, für mich ist in der Lyrik das wichtigste der Drive, während du eher entspannte Verse vorziehst." - "Nicht entspannte, sondern monotone . . . Mir scheint, ein Vers soll auch an das erinnern, was er benutzt, nämlich die Zeit." Das ist bereits eine Stimme aus dem Kosmos.
Als einmal ein Interviewpartner einen Scherz macht, bringt ihn Brodsky zurück auf das "allerwichtigste Gespräch" über die Versprosodie, die seine Ethik und Metaphysik darstellt. Brodskys Dichtung ist sehr früh zu einer "späten" geworden. Am Tag, als er vierzig wurde, schrieb er: "Was sag' ich vom Leben? Es erwies sich als lang." Heutzutage zählt dieses Alter noch zur Jugend, vielleicht zur zweiten Jugend. Allerdings wurde Puschkin nicht einmal achtunddreißig, dennoch gibt es einen "späten Puschkin". Brodsky erwähnt Puschkin seltener als andere Namen, womöglich aufgrund seiner Abneigung gegenüber Gemeinplätzen oder weil Puschkin sozusagen zum Oberdichter "ernannt" worden war. Das Verhältnis war kompliziert; die poetischen Reminiszenzen sind zahlreicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Brodsky sieht in Puschkins "Harmonisierung" des schwergewichtigen Verses seiner Vorgänger, in seinem "dolce stile nuovo" die Gefahr, daß Puschkins "Ausgeglichenheit" später in eine jedermann zugängliche glatte Schreibe ausarten könnte.
Merkwürdigerweise spürte Puschkin selbst, nachdem er das Dornröschen der russischen Sprache wachgeküßt hatte, was für eine Gefahr der Kunst von jener göttlichen Leichtigkeit drohte, die ihm zufällig in den Schoß gefallen war. Darum, und nicht aus Neid, flößt sein Salieri seinem Mozart Gift ein: "Was nützt er uns? Ein Cherubim, so brachte / Er ein paar Lieder aus dem Paradies . . ."
". . . niemals wird dir gelingen, im Gedicht diese Leichtigkeit und zugleich Schwere zu verwirklichen, die Mozart besitzt", sagte eine Angebetete einmal zu Brodsky. In Wirklichkeit verfügte er mit eleganter Virtuosität über jedes Versmaß und jede Form, vom Sonett bis zum Vers libre, und er schweißte alle Sprachebenen zusammen, vom untersten Slang bis zur Bibel. Die scheinbare Leichtigkeit des Reimeschmiedens nach Puschkin macht es jedoch bis zum heutigen Tag erforderlich, daß der Vers sich die Würde der Arbeit zurückerobert. Bei Achmatowa hatte Brodsky würdiges Verhalten gelernt, als seine Patronin erwählte er Zwetajewa ("Ich weiß, daß die Venus von Händen gemacht, / Als Meisterin kenn ich das Handwerk"). Brodsky bindet, ob bewußt oder unbewußt, die "cherubimische" Puschkinsche Leichtigkeit, er flicht die Sprache zu seiner unglaublichen Syntax mit ihrer Fülle von Enjambements, die nicht nur über die Zeilen-, sondern auch die Strophenenden hinausgehen; diese Syntax dauert und reißt wie die Fäden der Zeit.
Während Zwetajewa mit dem Wort gearbeitet hat wie ein Sprengmeister, mit der Sprache gerungen hat wie Jakob mit dem Engel, nimmt Brodsky die Arbeit einer Parze auf sich, die den groben Faden der Zeit spinnt. Deshalb ist das Wort "Monotonie" für ihn kein Antonym zu "Drive", sondern der Kernpunkt, das Allerwichtigste im wichtigsten Gespräch, "das es auf dieser Welt geben kann", nicht nur mit dem Dichterfreund, sondern auch mit sich selbst. Und vielleicht auch mit Puschkin, der, ob Brodsky das will oder nicht, in Reminiszenzen nicht nur die Verse durchzieht, sondern sein ganzes Denken. Als Brodsky tot war, wurde auch er zum "Oberdichter" seiner Zeit.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Maja Turowskaja arbeitet als Journalistin und Theaterkritikerin in Moskau.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main