Kaum jemand versteht so viel vom Unterwegssein als Lebensform wie der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Seine fünfzig Stücke kurzer Prosa über das Reisen spielen in den wenig besiedelten Gegenden an der polnisch-ukrainischen Grenze, in der sibirischen Steppe, sie entführen uns bis nach China und in die Mongolei. Ein Buch über entwurzelte Künstler aus der lemkisch-slowakischen Provinz (Andy Warhol und Nikifor aus Krynica), die Arm in Arm über den Broadway schlendern. Impressionen und Meditationen über das Ende der Sesshaftigkeit, eine Liebeserklärung an den unbetretenen, unbeschriebenen Raum, an die mongolische Steppe, die »reinste« Landschaft, wo es nichts gibt außer Himmel und Erde. Ein Brevier für erfahrungshungrige Leser, denen der Gedanke an eine Welt jenseits der eigenen einen Stich ins Herz versetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2016Bei den alten Frauen mit den Kopftüchern
Andrzej Stasiuk, geboren 1960, reist viel und schreibt darüber. Reisereportagen kann man die Texte des polnischen Autors trotzdem nicht nennen, es sind poetische Verdichtungen von Reisemomenten; manche der Stücke nur eine Seite lang: eine Seite Welt-Erfahrung. Einen großen Reiz für deutsche Leser macht die Aura des Exotischen aus: Beskiden, Transbaikalien, Kirgistan, Podolien - allein diese Namen! Doch dass diese Namen so betören, beschämt zugleich - wie wenig der Osten uns noch immer bekannt ist. Stasiuk kann dem Versäumnis abhelfen. Dabei fordern seine Geschichten vom Fernweh einen Hang zur Melancholie und zu wenig besiedelten Gegenden. Vor allem die mongolische Steppe, in der Himmel und Erde spurlos zusammenwachsen, verzaubert ihn. Seine Sprache ist so karg wie die Landschaft, beide in all ihrer Schönheit. Ostalgisch wird er dennoch nicht. All der Schwelgerei über die Tristesse begegnet er mit Humor und schlägt vor, alle Bewohner östlich der Elbe sollten Prozac bekommen. In einem Essay über die Rückkehr des Nomadischen analysiert Stasiuk, dass Sesshaftigkeit wohl nur eine Episode in der Geschichte der Menschheit sei. Denn während in der Generation vor uns viele Menschen den Umkreis ihres Heimatdorfes in ihrem ganzen Leben nie verlassen haben, würden wir heute "unsere Gräber immer seltener an den Orten finden, an denen wir geboren wurden". Stasiuk reist auch gerne in seiner Heimat, und ihm gelingt die Kunst, das Vertraute mit dem Blick des Fremden zu sehen. Wirklich fremd wird es für ihn nur einmal: in Süditalien. Statt Sehenswürdigkeiten abzuhaken, glaubt er, es sei manchmal großartiger, einen ganzen Tag auf dem Marktplatz eines "gottverlassenen Städtchens" zu verbringen, "als alle Museen von Rom und Florenz" anzuschauen. Die Peripherien zieht er den Zentren vor. Denn die glichen einander immer mehr an, mit Hotelketten, Werbung, den gleichen Bankautomaten und Biersorten. Er suche deshalb die Grenzen des Kontinents, "wo alte Frauen mit Kopftüchern sitzen". So offenbart sich Stasiuk auch als Romantiker. Ein kleines, großes Buch.
bär
"Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh" von Andrzej Stasiuk. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 207 Seiten. Gebunden, zehn Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrzej Stasiuk, geboren 1960, reist viel und schreibt darüber. Reisereportagen kann man die Texte des polnischen Autors trotzdem nicht nennen, es sind poetische Verdichtungen von Reisemomenten; manche der Stücke nur eine Seite lang: eine Seite Welt-Erfahrung. Einen großen Reiz für deutsche Leser macht die Aura des Exotischen aus: Beskiden, Transbaikalien, Kirgistan, Podolien - allein diese Namen! Doch dass diese Namen so betören, beschämt zugleich - wie wenig der Osten uns noch immer bekannt ist. Stasiuk kann dem Versäumnis abhelfen. Dabei fordern seine Geschichten vom Fernweh einen Hang zur Melancholie und zu wenig besiedelten Gegenden. Vor allem die mongolische Steppe, in der Himmel und Erde spurlos zusammenwachsen, verzaubert ihn. Seine Sprache ist so karg wie die Landschaft, beide in all ihrer Schönheit. Ostalgisch wird er dennoch nicht. All der Schwelgerei über die Tristesse begegnet er mit Humor und schlägt vor, alle Bewohner östlich der Elbe sollten Prozac bekommen. In einem Essay über die Rückkehr des Nomadischen analysiert Stasiuk, dass Sesshaftigkeit wohl nur eine Episode in der Geschichte der Menschheit sei. Denn während in der Generation vor uns viele Menschen den Umkreis ihres Heimatdorfes in ihrem ganzen Leben nie verlassen haben, würden wir heute "unsere Gräber immer seltener an den Orten finden, an denen wir geboren wurden". Stasiuk reist auch gerne in seiner Heimat, und ihm gelingt die Kunst, das Vertraute mit dem Blick des Fremden zu sehen. Wirklich fremd wird es für ihn nur einmal: in Süditalien. Statt Sehenswürdigkeiten abzuhaken, glaubt er, es sei manchmal großartiger, einen ganzen Tag auf dem Marktplatz eines "gottverlassenen Städtchens" zu verbringen, "als alle Museen von Rom und Florenz" anzuschauen. Die Peripherien zieht er den Zentren vor. Denn die glichen einander immer mehr an, mit Hotelketten, Werbung, den gleichen Bankautomaten und Biersorten. Er suche deshalb die Grenzen des Kontinents, "wo alte Frauen mit Kopftüchern sitzen". So offenbart sich Stasiuk auch als Romantiker. Ein kleines, großes Buch.
bär
"Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh" von Andrzej Stasiuk. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 207 Seiten. Gebunden, zehn Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein kleines, großes Buch.« bär Frankfurter Allgemeine Zeitung 20160225