Nach dem Erscheinen seines zweiten Kindertagebuchs "Die Berlinreise" wurde Hanns-Josef Ortheil häufig gefragt, wie er als Zwölfjähriger ein derart beeindruckendes Buch schreiben konnte. Dieser Frage ist er jetzt in dem Band "Der Stift und das Papier" nachgegangen. Schritt für Schritt wird erzählt, wie er, begleitet und angeleitet von Vater und Mutter, sich das Schreiben beibrachte. Er beschreibt, wie er übte und wie diese Übungen langsam übergingen in kleine Schreibprojekte, die er sich selber ausdachte und verfolgte. Es ist die bewegende Geschichte eines Jungen, der lange Zeit nicht sprach und der einen eigenen Weg zum Sprechen und Schreiben suchen musste. Und es ist bei allen Widerständen, die sich in den Weg stellten, die Geschichte eines Wunderkinds, das früh ein Gefühl für das Erzählen besaß und das über eine Gabe verfügte, die alle anderen überstrahlte: beobachten zu können und das Beobachtete traumwandlerisch in die richtigen Worte zu fassen.
buecher-magazin.deSeine Autobiografie bildet, mehr oder weniger fiktionalisiert, den großen Stoff seines Œuvre: In der Tat blickt Hanns-Josef Ortheil auf eine außergewöhnliche Kindheit zurück. Der 1951 in Köln geborene Schriftsteller, Pianist und Professor für kreatives Schreiben verstummte im Alter von drei Jahren, erst mit sieben lernte er wirklich sprechen. Mit seinem Schweigen passte er sich der Mutter an, die nach dem Tod von vier Söhnen lange Zeit nur per Notizen kommunizierte. Doch die Eltern befreien den Sohn aus seiner Kapsel. Sie ersinnen eine eigene "Schreibschule", fern jedes Bildungskanons. Zur Ferienzeit dient Vaters Jagdhütte als Werkstatt, zur Schulzeit die Wohnung. Der Vater, ein Vermesser, setzt auf Analyse; die Mutter, eine Bibliothekarin, auf Gefühl und Klavierunterricht. Hanns-Josefs Sprachwerdung basiert auf genauem Hinsehen und Hinhören sowie auf kreativer Lektüre (etwa dem Um- und Fortschreiben von Geschichten). Bald entdeckt die Tagespresse "das Kind, das schreibt". Die Textarbeit wird immer komplexer, der Junge spürt "die Magie des Schreibens". Ein riesiges Archiv entsteht. Es bildet den Fundus für Ortheils freimütig und aus kindlicher Perspektive erzählten Roman über die Geburt eines besessenen Literaten - der einmal einen ganz anderen Traum hatte.
© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der nun unter dem Titel "Der Stift und das Papier" erschienene Fortsetzungsroman zu Hanns-Josef Ortheils früherem Buch "Die Erfindung des Lebens" ist wesentlich besser als sein Vorgänger, verspricht Rezensent Burkhard Müller. Denn erfreulicherweise macht der Autor diesmal die autobiografische Prägung der Geschichte deutlich, wodurch das Buch unmittelbarer wirkt, meint der Kritiker. Mit einiger Beklemmung liest er die Geschichte des kleinen Hanns-Josef, der ähnlich wie seine Mutter, die vier Söhne im Krieg verloren hat, das Sprechen verweigert. Zugleich ist der Rezensent fasziniert, wenn er erlebt, wie der Vater das Kind dazu bringt, seine täglichen Erlebnisse aufzuschreiben. Neben den zahlreichen in die Erzählung eingebundenen Originalnotizen des Kindes liest Müller auch nach, wie erdrückend die Liebe der Eltern für den Jungen gewesen sein muss, der sich erst im Alter von elf Jahren ein wenig aus dem elterlichen Kokon befreien kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ortheil taucht für seinen Roman in das Archiv seiner frühesten Texte ein - und gleitet hinüber in die Sprache des Kindes, das er mal war." Tobias Becker / DER SPIEGEL