Deutschland steckt in einer Polykrise, auch die Demokratie
Die Herausforderungen für Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland nehmen zu. Der Blick zurück auf die Gründung der Bundesrepublik und die Krisen der vergangenen 75 Jahre zeigt: Unsere Demokratie ist stabiler, als viele Schwarzseher wahrhaben möchten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt während der stürmischen Krisen der zurückliegenden Jahre - Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie, Ukrainekrieg - hat sich als resilient erwiesen. Und im europäischen Vergleich auffällig: Die radikalen Parteien können in Deutschland noch von der Macht ferngehalten werden. Aber die Anfechtungen sind groß und nur durch entschiedenes politisches Handeln, durch eine Reform des Rechtsstaats, kann Deutschland bleiben, was es ist: Eine freiheitliche Demokratie.
Die Herausforderungen für Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland nehmen zu. Der Blick zurück auf die Gründung der Bundesrepublik und die Krisen der vergangenen 75 Jahre zeigt: Unsere Demokratie ist stabiler, als viele Schwarzseher wahrhaben möchten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt während der stürmischen Krisen der zurückliegenden Jahre - Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie, Ukrainekrieg - hat sich als resilient erwiesen. Und im europäischen Vergleich auffällig: Die radikalen Parteien können in Deutschland noch von der Macht ferngehalten werden. Aber die Anfechtungen sind groß und nur durch entschiedenes politisches Handeln, durch eine Reform des Rechtsstaats, kann Deutschland bleiben, was es ist: Eine freiheitliche Demokratie.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Christina Janssen ist angetan von dem optimistischen Tonfall, den Friedrich Kießling und Christoph Safferling in ihrem Buch über die Demokratie in Deutschland anschlagen. Hoffnung schöpfen die Autoren unter anderem aus der Vergangenheit, erfahren wir, die Anfänge demokratischer Mitbestimmung machen sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus, wie etwa in gewählten Abgeordnetenkammern im Großherzogtum Baden. Auch in Bereichen wie Presse und Rechtsstaatlichkeit wurde früh Pionierarbeit geleistet, was zur Folge hatte, dass die Demokratisierungsbemühungen nach 1945 nicht bei Null anfangen musste, referiert die Rezensentin, die soweit ganz zufrieden scheint. Nur die Gegenwartsdiagnose der Autoren wirkt auf sie zu pauschal. Die Rede etwa von der Stärkung des Vertrauens in Demokratie bleibt unkonkret, lediglich wenn es um Erziehung in Sachen Medienkompetenz geht, werden die Vorschläge handfester, kritisiert sie. Dennoch enthält dieses Buch laut Janssen die wichtigen Botschaften, dass Demokratie erstens auch in Deutschland Tradition hat und zweitens immer wieder neu erkämpft werden muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Die
Stärken
einer
langen
Tradition
Friedrich Kießling und
Christoph Safferling
erinnern daran,
dass die Demokratie
den Deutschen nicht
in den Schoß fiel.
Am Ende ist es doch ein Ermutigungsbuch geworden. Selbstbewusstsein, Entschiedenheit, Mut, solche Worte häufen sich im Schlusskapitel „Ausblicke“, und das ist in einem Buch über Demokratie erst einmal eine gute Nachricht. In den vergangenen Jahren herrschte in solchen Büchern immer Alarm, Demokratie war ohne das Wort Krise nicht mehr zu denken. Dieses Mal geht es um Auswege, verspricht der Untertitel: „Wie die Demokratie nach Deutschland kam und wie wir sie neu beleben müssen.“
Um dies schon einmal zu spoilern: Der Historiker Friedrich Kießling und der Rechtsprofessor Christoph Safferling, längst ein bewährtes Duo, versprechen kein Happy End. Auch sie beschreiben den Zerfall der Öffentlichkeit, die Polarisierung der Gesellschaft, das Misstrauen in die Institutionen – Gründe für das Scheitern der Demokratie findet man dutzendweise. Aber schon im Titel signalisieren sie, wie es funktionieren könnte: Das Buch heißt „Der Streitfall“.
Gestritten wurde über die Demokratie in Deutschland, so lautet ihre erste These, sehr viel länger, als es im allgemeinen Bewusstsein präsent sein mag. „Die Demokratie entstand nicht einfach 1919 mit der Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland oder 1949 unter den Auspizien der West-Alliierten. Demokratien haben vielmehr eine lange Vorgeschichte.“
Dazu gehören die frühen Formen des Parlamentarismus nach 1815, als die Königreiche Bayern und Württemberg sowie das Großherzogtum Baden Abgeordnetenkammern einrichteten. Das waren erste Übungen für das demokratische Selbstbewusstsein. Als 1820 die badische Regierung denjenigen unter ihren Beamten, die Mitglieder der Abgeordnetenversammlung waren, die Teilnahme an der Plenarsitzung untersagte, beharrten andere Parlamentarier auf deren Teilnahme. Schließlich lenkte der Großherzog ein – ein früher parlamentarischer Erfolg.
Die wachsende Stärke der Parlamente lag den Autoren zufolge nicht allein an formalen Kompetenzen, etwa bei der Verabschiedung des Haushaltes. Die Monarchen suchten nach „neuen Legitimationspfeilern“ für ihre Macht und fanden die in den Parlamenten – die freilich zunehmend unbequem wurden. In den Reichstagsprotokollen nach 1900 spiegelt sich eine lebhafte Debattenkultur. „Harsche Kritik an Regierung und Kaiser waren beileibe kein Tabu, am politischen Gegner in den anderen Parteien erst recht nicht.“
Freilich liegt es den Autoren fern, die Demokratisierung Deutschlands als lineare Erfolgsgeschichte zu erzählen. Die Abgeordnetenkammern des frühen 19. Jahrhunderts waren aus heutiger Sicht amputierte Parlamente ohne Kontrollrecht gegenüber der Regierung, und Otto von Bismarck tat im preußischen Verfassungskonflikt alles, damit dies so blieb.
Auch in einer weiteren demokratischen Entwicklungslinie, in der Zivilgesellschaft, ging nicht alles nur nach vorn. Die organisierte Bürgergesellschaft hat ihren Anfang in den Turn-, Gesangs- oder Schützenvereinen. „Die vielen Zusammenschlüsse zeigten ohne Zweifel, wie sich die von ständischen Zwängen zunehmend befreite Gesellschaft jenseits von Staat und Obrigkeit eigenständig organisierte“, schreiben sie. Die deutsche Einigung des 19. Jahrhunderts sei ohne dieses bürgerschaftliche Engagement nicht denkbar.
Allerdings organisierte sich im späten 19. Jahrhundert eben auch die Kolonialbewegung in Vereinen – und deren „Forderung nach einem überseeischen Imperium hatte mit Demokratie nichts zu tun“. Bürgerschaftliche Selbstorganisation kann auch undemokratische Ziele verfolgen, heißt das. In Weimar wurde die Zivilgesellschaft „zum Einfallstor für autoritäre Strömungen und letztendlich den Nationalsozialismus“. Fazit der Autoren: „Auch eine lebendige Zivilgesellschaft kann funktionierende politische Institutionen in der Demokratie nicht ersetzen.“
Zu beobachten waren mithin „negative wie positive demokratische Traditionsstränge“. Beide trugen dazu bei, dass Demokratie im Jahr 1945 kein Neuland war. Und der Kampf um die Demokratie war auch nach 1949 keineswegs zu Ende. Die Aufarbeitung des NS-Unrechts blieb defizitär, der Beamtenapparat integrierte die Staatsdiener der Hitlerdiktatur, und als Feinde der Demokratie galten Kommunisten, nicht alte Naziseilschaften.
Auch das Bundesverfassungsgericht musste sich seinen Platz erstreiten, die Adenauer-Regierung war keineswegs erpicht auf einen starken Kontrolleur in Karlsruhe. Und in den Sechzigerjahren brachte der Generalbundesanwalt den Spiegel-Herausgeber wegen angeblichen Landesverrats hinter Gitter. Nichts passierte von selbst – aber viele Kämpfe wurden am Ende gewonnen. Die Spiegel-Affäre war ein Sieg für die Pressefreiheit.
Gemessen am konzentrierten Blick auf die vorigen Jahrhunderte fällt die Gegenwartsanalyse kursorisch aus. Trotzdem ist das Buch eine kundige Ermutigung zur rechten Zeit. „Diese lange deutsche Demokratiegeschichte ist eine Ressource, die es bei der Suche nach Wegen aus der gegenwärtigen Krise zu nutzen gilt“, das klingt wie ein Mittel gegen Verzagtheit. „Die beste Form der Demokratie ist immer ein Streitfall, und die Stärken von Demokratien liegt darin, wenn es nötig ist, diesen Streit zu führen – und sich auf diese Weise zu erneuern.“
WOLFGANG JANISCH
Nichts passierte von selbst,
aber viele Kämpfe wurden
am Ende gewonnen
Friedrich Kießling,
Christoph Safferling:
Der Streitfall.
Wie die Demokratie
nach Deutschland kam
und wie wir sie neu
beleben müssen.
dtv München, 2024.
272 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stärken
einer
langen
Tradition
Friedrich Kießling und
Christoph Safferling
erinnern daran,
dass die Demokratie
den Deutschen nicht
in den Schoß fiel.
Am Ende ist es doch ein Ermutigungsbuch geworden. Selbstbewusstsein, Entschiedenheit, Mut, solche Worte häufen sich im Schlusskapitel „Ausblicke“, und das ist in einem Buch über Demokratie erst einmal eine gute Nachricht. In den vergangenen Jahren herrschte in solchen Büchern immer Alarm, Demokratie war ohne das Wort Krise nicht mehr zu denken. Dieses Mal geht es um Auswege, verspricht der Untertitel: „Wie die Demokratie nach Deutschland kam und wie wir sie neu beleben müssen.“
Um dies schon einmal zu spoilern: Der Historiker Friedrich Kießling und der Rechtsprofessor Christoph Safferling, längst ein bewährtes Duo, versprechen kein Happy End. Auch sie beschreiben den Zerfall der Öffentlichkeit, die Polarisierung der Gesellschaft, das Misstrauen in die Institutionen – Gründe für das Scheitern der Demokratie findet man dutzendweise. Aber schon im Titel signalisieren sie, wie es funktionieren könnte: Das Buch heißt „Der Streitfall“.
Gestritten wurde über die Demokratie in Deutschland, so lautet ihre erste These, sehr viel länger, als es im allgemeinen Bewusstsein präsent sein mag. „Die Demokratie entstand nicht einfach 1919 mit der Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland oder 1949 unter den Auspizien der West-Alliierten. Demokratien haben vielmehr eine lange Vorgeschichte.“
Dazu gehören die frühen Formen des Parlamentarismus nach 1815, als die Königreiche Bayern und Württemberg sowie das Großherzogtum Baden Abgeordnetenkammern einrichteten. Das waren erste Übungen für das demokratische Selbstbewusstsein. Als 1820 die badische Regierung denjenigen unter ihren Beamten, die Mitglieder der Abgeordnetenversammlung waren, die Teilnahme an der Plenarsitzung untersagte, beharrten andere Parlamentarier auf deren Teilnahme. Schließlich lenkte der Großherzog ein – ein früher parlamentarischer Erfolg.
Die wachsende Stärke der Parlamente lag den Autoren zufolge nicht allein an formalen Kompetenzen, etwa bei der Verabschiedung des Haushaltes. Die Monarchen suchten nach „neuen Legitimationspfeilern“ für ihre Macht und fanden die in den Parlamenten – die freilich zunehmend unbequem wurden. In den Reichstagsprotokollen nach 1900 spiegelt sich eine lebhafte Debattenkultur. „Harsche Kritik an Regierung und Kaiser waren beileibe kein Tabu, am politischen Gegner in den anderen Parteien erst recht nicht.“
Freilich liegt es den Autoren fern, die Demokratisierung Deutschlands als lineare Erfolgsgeschichte zu erzählen. Die Abgeordnetenkammern des frühen 19. Jahrhunderts waren aus heutiger Sicht amputierte Parlamente ohne Kontrollrecht gegenüber der Regierung, und Otto von Bismarck tat im preußischen Verfassungskonflikt alles, damit dies so blieb.
Auch in einer weiteren demokratischen Entwicklungslinie, in der Zivilgesellschaft, ging nicht alles nur nach vorn. Die organisierte Bürgergesellschaft hat ihren Anfang in den Turn-, Gesangs- oder Schützenvereinen. „Die vielen Zusammenschlüsse zeigten ohne Zweifel, wie sich die von ständischen Zwängen zunehmend befreite Gesellschaft jenseits von Staat und Obrigkeit eigenständig organisierte“, schreiben sie. Die deutsche Einigung des 19. Jahrhunderts sei ohne dieses bürgerschaftliche Engagement nicht denkbar.
Allerdings organisierte sich im späten 19. Jahrhundert eben auch die Kolonialbewegung in Vereinen – und deren „Forderung nach einem überseeischen Imperium hatte mit Demokratie nichts zu tun“. Bürgerschaftliche Selbstorganisation kann auch undemokratische Ziele verfolgen, heißt das. In Weimar wurde die Zivilgesellschaft „zum Einfallstor für autoritäre Strömungen und letztendlich den Nationalsozialismus“. Fazit der Autoren: „Auch eine lebendige Zivilgesellschaft kann funktionierende politische Institutionen in der Demokratie nicht ersetzen.“
Zu beobachten waren mithin „negative wie positive demokratische Traditionsstränge“. Beide trugen dazu bei, dass Demokratie im Jahr 1945 kein Neuland war. Und der Kampf um die Demokratie war auch nach 1949 keineswegs zu Ende. Die Aufarbeitung des NS-Unrechts blieb defizitär, der Beamtenapparat integrierte die Staatsdiener der Hitlerdiktatur, und als Feinde der Demokratie galten Kommunisten, nicht alte Naziseilschaften.
Auch das Bundesverfassungsgericht musste sich seinen Platz erstreiten, die Adenauer-Regierung war keineswegs erpicht auf einen starken Kontrolleur in Karlsruhe. Und in den Sechzigerjahren brachte der Generalbundesanwalt den Spiegel-Herausgeber wegen angeblichen Landesverrats hinter Gitter. Nichts passierte von selbst – aber viele Kämpfe wurden am Ende gewonnen. Die Spiegel-Affäre war ein Sieg für die Pressefreiheit.
Gemessen am konzentrierten Blick auf die vorigen Jahrhunderte fällt die Gegenwartsanalyse kursorisch aus. Trotzdem ist das Buch eine kundige Ermutigung zur rechten Zeit. „Diese lange deutsche Demokratiegeschichte ist eine Ressource, die es bei der Suche nach Wegen aus der gegenwärtigen Krise zu nutzen gilt“, das klingt wie ein Mittel gegen Verzagtheit. „Die beste Form der Demokratie ist immer ein Streitfall, und die Stärken von Demokratien liegt darin, wenn es nötig ist, diesen Streit zu führen – und sich auf diese Weise zu erneuern.“
WOLFGANG JANISCH
Nichts passierte von selbst,
aber viele Kämpfe wurden
am Ende gewonnen
Friedrich Kießling,
Christoph Safferling:
Der Streitfall.
Wie die Demokratie
nach Deutschland kam
und wie wir sie neu
beleben müssen.
dtv München, 2024.
272 Seiten, 25 Euro.
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Die Quintessenz: Demokratien fallen nicht vom Himmel. Der Streitfall ist der Normalfall. Und dieser Streit muss mutig ausgetragen werden. Christina Janssen Deutschlandfunk, Andruck 20240429