Produktdetails
- Verlag: Middelhauve Verlag
- ISBN-13: 9783742134677
- ISBN-10: 3742134671
- Artikelnr.: 24561818
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2009Im Feuer steht das ganze Kind
Vor zweihundert Jahren geboren: Heinrich Hoffmann, der Erfinder des „Struwwelpeter”
Tränen gehören zum Lachen wie zum Weinen. Im Verein „Tutti Frutti”, in dem seit Oktober 1840 Frankfurter Künstler, Gelehrte und Schriftsteller an launigen Abenden zusammentrafen, die sie „Bäder im Ganges” nannten, legte der Arzt Heinrich Hoffmann, geboren am 13. Juni 1809 in der „Sauallee”, ausgebildet in Heidelberg, Halle und Paris, wie jedes anderes Mitglied seinen (Doktor)-Titel ab und trug den Namen einer Frucht. Er hieß „Zwiebel”. Das war ein entschlossenes Bekenntnis zum Humor.
In der Berliner Staatsbibliothek, die den Autor des „Struwwelpeter” an diesem Wochenende mit einer Foyer-Ausstellung ehrt, liegt Hoffmanns „Allerseelen-Büchlein. Eine humoristische Friedhofs-Anthologie” (1858). Aus dem feucht-fröhlichen Element der bürgerlichen deutschen Geselligkeit mit ihren allgegenwärtigen Reimereien und Gelegenheitsgedichten ist der „Struwwelpeter” ebenso herausgewachsen wie aus der Berufserfahrung des Arztes, der die schreienden Kinder, für die er ein Schreckensmann war, zu beruhigen suchte, indem er vor ihren Augen zur Ablenkung Geschichten von Kindern auf ein Blatt zeichnete.
Irgendwann, als der „Struwwelpeter” eine internationale Berühmtheit geworden war und zahllose Parodien, Verwandlungen und Anti-Struwwelpeter nach sich gezogen hatte, kam die Legende auf, der Arzt Heinrich Hoffmann habe die Pädagogik seiner Zeit in Verse und Bilder gefasst. Aber man darf ihm schon glauben, was er 1871 in der „Gartenlaube” erzählte: dass der „Struwwelpeter”, in der Urfassung ein Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl, aus dem Unbehagen an der zeitgenössischen Kinderliteratur hervorging. Die war dem Humoristen Hoffmann schlicht zu trocken.
Darum radikalisierte er ein Genre, das es lange schon gab. In der Berliner Staatsbibliothek z. B. steht das illustrierte Buch eines gewissen Johann Baptist Strobel: „Unglücksgeschichten zur Warnung für die unerfahrene Jugend. In rührenden Beispielen, erläuternden Kupfern und Vignetten” (1790). In den Warngeschichten, die Kindern zur Abschreckung von Ungehorsam und Unfug verabreicht werden, damit sie brav bleiben oder werden, steckt ein ungemein produktives Element von Unverfügbarkeit: sie leben davon, dass sie das nicht-brave Kind ausphantasieren, in Wort und Bild.
Dieses nicht-brave Kind kann die Zwecke, für die es erfunden wurde, hinter sich lassen wie der fliegende Robert das sturmdurchsauste Feld. Der „Struwwelpeter” verdankt seine unerhörte Wirkung der traumwandlerischen Sicherheit, mit der Heinrich Hoffmann dieses Zugleich von Abschreckung und Faszination in Verse gefasst und illustriert hat. Darum ist die nach der Druckfassung von 1859 erstellte Ausgabe, die der Schweizer Germanist Peter von Matt zum Gedenkjahr beigesteuert hat, hochwillkommen. Denn von Matt konzentriert sich in seinem so knappen wie gedankenreichen Nachwort ganz auf den Struwwelpeter als „Ikone des ungezähmten Kindes”, auf das herausfordernde Selbstbewusstsein, mit dem das Wesen mit den langen Fingernägeln und unbändigen Haaren auf seinem Sockel steht, von dem zweimaligen „Pfui!” der Sockelaufschrift nur notdürftig zur Ordnung gerufen.
Über den Helden der ersten Geschichte, den bösen Friedrich, schreibt von Matt: „Wohl landet der böse Friedrich im Krankenbett, wo der Arzt ihm lächelnd „bittere Arznei” gibt und der Hund daneben die „gute Leberwurst” frisst. Aber was ist das schon gegen das Eingangsbild dieser Geschichte, den triumphalen Aufständischen, der, wiederum erhöht, den zerschmetterten Stuhl schwingt, umgeben von seinen Opfern?” Natürlich kann von Matt nicht „beweisen”, dass er eine faktische Anregung heraufruft, wenn ihm dazu Eugêne Delacroix’ Revolutionsbild „La liberté guidant le peuple” einfällt. Aber er trifft damit das Hinauswachsen des poetisch und zeichnerisch dilettierenden Arztes Heinrich Hoffmann über sich selbst, auch über jenen „Peter Struwwel, Demagog”, als der er 1848 sein „Handbüchlein für Wühler oder kurzgefaßte Anleitung, in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden”, publizierte.
Zu diesem Hinauswachsen über das Wachbewusstein seines Autor gehört die elementare Wucht des „Struwwelpeter”. Sie ist elementar im Wortsinn, mit den Elementen im Bunde: das Feuer verbrennt Paulinchen mit Haut und Haar, das Wasser droht den Hans-Guck-in-die-Luft zu verschlingen, das grüne Gras der Erde wird zur Bühne für den vom Hasen gejagten Jäger, die brausende Luft entführt den fliegenden Robert.
Man muss nicht lesen können, um den „Struwwelpeter” in sich aufzunehmen. Er war seit je ein Vorlesebuch, Eltern lasen und lesen ihn den Kindern im Vorschulalter vor. Das begünstigt die Wirkung der Bilder, ihr unabhängig vom Text geführtes Eigenleben, die Spannung zwischen der Abschreckungslogik der erzählten Geschichten und dem gruseligen Wunschpotential, das sie enthalten. So nährte dieses mit Ordnungssinn und Rebellionsgeist zugleich vollgesogene Kinderbuch des 19. Jahrhunderts die Literatur des 20. Jahrhunderts.
Man lese nur, wie Peter Weiss in „Abschied von den Eltern” (1961) erzählt, wie ihm der „Struwwelpeter” die Rachefantasien seiner Kindheit lieferte, wie er die Geschichte von Suppenkaspar als Anleitung zum Hungerstreik und „Wunschbild des Sterbens” auffasste: „süß war die Rache, in der ich selbst mit drauf ging.” Oder man lese, wie der fliegende Robert bei Hans Magnus Enzensberger zum Schirmherrn der Unverlässlichkeit und des Sich-Entziehens wird und der „Furie des Verschwindens” (1980) an die Seite tritt. Der „Struwwelpeter” war sein eigener „Anti-Struwwelpeter” schon lange, bevor Bücher unter diesem Titel erschienen. LOTHAR MÜLLER
HEINRICH HOFFMANN: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Nach der Druckfassung von 1859 unter Berücksichtigung der Handschriften herausgegeben von Peter von Matt. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009. 78 Seiten, 3,60 Euro.
Der fliegende Robert, das brennende Paulinchen samt weinenden Katzen, der Suppenkaspar und der Niklas mit dem Tintenfass entstammen der besprochenen Ausgabe des Reclam-Verlages; die Abbildung des Struwwelpeter selbst nach der zweiten Auflage 1846 stammt aus der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin.
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Vor zweihundert Jahren geboren: Heinrich Hoffmann, der Erfinder des „Struwwelpeter”
Tränen gehören zum Lachen wie zum Weinen. Im Verein „Tutti Frutti”, in dem seit Oktober 1840 Frankfurter Künstler, Gelehrte und Schriftsteller an launigen Abenden zusammentrafen, die sie „Bäder im Ganges” nannten, legte der Arzt Heinrich Hoffmann, geboren am 13. Juni 1809 in der „Sauallee”, ausgebildet in Heidelberg, Halle und Paris, wie jedes anderes Mitglied seinen (Doktor)-Titel ab und trug den Namen einer Frucht. Er hieß „Zwiebel”. Das war ein entschlossenes Bekenntnis zum Humor.
In der Berliner Staatsbibliothek, die den Autor des „Struwwelpeter” an diesem Wochenende mit einer Foyer-Ausstellung ehrt, liegt Hoffmanns „Allerseelen-Büchlein. Eine humoristische Friedhofs-Anthologie” (1858). Aus dem feucht-fröhlichen Element der bürgerlichen deutschen Geselligkeit mit ihren allgegenwärtigen Reimereien und Gelegenheitsgedichten ist der „Struwwelpeter” ebenso herausgewachsen wie aus der Berufserfahrung des Arztes, der die schreienden Kinder, für die er ein Schreckensmann war, zu beruhigen suchte, indem er vor ihren Augen zur Ablenkung Geschichten von Kindern auf ein Blatt zeichnete.
Irgendwann, als der „Struwwelpeter” eine internationale Berühmtheit geworden war und zahllose Parodien, Verwandlungen und Anti-Struwwelpeter nach sich gezogen hatte, kam die Legende auf, der Arzt Heinrich Hoffmann habe die Pädagogik seiner Zeit in Verse und Bilder gefasst. Aber man darf ihm schon glauben, was er 1871 in der „Gartenlaube” erzählte: dass der „Struwwelpeter”, in der Urfassung ein Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl, aus dem Unbehagen an der zeitgenössischen Kinderliteratur hervorging. Die war dem Humoristen Hoffmann schlicht zu trocken.
Darum radikalisierte er ein Genre, das es lange schon gab. In der Berliner Staatsbibliothek z. B. steht das illustrierte Buch eines gewissen Johann Baptist Strobel: „Unglücksgeschichten zur Warnung für die unerfahrene Jugend. In rührenden Beispielen, erläuternden Kupfern und Vignetten” (1790). In den Warngeschichten, die Kindern zur Abschreckung von Ungehorsam und Unfug verabreicht werden, damit sie brav bleiben oder werden, steckt ein ungemein produktives Element von Unverfügbarkeit: sie leben davon, dass sie das nicht-brave Kind ausphantasieren, in Wort und Bild.
Dieses nicht-brave Kind kann die Zwecke, für die es erfunden wurde, hinter sich lassen wie der fliegende Robert das sturmdurchsauste Feld. Der „Struwwelpeter” verdankt seine unerhörte Wirkung der traumwandlerischen Sicherheit, mit der Heinrich Hoffmann dieses Zugleich von Abschreckung und Faszination in Verse gefasst und illustriert hat. Darum ist die nach der Druckfassung von 1859 erstellte Ausgabe, die der Schweizer Germanist Peter von Matt zum Gedenkjahr beigesteuert hat, hochwillkommen. Denn von Matt konzentriert sich in seinem so knappen wie gedankenreichen Nachwort ganz auf den Struwwelpeter als „Ikone des ungezähmten Kindes”, auf das herausfordernde Selbstbewusstsein, mit dem das Wesen mit den langen Fingernägeln und unbändigen Haaren auf seinem Sockel steht, von dem zweimaligen „Pfui!” der Sockelaufschrift nur notdürftig zur Ordnung gerufen.
Über den Helden der ersten Geschichte, den bösen Friedrich, schreibt von Matt: „Wohl landet der böse Friedrich im Krankenbett, wo der Arzt ihm lächelnd „bittere Arznei” gibt und der Hund daneben die „gute Leberwurst” frisst. Aber was ist das schon gegen das Eingangsbild dieser Geschichte, den triumphalen Aufständischen, der, wiederum erhöht, den zerschmetterten Stuhl schwingt, umgeben von seinen Opfern?” Natürlich kann von Matt nicht „beweisen”, dass er eine faktische Anregung heraufruft, wenn ihm dazu Eugêne Delacroix’ Revolutionsbild „La liberté guidant le peuple” einfällt. Aber er trifft damit das Hinauswachsen des poetisch und zeichnerisch dilettierenden Arztes Heinrich Hoffmann über sich selbst, auch über jenen „Peter Struwwel, Demagog”, als der er 1848 sein „Handbüchlein für Wühler oder kurzgefaßte Anleitung, in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden”, publizierte.
Zu diesem Hinauswachsen über das Wachbewusstein seines Autor gehört die elementare Wucht des „Struwwelpeter”. Sie ist elementar im Wortsinn, mit den Elementen im Bunde: das Feuer verbrennt Paulinchen mit Haut und Haar, das Wasser droht den Hans-Guck-in-die-Luft zu verschlingen, das grüne Gras der Erde wird zur Bühne für den vom Hasen gejagten Jäger, die brausende Luft entführt den fliegenden Robert.
Man muss nicht lesen können, um den „Struwwelpeter” in sich aufzunehmen. Er war seit je ein Vorlesebuch, Eltern lasen und lesen ihn den Kindern im Vorschulalter vor. Das begünstigt die Wirkung der Bilder, ihr unabhängig vom Text geführtes Eigenleben, die Spannung zwischen der Abschreckungslogik der erzählten Geschichten und dem gruseligen Wunschpotential, das sie enthalten. So nährte dieses mit Ordnungssinn und Rebellionsgeist zugleich vollgesogene Kinderbuch des 19. Jahrhunderts die Literatur des 20. Jahrhunderts.
Man lese nur, wie Peter Weiss in „Abschied von den Eltern” (1961) erzählt, wie ihm der „Struwwelpeter” die Rachefantasien seiner Kindheit lieferte, wie er die Geschichte von Suppenkaspar als Anleitung zum Hungerstreik und „Wunschbild des Sterbens” auffasste: „süß war die Rache, in der ich selbst mit drauf ging.” Oder man lese, wie der fliegende Robert bei Hans Magnus Enzensberger zum Schirmherrn der Unverlässlichkeit und des Sich-Entziehens wird und der „Furie des Verschwindens” (1980) an die Seite tritt. Der „Struwwelpeter” war sein eigener „Anti-Struwwelpeter” schon lange, bevor Bücher unter diesem Titel erschienen. LOTHAR MÜLLER
HEINRICH HOFFMANN: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Nach der Druckfassung von 1859 unter Berücksichtigung der Handschriften herausgegeben von Peter von Matt. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009. 78 Seiten, 3,60 Euro.
Der fliegende Robert, das brennende Paulinchen samt weinenden Katzen, der Suppenkaspar und der Niklas mit dem Tintenfass entstammen der besprochenen Ausgabe des Reclam-Verlages; die Abbildung des Struwwelpeter selbst nach der zweiten Auflage 1846 stammt aus der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin.
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