In einem Jahrhundertsturm vor der kanadischen Küste verschwand im Herbst 1991 der Fischtrawler Andrea Gail mit sechs Mann Besatzung spurlos. Sebastian Junger rekonstruiert in seinem einzigartigen Bericht das Leben und Sterben der Fischer.
Dieses Buch diente als Vorlage für den Kinoblockbuster von Wolfgang Petersen.
Dieses Buch diente als Vorlage für den Kinoblockbuster von Wolfgang Petersen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.1998Siebzig Fuß Stahlgezitter
Sebastian Junger folgt dem nassen Untergang
Tritt an der deutschen Nordseeküste das Meer gegen das Land an, ist die Begegnung, eine günstige Spielzeit vorausgesetzt, ein Publikumsrenner: Bei Sturmfluten werden die Deiche zu Tribünen, auf denen die Landbewohner verfolgen, wie die Heimmannschaft den Angriffen des Gegners trotzt. Sie vertrauen darauf, daß ihr Team gewinnen und sich das Meer ermattet zurückziehen wird.
Bei dem Sturm, der Ende Oktober 1991 die amerikanisch-kanadische Ostküste erreichte, war diese Schlachtenbummelei selbstmörderisch, aber auch der Aufenthalt im Haus nur sicher, solange das Haus selbst nicht ins Meer gefegt wurde. Als der Sturm sich ankündigte, hieß es im meteorologischen Bulletin: "Vor Bermuda hat sich ein Hurrikan gebildet, eine Kaltfront zieht vom kanadischen Festlandsockel herunter, und über den Great Lakes braut sich ein Sturm zusammen. All diese Wetterfronten bewegen sich auf die Great Banks zu." Nachdem Billy Tynes, Kapitän der Andrea Gail, die Nachricht gelesen hatte, telefonierte er seiner Kapitänskollegin Linda Greenlaw: "Sieht aus, als ob es dick kommt." Meteorologen bezeichneten das Geschehen im Rückblick als "Perfect Storm". In diesem Begriff steckt das Eingeständnis, daß der wirkliche Sturmverlauf die theoretisch errechneten Szenarien für schwerste Stürme weit übertraf. "Perfect Storm" ist das Äquivalent zum "Super-GAU" der Atomunfalltheoretiker.
Dieser Herbststurm veränderte nicht nur den Horizont der Wetter- und Meeresforscher, sondern noch mehr die Menschen, die ihm ausgesetzt waren; ein Offizier eines Containerschiffes etwa quittierte danach den Dienst und betrat nie mehr eine Schiffsplanke. Sebastian Junger erzählt in "Der Sturm" von solchen Menschen, und das entlang der Tatsachen.
Im Mittelpunkt steht das Schicksal der Andrea Gail und ihrer sechsköpfigen Besatzung. Das Schiff lief am 20. September 1991 vom Fischerort Gloucester in Neuengland, dem damaligen Wohnort Jungers, zum Schwertfischfang in Richtung Great Banks aus. Nur aus Indizien läßt sich schließen, daß es wohl in der Nacht zum 29. Oktober gesunken ist. Es gab keinen Notruf von der Andrea Gail, von Schiff und Besatzung fehlt bis heute jede Spur, nur Kunststoffässer und die Seenotrufbake wurden im November 1991 gefunden.
Ein Jahr vorher war dem Schiff vom Chef der "Marine Safety Consultants" attestiert worden: "Das Fahrzeug ist für seinen Zweck gut geeignet." Aber das besagt nichts bei einem Sturm dieser Dimension, denn "übertrifft die Länge einer brechenden Welle die Schiffslänge, geht das Schiff ,über Kopf'". Wellen von mehr als einhundert Fuß Höhe waren keine Seltenheit, die Andrea Gail maß nur siebzig Fuß. Junger fragt sich: "Wie verhalten sich Männer auf einem sinkenden Schiff? Klammern sie sich aneinander? Lassen sie die Whiskeyflasche herumgehen? Weinen sie?" Da er das nicht wissen kann, liefert er auch keine Version der letzten fünf Minuten an Bord, sondern berichtet, wie die sechs Männer auf das Schiff kamen, warum zwei, die anmustern wollten, im letzten Augenblick zurücktraten und deshalb überlebten und wie die Angehörigen und Freunde der Besatzungsmitglieder auf die Nachricht vom Verschwinden der Andrea Gail reagierten.
Junger beschreibt das alles ohne Sentimentalität, aber mit Empathie für die Personen, und das gilt auch für den zweiten Erzählstrang, den Rettungsflug eines Hubschraubers der National Coast Guard, der einem Segler gilt und selber auf dem Wasser notlanden muß, weil der notwendige Auftankvorgang in der Luft wegen des sintflutartigen Sturmregens scheitert. Bei diesen Konfrontationen von technisch hochgerüsteten Menschen mit Natur erklärt Junger, wie Stürme entstehen und Wellen sich aufbauen, welche Aquadynamik sich an Untiefen entfaltet. Wissenschaftliche Kleinfeatures unterbrechen die Erzählstränge über menschliche Tragödien und schaffen "Suspense". Das mag ein Kunstgriff sein, erscheint aber nicht so, weil diese Erklärungen dort auftauchen, wo sie am Platz sind, wo der Leser, jedenfalls der nichtmaritime, fragt, wie es dazu kommt.
Jungers Buch hat keine Gattungsbezeichnung, angemessen ist "Literarische Reportage". Eine Reportage, bei der der Autor im Hintergrund bleibt und packend Geschichten aus dem wirklichen Leben auf und über See berichtet. Auch über merkwürdigen Pointen der Zivilisation: Wäre 1978 die tolerierbare Menge für den Quecksilbergehalt in Schwertfischen nicht heraufgesetzt worden, die Andrea Gail wäre nicht ausgelaufen; und würden die großen Schiffe ihre Öltanks, wie vor nicht langer Zeit, auf See spülen, der Wind hätte es schwerer gehabt, große brechende Wellen zu erzeugen, weil das Öl auf dem Wasser, anders wirkt als Öl, das ins Feuer gegossen wird. Das sind zwei von vielen philosophischen Aspekten. Nicht zuletzt sie heben Jungers Buch positiv vom herkömmlichen Seefahrtsdrama ab. BURKHARD SCHERER
Sebastian Junger: "Der Sturm". Die letzte Fahrt der Andrea Gail. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eckhard Kiehl. Diana Verlag, München, Zürich 1998. 320 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sebastian Junger folgt dem nassen Untergang
Tritt an der deutschen Nordseeküste das Meer gegen das Land an, ist die Begegnung, eine günstige Spielzeit vorausgesetzt, ein Publikumsrenner: Bei Sturmfluten werden die Deiche zu Tribünen, auf denen die Landbewohner verfolgen, wie die Heimmannschaft den Angriffen des Gegners trotzt. Sie vertrauen darauf, daß ihr Team gewinnen und sich das Meer ermattet zurückziehen wird.
Bei dem Sturm, der Ende Oktober 1991 die amerikanisch-kanadische Ostküste erreichte, war diese Schlachtenbummelei selbstmörderisch, aber auch der Aufenthalt im Haus nur sicher, solange das Haus selbst nicht ins Meer gefegt wurde. Als der Sturm sich ankündigte, hieß es im meteorologischen Bulletin: "Vor Bermuda hat sich ein Hurrikan gebildet, eine Kaltfront zieht vom kanadischen Festlandsockel herunter, und über den Great Lakes braut sich ein Sturm zusammen. All diese Wetterfronten bewegen sich auf die Great Banks zu." Nachdem Billy Tynes, Kapitän der Andrea Gail, die Nachricht gelesen hatte, telefonierte er seiner Kapitänskollegin Linda Greenlaw: "Sieht aus, als ob es dick kommt." Meteorologen bezeichneten das Geschehen im Rückblick als "Perfect Storm". In diesem Begriff steckt das Eingeständnis, daß der wirkliche Sturmverlauf die theoretisch errechneten Szenarien für schwerste Stürme weit übertraf. "Perfect Storm" ist das Äquivalent zum "Super-GAU" der Atomunfalltheoretiker.
Dieser Herbststurm veränderte nicht nur den Horizont der Wetter- und Meeresforscher, sondern noch mehr die Menschen, die ihm ausgesetzt waren; ein Offizier eines Containerschiffes etwa quittierte danach den Dienst und betrat nie mehr eine Schiffsplanke. Sebastian Junger erzählt in "Der Sturm" von solchen Menschen, und das entlang der Tatsachen.
Im Mittelpunkt steht das Schicksal der Andrea Gail und ihrer sechsköpfigen Besatzung. Das Schiff lief am 20. September 1991 vom Fischerort Gloucester in Neuengland, dem damaligen Wohnort Jungers, zum Schwertfischfang in Richtung Great Banks aus. Nur aus Indizien läßt sich schließen, daß es wohl in der Nacht zum 29. Oktober gesunken ist. Es gab keinen Notruf von der Andrea Gail, von Schiff und Besatzung fehlt bis heute jede Spur, nur Kunststoffässer und die Seenotrufbake wurden im November 1991 gefunden.
Ein Jahr vorher war dem Schiff vom Chef der "Marine Safety Consultants" attestiert worden: "Das Fahrzeug ist für seinen Zweck gut geeignet." Aber das besagt nichts bei einem Sturm dieser Dimension, denn "übertrifft die Länge einer brechenden Welle die Schiffslänge, geht das Schiff ,über Kopf'". Wellen von mehr als einhundert Fuß Höhe waren keine Seltenheit, die Andrea Gail maß nur siebzig Fuß. Junger fragt sich: "Wie verhalten sich Männer auf einem sinkenden Schiff? Klammern sie sich aneinander? Lassen sie die Whiskeyflasche herumgehen? Weinen sie?" Da er das nicht wissen kann, liefert er auch keine Version der letzten fünf Minuten an Bord, sondern berichtet, wie die sechs Männer auf das Schiff kamen, warum zwei, die anmustern wollten, im letzten Augenblick zurücktraten und deshalb überlebten und wie die Angehörigen und Freunde der Besatzungsmitglieder auf die Nachricht vom Verschwinden der Andrea Gail reagierten.
Junger beschreibt das alles ohne Sentimentalität, aber mit Empathie für die Personen, und das gilt auch für den zweiten Erzählstrang, den Rettungsflug eines Hubschraubers der National Coast Guard, der einem Segler gilt und selber auf dem Wasser notlanden muß, weil der notwendige Auftankvorgang in der Luft wegen des sintflutartigen Sturmregens scheitert. Bei diesen Konfrontationen von technisch hochgerüsteten Menschen mit Natur erklärt Junger, wie Stürme entstehen und Wellen sich aufbauen, welche Aquadynamik sich an Untiefen entfaltet. Wissenschaftliche Kleinfeatures unterbrechen die Erzählstränge über menschliche Tragödien und schaffen "Suspense". Das mag ein Kunstgriff sein, erscheint aber nicht so, weil diese Erklärungen dort auftauchen, wo sie am Platz sind, wo der Leser, jedenfalls der nichtmaritime, fragt, wie es dazu kommt.
Jungers Buch hat keine Gattungsbezeichnung, angemessen ist "Literarische Reportage". Eine Reportage, bei der der Autor im Hintergrund bleibt und packend Geschichten aus dem wirklichen Leben auf und über See berichtet. Auch über merkwürdigen Pointen der Zivilisation: Wäre 1978 die tolerierbare Menge für den Quecksilbergehalt in Schwertfischen nicht heraufgesetzt worden, die Andrea Gail wäre nicht ausgelaufen; und würden die großen Schiffe ihre Öltanks, wie vor nicht langer Zeit, auf See spülen, der Wind hätte es schwerer gehabt, große brechende Wellen zu erzeugen, weil das Öl auf dem Wasser, anders wirkt als Öl, das ins Feuer gegossen wird. Das sind zwei von vielen philosophischen Aspekten. Nicht zuletzt sie heben Jungers Buch positiv vom herkömmlichen Seefahrtsdrama ab. BURKHARD SCHERER
Sebastian Junger: "Der Sturm". Die letzte Fahrt der Andrea Gail. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eckhard Kiehl. Diana Verlag, München, Zürich 1998. 320 S., geb., 34,- DM.
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