Auf einer Routinefahrt nach Edo, dem heutigen Tokio, gerät ein japanisches Handelsschiff in Seenot - für die Besatzung beginnt eine jahrelange Odyssee, die sie von den Aleuten quer durch Sibirien und Rußland führt. Dort gelingt es dem Kapitän schließlich, von Katharina II. in ihrer Sommerresigenz zu einer Audienz empfangen zu werden. Sie beschließt die Rückführung der Japaner. Nur drei Männer der ursprünglich siebzehnköpfigen Besatzung gehen zehn Jahre nach ihrer Strandung an Bord eines russischen Schiffes, das den Auftrag erhält, diese Gelegenheit zu nutzen, um Handelsbeziehungen mit dem fernöstlichen Inselreich zu knüpfen. Aber Japan steht noch immer unter dem Zeichen seiner Isolationspolitik, und Rückkehrern droht die Todesstrafe...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1995Ein verläßlicher Zeuge
"Der Sturm", ein Roman des taktvollen Chronisten und scheuen Erzählers Yasushi Inoue Von Peter Demetz
Der japanische Erzähler Yasushi Inoue (1907 bis 1991) zählte noch zu jener weltliterarischen Generation, die ihre Kunst (wie Alfred Andersch oder Heinrich Böll in Deutschland) in verschiedenen Formen und in einer konstanten Reihe von Büchern prüfte und entwickelte. Inoue war der Sohn eines Militärarztes, studierte Literatur in Kyoto, diente als Soldat in Nordchina und arbeitete mehr als ein Jahrzehnt in der Redaktion einer Tageszeitung, ehe er, mit 43 Jahren, als freier Schriftsteller zu leben wagte. Seine journalistische Praxis zeigt sich eher im Melodramatischen seiner frühen Romane über Liebesleidenschaften, kühne Bergsteiger in Gletscherwänden und berühmte Kriminalfälle als in den Arbeiten der späteren Fünfziger Jahre und danach. Sie fassen die japanische (und koreanische) Geschichte ins Auge und erzählen mit einer epischen Ruhe, die ans Lakonische grenzt. Inoue will, so sagte Friedrich Dürrenmatt in einem Essay über ihn, "der verläßlichste Zeuge" sein.
In seinen Erzählungen "Die Höhlen von Hun-duang" und "Das Tempeldach" erprobt Inoue seine charakteristische Verbindung historischer Interessen mit einer modernen Darstellungsart, und in seinem Roman "Der Sturm", der jetzt fast dreißig Jahre nach der japanischen Publikation auf deutsch vorliegt, handhabt er das schon Erprobte mit Sicherheit und eleganter Meisterschaft. Er erzählt in großen Zügen und widerspricht der epischen Tradition zugleich durch sein ästhetisches Spiel montierter Texte aus vielerlei Zeiten.
Allen billigen Effekten abgeneigt, erklärt Inoue in einem nüchternen Prolog, sein Buch "handle von dem Schicksal . . . des Japaners Diakokuya Kodayu, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts als Schiffbrüchiger Rußland erreichte und nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten schließlich die Erlaubnis erhielt, wieder in seine Heimat zurückkehren zu dürfen". Eine Schiffbruchsgeschichte, aber ohne Penelope und Circe; und selbst das bunte Umschlagbild des Buches, treibende Eisberge im blauen Ozean, bezieht sich eher auf den Anfang der Geschehnisse, siebzehn Mann geworfen an einen kalten und nackten Inselstrand, als auf die überraschende Fortsetzung ihrer Abenteuer. Die Schiffbrüchigen gelangen ja mit Hilfe russischer Pelzhändler über Kamtschatka nach Sibirien, erfreuen sich jahrelang der Gastfreundschaft der Bürger und Behörden von Irkutsk, und es ist die Zarin Katharina selbst, die den Überlebenden die Heimkehr ermöglicht.
Der moderne japanische Chronist, der über die Verhältnisse des achtzehnten Jahrhunderts berichtet, manövriert durch die eingeschalteten Texte und Dokumente geschickt zwischen den Zeiten. Ein Schamanenmythos öffnet den Blick in die Welt der alten sibirischen Stämme, ein schwedischer Botaniker bestätigt die wissenschaftliche Bedeutung eines Irkutsker Naturforschers, der sich der Japaner besonders freundlich annimmt, und ein französischer Chevalier gerät auf seiner grand tour ins tiefste Sibirien und hat Gelegenheit, in seiner eigenen Reisebeschreibung ein authentisches Porträt der Japaner zu liefern. Das alles arrangiert der Chronist mit feinem Takt und widersteht der naheliegenden Versuchung, ein groteskes Bild der Russen durch die Augen der Japaner zu entwerfen (etwa in der Art der Perser, die Baron Montesquieu nach Paris reisen läßt); selbst wenn Kapitän Kodayu in seinen Urteilen irren sollte, korrigiert ihn der Chronist auf die rücksichtsvollste Art, "er kann das ja nicht wissen". Jedenfalls faßt der Chronist bald den Verdacht, daß die Schiffbrüchigen der russischen Zarin, die rege Handelsbeziehungen zu dem unbekannten und in sich abgeschlossenen Japan wünscht, gerade recht kommen, und der nachdenkliche Kodayu merkt erst spät, wie man seine Heimkehr, aus politischen und kommerziellen Gründen manipuliert, auf russischer wie auf japanischer Seite.
Inoue plagt uns weder mit ästhetisierenden Landschaftsbeschreibungen noch mit psychologischen Analysen. Er ist etwas ganz Seltenes, ein scheuer Erzähler, der alle romantischen Erregungen und Tränenseligkeiten meidet; und als man Kodayu eröffnet, er dürfe heimfahren, genügt ein einziges Bild. Kodayu, sagt der Erzähler, "glich einer Marionette, die an ihren Fäden hing". Erst auf den letzten Seiten erkühnt sich der Berichterstatter, "ich" zu sagen, und er tut das im Zeichen des Protests, denn er muß erzählen, mit welcher politischen Vorsicht und Kälte die japanische Regierung die Überlebenden in Empfang nahm. Kodayu hatte lange überlegt, ob er nicht in Rußland bleiben wollte, und als er seinen Fuß wieder auf den Heimatboden setzt, erkennt er, daß ihm die Fremde längst nicht mehr Fremde war, und begreift, mit Entsetzen, die leere Formalität und die hierarchische Erstarrung seines von der Welt isolierten Heimatlandes. Die japanischen Behörden haben den Schiffbrüchigen, auch Kodayu, längst ein offizielles Toten- und Ehrenmal gesetzt, und hätte sich der Chronist nicht entschlossen, seinen Bericht für uns zu schreiben, die Wahrheit über die Lebendigen und die Toten hätte uns niemals erreicht. Sein Buch ist eine sanfte Revolte gegen Beamtendünkel, politische Ausschließung, das amtlich verordnete schlechte Gedächtnis.
Alfred Andersch sagte einmal, in jedem guten Roman sollte in jedem einzelnen Satz etwas geschehen, und es ist nicht ganz überraschend, daß er Inoues Sachlichkeit bewunderte und darüber nachdachte, welche Schwierigkeiten eine Übersetzung des Textes bereiten dürfte. Andreas Mrugalla ist es ohne Zweifel geglückt, die spezifische Mischung aus Historizität und Modernität, die Andersch rühmte, mit Einfühlungskraft und nüchterner Energie wiederzugeben, und ich wünschte, ich dürfte meine (pedantischen) Einwände verschweigen. Das tautologische Wort "letztendlich", das durch den gegenwärtigen Unbildungsjargon spukt, ist im Munde des zivilisierten Berichterstatters ganz fehl am Platze, und ich wünschte mir, der Übersetzer hätte den japanischen Dorfdialekt eines Schiffbrüchigen nicht mit einer geradezu mitleidslosen Genauigkeit reproduziert. Da wird geschwäbelt (oder ist es hessisch?), daß sich die sibirischen Balken biegen, und das Sprachproblem stellt sich, gegen die Absichten des Autors, vor Geschehnis und Figur. Weniger wäre mehr, denn so dumm sind wir Leser auch wieder nicht.
Yasushi Inoue: "Der Sturm". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Andreas Mrugalla. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 374 S., geb., 44,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Sturm", ein Roman des taktvollen Chronisten und scheuen Erzählers Yasushi Inoue Von Peter Demetz
Der japanische Erzähler Yasushi Inoue (1907 bis 1991) zählte noch zu jener weltliterarischen Generation, die ihre Kunst (wie Alfred Andersch oder Heinrich Böll in Deutschland) in verschiedenen Formen und in einer konstanten Reihe von Büchern prüfte und entwickelte. Inoue war der Sohn eines Militärarztes, studierte Literatur in Kyoto, diente als Soldat in Nordchina und arbeitete mehr als ein Jahrzehnt in der Redaktion einer Tageszeitung, ehe er, mit 43 Jahren, als freier Schriftsteller zu leben wagte. Seine journalistische Praxis zeigt sich eher im Melodramatischen seiner frühen Romane über Liebesleidenschaften, kühne Bergsteiger in Gletscherwänden und berühmte Kriminalfälle als in den Arbeiten der späteren Fünfziger Jahre und danach. Sie fassen die japanische (und koreanische) Geschichte ins Auge und erzählen mit einer epischen Ruhe, die ans Lakonische grenzt. Inoue will, so sagte Friedrich Dürrenmatt in einem Essay über ihn, "der verläßlichste Zeuge" sein.
In seinen Erzählungen "Die Höhlen von Hun-duang" und "Das Tempeldach" erprobt Inoue seine charakteristische Verbindung historischer Interessen mit einer modernen Darstellungsart, und in seinem Roman "Der Sturm", der jetzt fast dreißig Jahre nach der japanischen Publikation auf deutsch vorliegt, handhabt er das schon Erprobte mit Sicherheit und eleganter Meisterschaft. Er erzählt in großen Zügen und widerspricht der epischen Tradition zugleich durch sein ästhetisches Spiel montierter Texte aus vielerlei Zeiten.
Allen billigen Effekten abgeneigt, erklärt Inoue in einem nüchternen Prolog, sein Buch "handle von dem Schicksal . . . des Japaners Diakokuya Kodayu, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts als Schiffbrüchiger Rußland erreichte und nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten schließlich die Erlaubnis erhielt, wieder in seine Heimat zurückkehren zu dürfen". Eine Schiffbruchsgeschichte, aber ohne Penelope und Circe; und selbst das bunte Umschlagbild des Buches, treibende Eisberge im blauen Ozean, bezieht sich eher auf den Anfang der Geschehnisse, siebzehn Mann geworfen an einen kalten und nackten Inselstrand, als auf die überraschende Fortsetzung ihrer Abenteuer. Die Schiffbrüchigen gelangen ja mit Hilfe russischer Pelzhändler über Kamtschatka nach Sibirien, erfreuen sich jahrelang der Gastfreundschaft der Bürger und Behörden von Irkutsk, und es ist die Zarin Katharina selbst, die den Überlebenden die Heimkehr ermöglicht.
Der moderne japanische Chronist, der über die Verhältnisse des achtzehnten Jahrhunderts berichtet, manövriert durch die eingeschalteten Texte und Dokumente geschickt zwischen den Zeiten. Ein Schamanenmythos öffnet den Blick in die Welt der alten sibirischen Stämme, ein schwedischer Botaniker bestätigt die wissenschaftliche Bedeutung eines Irkutsker Naturforschers, der sich der Japaner besonders freundlich annimmt, und ein französischer Chevalier gerät auf seiner grand tour ins tiefste Sibirien und hat Gelegenheit, in seiner eigenen Reisebeschreibung ein authentisches Porträt der Japaner zu liefern. Das alles arrangiert der Chronist mit feinem Takt und widersteht der naheliegenden Versuchung, ein groteskes Bild der Russen durch die Augen der Japaner zu entwerfen (etwa in der Art der Perser, die Baron Montesquieu nach Paris reisen läßt); selbst wenn Kapitän Kodayu in seinen Urteilen irren sollte, korrigiert ihn der Chronist auf die rücksichtsvollste Art, "er kann das ja nicht wissen". Jedenfalls faßt der Chronist bald den Verdacht, daß die Schiffbrüchigen der russischen Zarin, die rege Handelsbeziehungen zu dem unbekannten und in sich abgeschlossenen Japan wünscht, gerade recht kommen, und der nachdenkliche Kodayu merkt erst spät, wie man seine Heimkehr, aus politischen und kommerziellen Gründen manipuliert, auf russischer wie auf japanischer Seite.
Inoue plagt uns weder mit ästhetisierenden Landschaftsbeschreibungen noch mit psychologischen Analysen. Er ist etwas ganz Seltenes, ein scheuer Erzähler, der alle romantischen Erregungen und Tränenseligkeiten meidet; und als man Kodayu eröffnet, er dürfe heimfahren, genügt ein einziges Bild. Kodayu, sagt der Erzähler, "glich einer Marionette, die an ihren Fäden hing". Erst auf den letzten Seiten erkühnt sich der Berichterstatter, "ich" zu sagen, und er tut das im Zeichen des Protests, denn er muß erzählen, mit welcher politischen Vorsicht und Kälte die japanische Regierung die Überlebenden in Empfang nahm. Kodayu hatte lange überlegt, ob er nicht in Rußland bleiben wollte, und als er seinen Fuß wieder auf den Heimatboden setzt, erkennt er, daß ihm die Fremde längst nicht mehr Fremde war, und begreift, mit Entsetzen, die leere Formalität und die hierarchische Erstarrung seines von der Welt isolierten Heimatlandes. Die japanischen Behörden haben den Schiffbrüchigen, auch Kodayu, längst ein offizielles Toten- und Ehrenmal gesetzt, und hätte sich der Chronist nicht entschlossen, seinen Bericht für uns zu schreiben, die Wahrheit über die Lebendigen und die Toten hätte uns niemals erreicht. Sein Buch ist eine sanfte Revolte gegen Beamtendünkel, politische Ausschließung, das amtlich verordnete schlechte Gedächtnis.
Alfred Andersch sagte einmal, in jedem guten Roman sollte in jedem einzelnen Satz etwas geschehen, und es ist nicht ganz überraschend, daß er Inoues Sachlichkeit bewunderte und darüber nachdachte, welche Schwierigkeiten eine Übersetzung des Textes bereiten dürfte. Andreas Mrugalla ist es ohne Zweifel geglückt, die spezifische Mischung aus Historizität und Modernität, die Andersch rühmte, mit Einfühlungskraft und nüchterner Energie wiederzugeben, und ich wünschte, ich dürfte meine (pedantischen) Einwände verschweigen. Das tautologische Wort "letztendlich", das durch den gegenwärtigen Unbildungsjargon spukt, ist im Munde des zivilisierten Berichterstatters ganz fehl am Platze, und ich wünschte mir, der Übersetzer hätte den japanischen Dorfdialekt eines Schiffbrüchigen nicht mit einer geradezu mitleidslosen Genauigkeit reproduziert. Da wird geschwäbelt (oder ist es hessisch?), daß sich die sibirischen Balken biegen, und das Sprachproblem stellt sich, gegen die Absichten des Autors, vor Geschehnis und Figur. Weniger wäre mehr, denn so dumm sind wir Leser auch wieder nicht.
Yasushi Inoue: "Der Sturm". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Andreas Mrugalla. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 374 S., geb., 44,-DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Kai Wiegandt fühlt sich zurückversetzt in die Zeit des viktorianischen Romans. Nicolas Shakespeares "Poetik des Nicht-Zufälligen" erinnert ihn an die Mystik eines Wilkie Collins, nicht so sehr an den großen Namensvetter des Autors und dessen Drama "The Tempest". Wiegandt schätzt das Gediegene, die "unauffällige Sprache" und die "klassischen" Merkmale, die Nicholas Shakespeare seinem auf Tasmanien spielenden Roman angedeihen lässt. Das "Fließen der Zeit" etwa meint er zu spüren, Orte und Figuren bald gut zu kennen. Die archetypische, mit Zeichen gespickte Story, legt Wiegandt nahe, funktioniert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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