Friedrich Voss ist ein begnadeter Chirurg. Mit dem Sozialismus hat er sich arrangiert - für ihn ist die DDR eine überschaubare Bühne für seine Selbstinszenierung. Aber der Direktor eines Krankenhauses an der Ostseeküste schafft sich mit seiner selbstherrlichen Art auch Feinde. Und bald fragen die Ersten, warum seinen Vorhaben nie ein Stein in den Weg gelegt wird. Was hat es mit dem Gerücht auf sich, er sei bei der Stasi? Dann ist die DDR am Ende, und mit ihrem Sturz stürzt auch Friedrich Voss. Er stellt sich als parteilos hin und wird als Wendehals beschimpft. Anonyme Anrufer terrorisieren ihn. Für eine gütliche Einigung ist er zu stolz ... Ralph Hammerthalers präziser, wirklichkeitsgesättigter Roman spürt einem Leben nach, das keine Grenzen kannte. Vielstimmig wie bei Uwe Johnson führt Der Sturz des Friedrich Voss - die widersprüchliche Geschichte eines Landes vor, das längst Geschichte geworden ist - und immer noch nachwirkt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2010Unter dem Skalpell der Geschichte
Ralph Hammerthalers bemerkenswerter Wende-Roman „Der Sturz des Friedrich Voss“ erzählt vom Abstieg eines angesehenen Chirurgen aus der DDR
Ein Arztroman, ein Familienroman, ein DDR-Roman, ein Wenderoman: Da lässt es sich wohl nicht ganz vermeiden, Ralph Hammerthalers „Der Sturz des Friedrich Voss“ im Gefolge von Uwe Tellkamps DDR-Großpanorama „Der Turm“ wahrzunehmen. Jenseits des Sujets haben beide Bücher jedoch nur wenig miteinander gemein – schon deshalb, weil Hammerthaler im Westen des Landes geboren wurde und sich deshalb aus einer ganz anderen Perspektive und mit anderem Erkenntnisinteresse der DDRGeschichte nähert. Falls in ostdeutschen Literaturzirkeln noch immer darüber debattiert werden sollte, wem diese Geschichte gehört, und ob ein Westdeutscher die DDR überhaupt so gut kennen kann, dass er darüber zu erzählen vermag, so gibt „Der Sturz des Friedrich Voss“ die schlichte Antwort: Selbstverständlich. Schließlich beruht Literatur nicht nur auf Authentizität und Erfahrung, sondern auch auf Recherche und Imagination. Wenn sie nicht dazu in der Lage wäre, auch dem Autor selbst neue Bereiche zu erschließen, wäre sie so sinnlos wie langweilig.
Anders als Tellkamps „Turm“, der eine bürgerliche Enklave in der DDR beschreibt, begibt sich Ralph Hammerthaler in die Mitte der Gesellschaft. Friedrich Voss, angesehener Chirurg in einer Kleinstadt an der Ostsee, ist kein Ideologe und kein Scharfmacher, aber auch nicht nur aus Karrieregründen in die SED eingetreten. Er ist durchaus überzeugt davon, im richtigen System und im besseren der beiden deutschen Staaten zu leben. Vor allem aber ist er ein leidenschaftlicher Arzt. Er führt das Krankenhaus auf durchaus autokratische Weise, aber mit begründeter Autorität und nicht ohne Respekt und Anerkennung seiner Untergebenen. Wie er in den Besitz der Telefonnummer gelangte, die er, wenn es politische Schwierigkeiten gibt, anrufen kann und sich damit weitere Scherereien erspart, das bleibt sein Geheimnis. Doch andererseits kann er es nicht verhindern, dass sein Sohn Hermann von der Schule verwiesen wird, nachdem er einen FDJler als „Kommunistensau“ beschimpft hat.
Mitläufer oder nicht?
Nach dem Ende der DDR wird er Opfer einer Intrige, Stasivorwürfe sind im Spiel, die aber nicht belegbar sind. Voss wird entlassen und kommt darüber nicht hinweg. Mit seinem Selbstmord – er erschießt sich in der Garage – setzt der Roman ein. Ganz am Ende steht der Abschiedsbrief eines Menschen, der alle Selbstsicherheit verloren hat. Dazwischen liegt der Versuch, das die Familie traumatisierende Ereignis zu rekonstruieren, zu erklären und damit zu bewältigen. Als Erzähler gibt sich dann Hermann zu erkennen. Doch er lässt die Mutter, den Bruder und die Schwester ebenso zu Wort kommen, wie Lehrer, Kollegen und Freunde. Einzelne Abschnitte verfasst er in Ich-Form, andere als auktorialer Erzähler. Dass es sich um keine „Dokumentation“ handelt, sondern um ein Resultat der Einbildungskraft, verschweigt er nicht. Die erzählende Romanfigur schiebt sich auf diese Weise zwischen den Autor und die Geschichte und nimmt auch die Schwächen der Konstruktion auf sich. Das ist zwar ein ziemlich billiger erzählerischer Trick, funktioniert hier aber ganz gut, weil dieser Roman tatsächlich nur wenig Schwächen hat. Das Bild des Friedrich Voss, das auf diese Weise entsteht, ist so vielfältig wie die verschiedenen Stimmen, und es bleibt dem Leser überlassen, ob er ihn am Ende für einen Opportunisten, einen aufrechten Arzt, einen schwierigen Menschen oder ein Opfer der neuen Konkurrenzverhältnisse halten möchte. Das eine schließt ja das andere nicht aus.
Hammerthaler greift weit aus. Ohne chronologischen Zwang, in großen Sprüngen, geht er zurück bis in die fünfziger Jahre und führt die Lebensläufe und Liebesverwicklungen der einzelnen Familienmitglieder bis ins Jahr 2009 weiter. Es handelt sich also um einen wirkliche Wenderoman, falls diese Schublade heute noch von Interesse ist. Er interessiert sich für die Umwälzung der Verhältnisse, ohne damit etwas beweisen oder verteidigen zu müssen. Diese Freiheit entsteht eben dann, wenn der Autor sich seinem Gegenstand von außen nähert.
Hermann ist, nachdem er versucht hatte, als Vertreter in der Bierbranche und als Ferienhausvermieter eine Existenz zu begründen, im Jahr 2009 Altenpfleger geworden – gemessen an seinen Ambitionen also eher ein Gescheiterter. Er schiebt nun ausgerechnet den alten Lehrer im Rollstuhl durch die Gegend, den er für seinen Schulverweis verantwortlich macht. Das wirkt etwas überkonstruiert, doch die prägnanten Dialoge, die aufgestaute Wut und das Misstrauen, das die beiden verbindet, lässt darüber hinwegsehen. Es ist zu spüren, dass Hammerthaler auch als Autor fürs Theater arbeitet. Seine Sprache ist so lebendig wie konzentriert. Er schafft es, dass man sich für seine Figuren interessiert, obwohl doch der Stoff – Wendeschicksale und DDR-Debatten – nicht mehr so frisch ist.
Die DDR ist ganz Literatur geworden und interessiert nur als Tableau, als Handlungsort. Wer auf der Suche nach dem Authentischen ist und wissen will, wie es damals „wirklich“ war, der muss andere Bücher lesen. JÖRG MAGENAU
RALPH HAMMERTHALER: Der Sturz des Friedrich Voss. Roman. DuMont Verlag, Köln 2010, 240 Seiten, 18,95 Euro.
Manchmal, so wie hier im Ministerium für Staatssicherheit, muss das Bild erst schief hängen, damit es erkennt.
Foto: Arnaud Robin/Fedephoto/Studio X
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ralph Hammerthalers bemerkenswerter Wende-Roman „Der Sturz des Friedrich Voss“ erzählt vom Abstieg eines angesehenen Chirurgen aus der DDR
Ein Arztroman, ein Familienroman, ein DDR-Roman, ein Wenderoman: Da lässt es sich wohl nicht ganz vermeiden, Ralph Hammerthalers „Der Sturz des Friedrich Voss“ im Gefolge von Uwe Tellkamps DDR-Großpanorama „Der Turm“ wahrzunehmen. Jenseits des Sujets haben beide Bücher jedoch nur wenig miteinander gemein – schon deshalb, weil Hammerthaler im Westen des Landes geboren wurde und sich deshalb aus einer ganz anderen Perspektive und mit anderem Erkenntnisinteresse der DDRGeschichte nähert. Falls in ostdeutschen Literaturzirkeln noch immer darüber debattiert werden sollte, wem diese Geschichte gehört, und ob ein Westdeutscher die DDR überhaupt so gut kennen kann, dass er darüber zu erzählen vermag, so gibt „Der Sturz des Friedrich Voss“ die schlichte Antwort: Selbstverständlich. Schließlich beruht Literatur nicht nur auf Authentizität und Erfahrung, sondern auch auf Recherche und Imagination. Wenn sie nicht dazu in der Lage wäre, auch dem Autor selbst neue Bereiche zu erschließen, wäre sie so sinnlos wie langweilig.
Anders als Tellkamps „Turm“, der eine bürgerliche Enklave in der DDR beschreibt, begibt sich Ralph Hammerthaler in die Mitte der Gesellschaft. Friedrich Voss, angesehener Chirurg in einer Kleinstadt an der Ostsee, ist kein Ideologe und kein Scharfmacher, aber auch nicht nur aus Karrieregründen in die SED eingetreten. Er ist durchaus überzeugt davon, im richtigen System und im besseren der beiden deutschen Staaten zu leben. Vor allem aber ist er ein leidenschaftlicher Arzt. Er führt das Krankenhaus auf durchaus autokratische Weise, aber mit begründeter Autorität und nicht ohne Respekt und Anerkennung seiner Untergebenen. Wie er in den Besitz der Telefonnummer gelangte, die er, wenn es politische Schwierigkeiten gibt, anrufen kann und sich damit weitere Scherereien erspart, das bleibt sein Geheimnis. Doch andererseits kann er es nicht verhindern, dass sein Sohn Hermann von der Schule verwiesen wird, nachdem er einen FDJler als „Kommunistensau“ beschimpft hat.
Mitläufer oder nicht?
Nach dem Ende der DDR wird er Opfer einer Intrige, Stasivorwürfe sind im Spiel, die aber nicht belegbar sind. Voss wird entlassen und kommt darüber nicht hinweg. Mit seinem Selbstmord – er erschießt sich in der Garage – setzt der Roman ein. Ganz am Ende steht der Abschiedsbrief eines Menschen, der alle Selbstsicherheit verloren hat. Dazwischen liegt der Versuch, das die Familie traumatisierende Ereignis zu rekonstruieren, zu erklären und damit zu bewältigen. Als Erzähler gibt sich dann Hermann zu erkennen. Doch er lässt die Mutter, den Bruder und die Schwester ebenso zu Wort kommen, wie Lehrer, Kollegen und Freunde. Einzelne Abschnitte verfasst er in Ich-Form, andere als auktorialer Erzähler. Dass es sich um keine „Dokumentation“ handelt, sondern um ein Resultat der Einbildungskraft, verschweigt er nicht. Die erzählende Romanfigur schiebt sich auf diese Weise zwischen den Autor und die Geschichte und nimmt auch die Schwächen der Konstruktion auf sich. Das ist zwar ein ziemlich billiger erzählerischer Trick, funktioniert hier aber ganz gut, weil dieser Roman tatsächlich nur wenig Schwächen hat. Das Bild des Friedrich Voss, das auf diese Weise entsteht, ist so vielfältig wie die verschiedenen Stimmen, und es bleibt dem Leser überlassen, ob er ihn am Ende für einen Opportunisten, einen aufrechten Arzt, einen schwierigen Menschen oder ein Opfer der neuen Konkurrenzverhältnisse halten möchte. Das eine schließt ja das andere nicht aus.
Hammerthaler greift weit aus. Ohne chronologischen Zwang, in großen Sprüngen, geht er zurück bis in die fünfziger Jahre und führt die Lebensläufe und Liebesverwicklungen der einzelnen Familienmitglieder bis ins Jahr 2009 weiter. Es handelt sich also um einen wirkliche Wenderoman, falls diese Schublade heute noch von Interesse ist. Er interessiert sich für die Umwälzung der Verhältnisse, ohne damit etwas beweisen oder verteidigen zu müssen. Diese Freiheit entsteht eben dann, wenn der Autor sich seinem Gegenstand von außen nähert.
Hermann ist, nachdem er versucht hatte, als Vertreter in der Bierbranche und als Ferienhausvermieter eine Existenz zu begründen, im Jahr 2009 Altenpfleger geworden – gemessen an seinen Ambitionen also eher ein Gescheiterter. Er schiebt nun ausgerechnet den alten Lehrer im Rollstuhl durch die Gegend, den er für seinen Schulverweis verantwortlich macht. Das wirkt etwas überkonstruiert, doch die prägnanten Dialoge, die aufgestaute Wut und das Misstrauen, das die beiden verbindet, lässt darüber hinwegsehen. Es ist zu spüren, dass Hammerthaler auch als Autor fürs Theater arbeitet. Seine Sprache ist so lebendig wie konzentriert. Er schafft es, dass man sich für seine Figuren interessiert, obwohl doch der Stoff – Wendeschicksale und DDR-Debatten – nicht mehr so frisch ist.
Die DDR ist ganz Literatur geworden und interessiert nur als Tableau, als Handlungsort. Wer auf der Suche nach dem Authentischen ist und wissen will, wie es damals „wirklich“ war, der muss andere Bücher lesen. JÖRG MAGENAU
RALPH HAMMERTHALER: Der Sturz des Friedrich Voss. Roman. DuMont Verlag, Köln 2010, 240 Seiten, 18,95 Euro.
Manchmal, so wie hier im Ministerium für Staatssicherheit, muss das Bild erst schief hängen, damit es erkennt.
Foto: Arnaud Robin/Fedephoto/Studio X
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2010Irgendwie klarkommen
Ralph Hammerthalers "Sturz des Friedrich Voss"
Als Jana Hensel im Jahr 2002 "Zonenkinder" vorlegte, sprang sie in ein Vakuum. Seitdem füllen sich die Bücherregale mit Werken zur Vergangenheitsaufarbeitung der DDR, und die Darstellung scheint immer komplexer zu werden. Das mag als gutes Zeichen zu werten sein, als Wille, dem Schubladendenken vorzubeugen. Auch Ralph Hammerthaler, aufgewachsen im Westen, macht es sich nicht leicht. In seinem dritten Roman "Der Sturz des Friedrich Voss" rollt er das Leben eines Chefchirurgen auf, der nach der Wende und dem Verlust seiner Stelle - man wirft ihm Stasi-Mitarbeit vor - Selbstmord durch Kopfschuss begeht.
Der Stoff basiert auf einem frei verfugten Faktengerüst, steht also eher in journalistischer Tradition. Um das zwiespältige Innenleben dieses Friedrich Voss, eines autoritären, genussfreudigen Charismatikers, zu zeigen, fügt Hammerthaler Stimmen der Zeitgenossen zu einem Mosaik. Mehr noch: Er blendet, zwischen den Jahrzehnten springend, immer wieder in die Leben der drei längst erwachsenen Kinder über. Das Zentrum ist nicht nur Friedrich Voss, vielmehr die Wunde, die er und - davon untrennbar verbunden - das politische System in den Biographien der nachfolgenden Generation hinterlassen.
Martin, der Jüngste, lebt in einem Heim. Kathrin, die Mittlere, nach den Vorwürfen und dem Selbstmord des Vaters von den Klinikkollegen gemieden, hat sich als Ärztin selbständig gemacht. Hermann, der Älteste, arbeitet heute, im Jahr 2009, nach gescheiterten Anläufen in besser bezahlten Branchen als Krankenpfleger. Noch Schüler, hatte er es gewagt, den FDJ-Sekretär als "Kommunistensau" zu betiteln. Er musste daraufhin die Schule verlassen, und auch die Geschwister bekamen die "sozialistische Sippenhaft" zu spüren. Täglich, als Erwachsener, wenn die Kinder abends schlafen und das Meer im Ostseestädtchen "S." von fern rauscht, setzt Hermann sich nieder, um zu schreiben. Mit ihm als Erzähler ist zugleich die Zerrissenheit des Dargestellten vorgegeben. Hermann steht für den Beginn des Abstiegs der Familie. Seine Haltung ist gewissermaßen die eines schuldlos schuldig gewordenen; seine Motivation von therapeutischer Leidenschaft getrieben: "schlussendlich klarzukommen mit allem, was passiert ist".
Hermann möchte "Resonanzboden" für die letzten Worte des Vaters sein. Er fasst den Schmerz der Familie in Sprache. Tagebuchartige Notizen brechen den mit Erfundenem aufgefüllten Chronistentext und stellen ihn damit in Frage. Vergangenheit - das wirkt im subjektiven Kosmos dieses Erzählers eher wie ein verschwommen erinnerbarer letzter Akt, von dem nur zufällig das eine oder andere an die Oberfläche gespült wird. Diese Zeit gar abzuschließen scheint Hermann gänzlich verwehrt. Noch muss er einen seiner Quäler im Rollstuhl spazieren fahren: den Lehrer, der damals sein Vergehen anzeigte. Hass treibt deshalb diese Rede. Einmal kippt er diesen Lehrer sogar fast ins Meer - und muss sich von ihm sagen lassen: "Wir sollten unsere Irrtümer ohne Weh begraben." Was aber käme vor diesem finalen Ritual?
Wir lesen - so wird immer deutlicher - nicht nur einen Wende-, vielmehr einen Nachwenderoman, der in der Gegenwart längst nicht aufhört. Je mehr Informationen über Voss ans Licht treten, desto weniger greifbarer wird dieser Mann. Ein Gespenst der Geschichte, das abtritt, bevor man es zu allem befragen könnte. Es bleiben nur Szenen seines ausschweifenden Lebens, zum Leben erweckte Schwarzweißfotografien: Voss, "kein Kostverächter", unter Kollegen am Nacktbadestrand beim Feiern; am OP-Tisch, "mutig, geschickt"; zu Hause jähzornig; beim Jagen mit Offiziellen der Partei. Was soll man von ihm halten? Er nimmt sich, was er braucht - Geliebte oder Sofagarnituren für seine Klinik. Im Notfall spendet er eigenes Blut. Gibt es Ärger mit der Aufsicht, regelt es Voss. Er scheint Vorteilsdenken und berufliches Geschick im Lauf der Zeit unauffällig mit seinem Gewissen in Gleichschritt gebracht zu haben.
Es bleibt dem Leser überlassen, sich für ein Bild zu entscheiden. Voss blitzt als Mensch kurz auf, droht aber am Ende hinter dem Netz, das er selbst spann, zu verschwinden. Die letzten Jahre zeigen ihn depressiv und eingekapselt. Ratlos hält man die Todesanzeige in den Händen. Die Familie lässt darauf diesen Satz drucken: "Die heute Opfer sind, werden morgen klagen." Klage. Aber auch Anklage? Ralph Hammerthaler fächert die Kernfrage in Kommentaren und Schilderungen auf, die sich zuweilen widersprechen. Das große Personal dieses Romans und die persönliche Befangenheit der Sprechenden machen es letztlich unmöglich, Täter-Opfer-Kategorien anzuwenden.
Was diesen Roman ehrenwert schwebend macht, ist zugleich sein ästhetisches Problem. Er ächzt unter der Materialfülle. Lebendig wird er durch seine ausgeprägte Mündlichkeit, der Ralph Hammerthaler, als Dramaturg dialoggeschult, durchaus noch mehr hätte vertrauen dürfen. Seine Figuren wirken bisweilen überaktiv. Ein Kellner "schießt" aus dem Café; man schnaubt, schimpft, faucht, ereifert sich, verrenkt sich beim Umdrehen den Hals, als müsste sprachlich ein Mangel der Darstellung kompensiert werden. Das trübt die Lektüre, obwohl der Text zugleich seine Aufgabe erfüllt, "die Kanten der Geschichte" hervorzukehren; die Leere und Hilflosigkeit zwischen den Generationen zu zeigen; Voss als "Gefangenen seiner eigenen Persönlichkeit" zu porträtieren, während das Bild von ihm sich bereits aufzulösen beginnt.
ANJA HIRSCH
Ralph Hammerthaler: "Der Sturz des Friedrich Voss". Roman. DuMont Verlag, Köln 2010. 239 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralph Hammerthalers "Sturz des Friedrich Voss"
Als Jana Hensel im Jahr 2002 "Zonenkinder" vorlegte, sprang sie in ein Vakuum. Seitdem füllen sich die Bücherregale mit Werken zur Vergangenheitsaufarbeitung der DDR, und die Darstellung scheint immer komplexer zu werden. Das mag als gutes Zeichen zu werten sein, als Wille, dem Schubladendenken vorzubeugen. Auch Ralph Hammerthaler, aufgewachsen im Westen, macht es sich nicht leicht. In seinem dritten Roman "Der Sturz des Friedrich Voss" rollt er das Leben eines Chefchirurgen auf, der nach der Wende und dem Verlust seiner Stelle - man wirft ihm Stasi-Mitarbeit vor - Selbstmord durch Kopfschuss begeht.
Der Stoff basiert auf einem frei verfugten Faktengerüst, steht also eher in journalistischer Tradition. Um das zwiespältige Innenleben dieses Friedrich Voss, eines autoritären, genussfreudigen Charismatikers, zu zeigen, fügt Hammerthaler Stimmen der Zeitgenossen zu einem Mosaik. Mehr noch: Er blendet, zwischen den Jahrzehnten springend, immer wieder in die Leben der drei längst erwachsenen Kinder über. Das Zentrum ist nicht nur Friedrich Voss, vielmehr die Wunde, die er und - davon untrennbar verbunden - das politische System in den Biographien der nachfolgenden Generation hinterlassen.
Martin, der Jüngste, lebt in einem Heim. Kathrin, die Mittlere, nach den Vorwürfen und dem Selbstmord des Vaters von den Klinikkollegen gemieden, hat sich als Ärztin selbständig gemacht. Hermann, der Älteste, arbeitet heute, im Jahr 2009, nach gescheiterten Anläufen in besser bezahlten Branchen als Krankenpfleger. Noch Schüler, hatte er es gewagt, den FDJ-Sekretär als "Kommunistensau" zu betiteln. Er musste daraufhin die Schule verlassen, und auch die Geschwister bekamen die "sozialistische Sippenhaft" zu spüren. Täglich, als Erwachsener, wenn die Kinder abends schlafen und das Meer im Ostseestädtchen "S." von fern rauscht, setzt Hermann sich nieder, um zu schreiben. Mit ihm als Erzähler ist zugleich die Zerrissenheit des Dargestellten vorgegeben. Hermann steht für den Beginn des Abstiegs der Familie. Seine Haltung ist gewissermaßen die eines schuldlos schuldig gewordenen; seine Motivation von therapeutischer Leidenschaft getrieben: "schlussendlich klarzukommen mit allem, was passiert ist".
Hermann möchte "Resonanzboden" für die letzten Worte des Vaters sein. Er fasst den Schmerz der Familie in Sprache. Tagebuchartige Notizen brechen den mit Erfundenem aufgefüllten Chronistentext und stellen ihn damit in Frage. Vergangenheit - das wirkt im subjektiven Kosmos dieses Erzählers eher wie ein verschwommen erinnerbarer letzter Akt, von dem nur zufällig das eine oder andere an die Oberfläche gespült wird. Diese Zeit gar abzuschließen scheint Hermann gänzlich verwehrt. Noch muss er einen seiner Quäler im Rollstuhl spazieren fahren: den Lehrer, der damals sein Vergehen anzeigte. Hass treibt deshalb diese Rede. Einmal kippt er diesen Lehrer sogar fast ins Meer - und muss sich von ihm sagen lassen: "Wir sollten unsere Irrtümer ohne Weh begraben." Was aber käme vor diesem finalen Ritual?
Wir lesen - so wird immer deutlicher - nicht nur einen Wende-, vielmehr einen Nachwenderoman, der in der Gegenwart längst nicht aufhört. Je mehr Informationen über Voss ans Licht treten, desto weniger greifbarer wird dieser Mann. Ein Gespenst der Geschichte, das abtritt, bevor man es zu allem befragen könnte. Es bleiben nur Szenen seines ausschweifenden Lebens, zum Leben erweckte Schwarzweißfotografien: Voss, "kein Kostverächter", unter Kollegen am Nacktbadestrand beim Feiern; am OP-Tisch, "mutig, geschickt"; zu Hause jähzornig; beim Jagen mit Offiziellen der Partei. Was soll man von ihm halten? Er nimmt sich, was er braucht - Geliebte oder Sofagarnituren für seine Klinik. Im Notfall spendet er eigenes Blut. Gibt es Ärger mit der Aufsicht, regelt es Voss. Er scheint Vorteilsdenken und berufliches Geschick im Lauf der Zeit unauffällig mit seinem Gewissen in Gleichschritt gebracht zu haben.
Es bleibt dem Leser überlassen, sich für ein Bild zu entscheiden. Voss blitzt als Mensch kurz auf, droht aber am Ende hinter dem Netz, das er selbst spann, zu verschwinden. Die letzten Jahre zeigen ihn depressiv und eingekapselt. Ratlos hält man die Todesanzeige in den Händen. Die Familie lässt darauf diesen Satz drucken: "Die heute Opfer sind, werden morgen klagen." Klage. Aber auch Anklage? Ralph Hammerthaler fächert die Kernfrage in Kommentaren und Schilderungen auf, die sich zuweilen widersprechen. Das große Personal dieses Romans und die persönliche Befangenheit der Sprechenden machen es letztlich unmöglich, Täter-Opfer-Kategorien anzuwenden.
Was diesen Roman ehrenwert schwebend macht, ist zugleich sein ästhetisches Problem. Er ächzt unter der Materialfülle. Lebendig wird er durch seine ausgeprägte Mündlichkeit, der Ralph Hammerthaler, als Dramaturg dialoggeschult, durchaus noch mehr hätte vertrauen dürfen. Seine Figuren wirken bisweilen überaktiv. Ein Kellner "schießt" aus dem Café; man schnaubt, schimpft, faucht, ereifert sich, verrenkt sich beim Umdrehen den Hals, als müsste sprachlich ein Mangel der Darstellung kompensiert werden. Das trübt die Lektüre, obwohl der Text zugleich seine Aufgabe erfüllt, "die Kanten der Geschichte" hervorzukehren; die Leere und Hilflosigkeit zwischen den Generationen zu zeigen; Voss als "Gefangenen seiner eigenen Persönlichkeit" zu porträtieren, während das Bild von ihm sich bereits aufzulösen beginnt.
ANJA HIRSCH
Ralph Hammerthaler: "Der Sturz des Friedrich Voss". Roman. DuMont Verlag, Köln 2010. 239 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ralph Hammerthaler inszeniert ein Spiel der Stimmen, dessen Chor so etwas wie die Wahrheit über fast fünfzig Jahre deutsche Geschichte verrät." -- WELT
"Ein bemerkenswerter Wende-Roman." -- SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
"Ein bemerkenswerter Wende-Roman." -- SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anja Hirsch bewundert die Vielschichtigkeit von Ralph Hammerthalers Roman um einen Chefchirurgen in der DDR, der sich wegen Stasi-Vorwürfen nach der Wende das Leben nimmt. Aber ganz glücklich wird sie damit nicht. Der - westdeutsche, wie die Rezensentin anmerkt - Autor lässt die Geschichte des Friedrich Voss der Feder seines Sohnes Hermann entspringen, der neben Fiktionalem und Tagebuchnotizen auch die Erinnerungen andere Familienmitglieder festhält, wie wir erfahren. Damit werden auch teilweise sich widersprechende Informationen gegeben, "Täter-Opfer-Kategorien" greifen nicht mehr, und der Chirurg wird immer mehr zum "Gespenst der Geschichte", der sich dem sicheren Zugriff entzieht, so Hirsch durchaus gefesselt. Die "ehrenwerte" Schwebe, in der der Autor seine Geschichte hält, sieht sie aber gleichzeitig als "ästhetisches Problem" seines Romans. Die Leser werden von der gebotenen Fülle an Fakten, Einschätzungen und Erinnerungen erdrückt, klagt die Rezensentin. Die "ausgeprägte Mündlichkeit", die den Roman prägt, findet sie zwar sehr gelungen und sie trägt zur Lebendigkeit der Schilderungen bei, dafür scheinen der Rezensentin die Figuren aber mitunter geradezu "überaktiv", als müssten damit ein "Mangel der Darstellung" ausgleichen werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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