In einer Stadt, in der 1992 Bücher brannten, schrieb, umgeben von Gewalt und Menschenverachtung, ein damals 46-jähriger Lyriker, seine Gedichte. Die Stadt war das von den bosnischen Serben belagerte Sarajevo, der Lyriker - der in Sarajevo gebliebene Serbe Stevan Tontic. 'Ich habe diese Gedichte in der dreckigsten und schlimmsten Zeit geschrieben, in der Zeit des Hasses und des Mordens und der Vertreibung von Menschen. Ich habe sie geschrieben, während ich darauf wartete, dass man mich umbringt, furchtbar verletzt oder auf jede erdenkliche Weise erniedrigt.' Unter widrigsten Umständen stellte Stevan Tontic an sich selbst hohe ethische und künstlerische Ansprüche: Die Lyrik soll ihre Wahrhaftigkeit inmitten der massiven medialen Propagandalügen bewahren, ihre Menschlichkeit an Orten der Menschenverachtung nicht verlieren, Trost in der Trostlosigkeit spenden und ästhetischen Glanz in dreckigen Zeiten entfalten. Dank einer selten anzutreffenden Konsequenz im Denken und Handeln gelanges Stevan Tontic, diese Kriterien in so vielen Gedichten zu erfüllen, dass seine literarische Glaubwürdigkeit ihresgleichen sucht. Stevan Tontic war mit seiner ironischen und nachdenklichen Art zu schreiben auch vor dem Jugoslawien-Krieg bereits ein anerkannter Lyriker. Er ist Serbe, Bosnier und Europäer zugleich, wobei diese Identitätsschichten nie gegeneinander agieren, sondern miteinander verflochten sind. Nachdem er der 'Hölle von Sarajevo' entkam, nachdem er vom deutschen Exil aus die Bombardierung Belgrads, wo seine Frau Zuflucht gesucht hatte, dramatisch und schmerzhaft erlebte, wurden seine Gedichte zu eindrucksvollen Bekenntnissen und ästhetisch-humanistischen Glanzstücken. In den schlimmsten Zeiten seines Lebens - im Krieg und im Exil - setzte Stevan Tontic alles auf Lyrik, um Zeugnis abzulegen: über all jene, mit denen er solidarisch litt, über Einsamkeit in der Fremde und letztendlich - nach der Rückkehr nach Sarajevo - über die Einsamkeit in der fremd gewordenen Heimat. Diese Auswahl aus den wichtigsten von Stevan Tontics zwölf Gedichtbänden soll zeigen, dass er mit seiner kompromisslosen Haltung 'Lyrik oder nichts' oder noch treffender 'Lyrik gegen Nichts' recht behielt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2015Durch Zufall
am Leben
Der serbische Dichter Stevan
Tontic vertraut auf die Schönheit
Es gibt immer eine Welt von gestern, auf die der Glanz des Verlustes fällt. Für den Serben Stevan Tontic, den Kroaten Mile Stojic, den bosnischen Muslim Abdulah Sidran und die anderen Dichter aus Sarajevo ist es die Zeit, bevor ihre Stadt eingekesselt, belagert, bombardiert wurde. Und bevor das bosnische Experiment, in einer gemeinsamen Stadt das Zusammenleben von mehreren Volksgruppen und Religionsgemeinschaften zu erproben, so blutig zunichte wurde.
Nach dem Krieg kann es nie mehr werden, wie es vorher war; die ihn erlebt haben, wissen heute, dass das Unvorstellbare jederzeit Realität werden und alles zusammenbrechen kann, was Generationen mühsam errichtet haben an zivilisatorischen Normen, Bauwerken, Gewissheiten.
Die Belagerung war für alle Einwohner Sarajevos katastrophal. Eine besondere Belastung aber bedeutete sie für jene weltoffenen Serben, die für die kulturelle Pluralität einstanden und nun in einer Stadt ausharren mussten, die monatelang von serbischen Truppen beschossen wurde. Das dichterische Werk von Stevan Tontic, der bereits vor dem Krieg ein anerkannter Autor war, ist seither ganz den Erfahrungen des Schreckens gewidmet; aber nicht so sehr, weil es immer wieder auch Verrat, Mord, Rache thematisiert, sondern weil der Autor im „täglichen Weltuntergang“ die Moral, die Frage nach dem richtigen Tun und Verhalten des Einzelnen und der Gesellschaft ins Zentrum seiner Lyrik stellt. Das ist einem Buch zu entnehmen, das einen Überblick über das Gesamtwerk von Tontic gibt, der auf Serbisch zwölf Gedichtbände publizierte und für seine in den Berliner Exiljahren entstandene „Handschrift aus Sarajevo“ Ende der neunziger Jahre auch einige deutsche Literaturpreise erhielt.
Vor dem Krieg entwarf er die Existenz des Dichters mit Selbstironie. Von sich und den anderen dichtenden „Nichtschwimmern“ behauptete er: „Geschichten erzählend hielten wir uns über Wasser.“ Im Krieg aber ist alles untergegangen, was die Welt des Stevan Tontic ausgemacht hat – bis auf die Überzeugung, dass ein jeder nicht nur für das verantwortlich ist, was er selber tut, sondern auch für die Dinge, die in seinem Namen geschehen.
Rechenschaft haben gerade die Dichter zu geben. Und Tontic selbst, nur mehr „durch Zufall am Leben, zum Zeugen gemacht“, wendet sich dieser Aufgabe mit großer Ernsthaftigkeit zu. Seine Gedichte setzen sich einen Anspruch, der längst für überkommen, verstaubt, vorgestrig gilt, nämlich in einer Ära der Lüge die Wahrheit zu verfechten, in finsteren Zeiten auf die Schönheit zu vertrauen und in der Hoffnungslosigkeit, ja, Trost zu spenden. Diese Gedichte sind Gegenschriften zur nationalen Propaganda, was in „Das Glück der Taubstummen“ geradezu beispielhaft ausgeführt wird, einem Poem, das, in viele Sprachen übersetzt, bereits Eingang in den Kanon der politischen Lyrik Europas gefunden hat. Der Nachbar räsoniert hier darüber, warum er während des Krieges begann, das alte taubstumme Ehepaar zu beneiden, für das er bisher nur Mitleid empfunden hatte: „Sie waren verschont, Tag und Nacht hören zu müssen/ die Reden großmäuliger Politiker und Generäle,/ Frontberichte und Kommentare eifriger Journalisten und Analytiker,/ die Metaphern patriotischer Dichter,/ die Schwüre und Flüche friedlicher Nachbarn,/ die wahnsinnig wurden vor Grauen.“
Das Grauen zu benennen, aber dem Wahnsinn zu widerstehen, dazu ist für Tontic gerade die Kunst berufen. Zu entdecken ist ein Werk, das ausdrücklich mit dem Wunsch verfasst wurde, Ästhetik und Ethik zu vereinen. Weil ihm das für die Länge eines Gedichts immer wieder gelingt, ist der 1946 geborene Stevan Tontic, gerade so wie Mile Stojic und Abdulah Sidran, einer jener wenigen Lyriker, deren dichterischem Wort in ihrer Heimat auch gesellschaftliche Bedeutung zukommt.
KARL-MARKUS GAUSS
Stevan Tontic: Der tägliche Weltuntergang. Gedichte. Serbisch-Deutsch. Übersetzt von Sabine Fahl, Cornelia Marks, Richard Pietraß, Zvonko Plepelic, André Schinkel, Bärbel Schulte. Drava-Verlag, Klagenfurt 2015, 170 Seiten, 17,80 Euro.
Diese Gedichte sind
Gegenschriften zur
nationalen Propaganda
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am Leben
Der serbische Dichter Stevan
Tontic vertraut auf die Schönheit
Es gibt immer eine Welt von gestern, auf die der Glanz des Verlustes fällt. Für den Serben Stevan Tontic, den Kroaten Mile Stojic, den bosnischen Muslim Abdulah Sidran und die anderen Dichter aus Sarajevo ist es die Zeit, bevor ihre Stadt eingekesselt, belagert, bombardiert wurde. Und bevor das bosnische Experiment, in einer gemeinsamen Stadt das Zusammenleben von mehreren Volksgruppen und Religionsgemeinschaften zu erproben, so blutig zunichte wurde.
Nach dem Krieg kann es nie mehr werden, wie es vorher war; die ihn erlebt haben, wissen heute, dass das Unvorstellbare jederzeit Realität werden und alles zusammenbrechen kann, was Generationen mühsam errichtet haben an zivilisatorischen Normen, Bauwerken, Gewissheiten.
Die Belagerung war für alle Einwohner Sarajevos katastrophal. Eine besondere Belastung aber bedeutete sie für jene weltoffenen Serben, die für die kulturelle Pluralität einstanden und nun in einer Stadt ausharren mussten, die monatelang von serbischen Truppen beschossen wurde. Das dichterische Werk von Stevan Tontic, der bereits vor dem Krieg ein anerkannter Autor war, ist seither ganz den Erfahrungen des Schreckens gewidmet; aber nicht so sehr, weil es immer wieder auch Verrat, Mord, Rache thematisiert, sondern weil der Autor im „täglichen Weltuntergang“ die Moral, die Frage nach dem richtigen Tun und Verhalten des Einzelnen und der Gesellschaft ins Zentrum seiner Lyrik stellt. Das ist einem Buch zu entnehmen, das einen Überblick über das Gesamtwerk von Tontic gibt, der auf Serbisch zwölf Gedichtbände publizierte und für seine in den Berliner Exiljahren entstandene „Handschrift aus Sarajevo“ Ende der neunziger Jahre auch einige deutsche Literaturpreise erhielt.
Vor dem Krieg entwarf er die Existenz des Dichters mit Selbstironie. Von sich und den anderen dichtenden „Nichtschwimmern“ behauptete er: „Geschichten erzählend hielten wir uns über Wasser.“ Im Krieg aber ist alles untergegangen, was die Welt des Stevan Tontic ausgemacht hat – bis auf die Überzeugung, dass ein jeder nicht nur für das verantwortlich ist, was er selber tut, sondern auch für die Dinge, die in seinem Namen geschehen.
Rechenschaft haben gerade die Dichter zu geben. Und Tontic selbst, nur mehr „durch Zufall am Leben, zum Zeugen gemacht“, wendet sich dieser Aufgabe mit großer Ernsthaftigkeit zu. Seine Gedichte setzen sich einen Anspruch, der längst für überkommen, verstaubt, vorgestrig gilt, nämlich in einer Ära der Lüge die Wahrheit zu verfechten, in finsteren Zeiten auf die Schönheit zu vertrauen und in der Hoffnungslosigkeit, ja, Trost zu spenden. Diese Gedichte sind Gegenschriften zur nationalen Propaganda, was in „Das Glück der Taubstummen“ geradezu beispielhaft ausgeführt wird, einem Poem, das, in viele Sprachen übersetzt, bereits Eingang in den Kanon der politischen Lyrik Europas gefunden hat. Der Nachbar räsoniert hier darüber, warum er während des Krieges begann, das alte taubstumme Ehepaar zu beneiden, für das er bisher nur Mitleid empfunden hatte: „Sie waren verschont, Tag und Nacht hören zu müssen/ die Reden großmäuliger Politiker und Generäle,/ Frontberichte und Kommentare eifriger Journalisten und Analytiker,/ die Metaphern patriotischer Dichter,/ die Schwüre und Flüche friedlicher Nachbarn,/ die wahnsinnig wurden vor Grauen.“
Das Grauen zu benennen, aber dem Wahnsinn zu widerstehen, dazu ist für Tontic gerade die Kunst berufen. Zu entdecken ist ein Werk, das ausdrücklich mit dem Wunsch verfasst wurde, Ästhetik und Ethik zu vereinen. Weil ihm das für die Länge eines Gedichts immer wieder gelingt, ist der 1946 geborene Stevan Tontic, gerade so wie Mile Stojic und Abdulah Sidran, einer jener wenigen Lyriker, deren dichterischem Wort in ihrer Heimat auch gesellschaftliche Bedeutung zukommt.
KARL-MARKUS GAUSS
Stevan Tontic: Der tägliche Weltuntergang. Gedichte. Serbisch-Deutsch. Übersetzt von Sabine Fahl, Cornelia Marks, Richard Pietraß, Zvonko Plepelic, André Schinkel, Bärbel Schulte. Drava-Verlag, Klagenfurt 2015, 170 Seiten, 17,80 Euro.
Diese Gedichte sind
Gegenschriften zur
nationalen Propaganda
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