In einem kleinen Dorf in den Bergen, wie es in China zahllose gibt, lebt der vierzehnjährige Li Niannian mit seinen Eltern, die einen Bestattungsladen betreiben. Niannian bezeichnet sich als Niemand, »ein Staubkorn auf einem Haufen Sesam, eine Nisse auf einem Kamel, einem Ochsen oder Schaf«. Alle nennen ihn den dummen Niannian, doch gerade er wird zum unbestechlichen Chronisten der unheimlichen Begebenheiten, die sein Dorf heimsuchen und sich im Laufe einer zunehmend bizarrer werdenden Nacht zutragen. Zunächst bemerkt er ein seltsames Ereignis: Statt sich bettfertig zu machen, tauchen immer mehr Nachbarn auf den Straßen und Feldern auf und gehen ihren Geschäften nach, als wäre die Sonne noch nicht untergegangen. Ratlos bemerkt er, dass sie traumwandeln und dabei alle ihre Wünsche ausleben, die sie während der wachen Stunden unterdrückt haben. Immer mehr Traumwandler tauchen auf, und es dauert nicht lange, bis die Gemeinde im Chaos versinkt. Als der Morgen anbricht, die Sonne aberausbleibt und die Nacht nicht zu enden droht, erhält das über Jahre von seinem Vater gesammelte Leichenfett der Kremierten eine neue Bedeutung, und es liegt nun an ihm und Niannian, die Stadt mit einem Sonnenaufgang in den neuen Tag zu führen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In Yan Liankes neuem Roman erkennt Rezensentin Katharina Borchardt eine literarisch wie theoretisch starke Stimme. Liankes ganzes Schreiben ziele darauf ab, die vom Regime sorgsam konstruierte Realitätsfassade in China zu durchschauen, fasst Borchardt das literarische Projekt des Autors zusammen. Doch welche Mittel stehen einem Schriftsteller zur Verfügung? Man müsse die Wirklichkeit nicht nur beschreiben, sondern diese erkunden, zitiert Borchardt den Autor und Literaturprofessor. So bediene sich Lianke in seinem Schreiben Mythen, Legenden, des Phantastischen und allegorischer Sprache. Nicht anders in seinem neu ins Deutsche übersetzten Roman, einer "tiefschwarzen Geschichte", lobt Borchardt. Lianke erzählt laut Borchardt die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die von einem Tag auf den anderen beginnt, schlafzuwandeln und ins Chaos stürzt. Borchardt fühlt sich durch die roten Fahnen, die in dieser Nacht wehen, an die "jüngste chinesische Geschichte" erinnert und liest in der (alb-)traumhaften Szenerie von Liankes Geschichte das traurige Schicksal einer ganzen Gesellschaft, die parallel zu den "politischen Exzessen" des Staates in Trägheit erstarrt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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