Manchmal würde Vicky ihre Geschwister am liebsten auf den Mond schießen: Ihre 14-jährige Zwillingsschwester Rihanna ist geistig behindert und bringt Vicky dauernd in peinliche Situationen, und ihr zehnjähriger Bruder Jamie hat sowieso nur Unsinn im Kopf. Aber als die Geschwister ihre Pflegeeltern verlassen müssen und getrennt werden sollen, ist ganz klar: So nicht! Wir bleiben zusammen. Und wenn wir weglaufen müssen. Gesagt, getan. Das Ziel ist ihre alte Großtante, in deren Haus am See sie früher glücklich waren. Der Weg dorthin ist voller Gefahren, aber auch voller Abenteuer. Endlich angekommen müssen die Geschwister jedoch feststellen, dass die alte Dame mittlerweile verstorben ist. Und jetzt?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2012Odyssee
Der Sieg der Geschwister
Mutter tot. Vater fort. Geschwisterzoff. Familienkatastrophen sind inzwischen eine feste Größe im Kinderbuch. Geschichten allerdings, die die individuellen Tragödien behutsam in Augenschein nehmen und dabei das feingesponnene Gewebe zwischen Kindern und Erwachsenen in einem sozialen Mikrokosmos ins Zentrum der Erzählung stellen – solche Geschichten sind schon seltener. Zu ihnen gehört jetzt der Debütroman der englischen Drehbuchautorin Laura Summers, Der Tag, an dem wir wegliefen. Immerhin hat er es, unter anderem, schon auf die Nominierungsliste der Carnegie Medal geschafft. Zu Recht.
Nicht das Thema – obwohl dramatisch genug – ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Roman: Drei Geschwister, die in einer Pflegefamilie leben, sollen in verschiedenen Heimen untergebracht werden, nachdem die Pflegemutter nicht mehr im Stande ist, die Kinder zu betreuen. Das Erstaunlichste ist, wie sich Laura Summers den Kindern in dieser Geschichte nähert und sie die Ereignisse aus ihrer eigenen Sicht beschreiben lässt. Rihanna, genannt Ri, und Vicky sind Zwillinge, 14 Jahre alt. Ihr jüngerer Bruder, Jamie, ist zehn. Nachdem die Mutter vor zwei Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben war und der Vater dadurch aus der Bahn geriet, durchlitten die Kinder eine Odyssee. Sie wurden von Heim zu Heim geschoben, bis sich endlich freundliche Pflegeeltern fanden, die bereit waren, alle drei Kinder aufzunehmen. Und dann die Schreckensbotschaft. Ende des Lebens in der Pflegefamilie. Und nun schlüpft Laura Summers in die Zwillingsmädchen und lässt Ri und Vicky die Geschichte einer Flucht aus ihren jeweils eigenen Blickwinkeln erzählen – abwechselnd, von Kapitel zu Kapitel –, in völlig unterschiedlicher Ausdrucksweise. Ri ist nämlich seit Geburt geistig behindert, findet sich in ihrer kleinen Welt aber zurecht, hat ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen und kann ihre Empfindungen gut beschreiben. Nur sind für sie ganz andere Dinge bedeutsam als für ihre Schwester. Und das gibt genügend Stoff für Spannungen zwischen den beiden Mädchen, zu denen sich noch einige Querelen mit dem kleinen Rabauken von Bruder gesellen.
Die gemeinsame Flucht der Kinder aus Angst vor einer Trennung bekommt also zusätzliche Dimensionen. Das Geschehen wird dadurch nicht nur dramatischer, es wird auch vielschichtiger. Zwar ziehen die Kinder an einem Strang und haben ein gemeinsames Ziel vor Augen: Sie wollen zu ihrer alten Großtante, weil ein gemeinsamer Ferienaufenthalt, zusammen mit Mum und Dad, im idyllisch gelegenen Haus der Tante am See mit schönsten Erinnerungen verbunden ist. Eine beschwerliche, abenteuerliche Tour mit vielen Hindernissen beginnt. Und dann kommt ein fremder Junge aus dem Haus am See.
In Der Tag, an dem wir wegliefen verbinden sich spannende Dramaturgie, realistischer Hintergrund, poetische Landschaftsszenerie, glaubwürdige Charaktere und eine – von Eva Riekert treffend ins Deutsche übertragene – lebendige, kindgemäße Sprache, die die Seelennot ohne eine Spur künstlicher Aufgeregtheit in Worte fasst. Damit wird der Debütroman zu einem kleinen Meisterwerk (ab 12 Jahre) SIGGI SEUSS
LAURA SUMMERS: Der Tag, an dem wir wegliefen. Aus dem Englischen von Eva Riekert. dtv junior 2011. 272 Seiten, 14,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der Sieg der Geschwister
Mutter tot. Vater fort. Geschwisterzoff. Familienkatastrophen sind inzwischen eine feste Größe im Kinderbuch. Geschichten allerdings, die die individuellen Tragödien behutsam in Augenschein nehmen und dabei das feingesponnene Gewebe zwischen Kindern und Erwachsenen in einem sozialen Mikrokosmos ins Zentrum der Erzählung stellen – solche Geschichten sind schon seltener. Zu ihnen gehört jetzt der Debütroman der englischen Drehbuchautorin Laura Summers, Der Tag, an dem wir wegliefen. Immerhin hat er es, unter anderem, schon auf die Nominierungsliste der Carnegie Medal geschafft. Zu Recht.
Nicht das Thema – obwohl dramatisch genug – ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Roman: Drei Geschwister, die in einer Pflegefamilie leben, sollen in verschiedenen Heimen untergebracht werden, nachdem die Pflegemutter nicht mehr im Stande ist, die Kinder zu betreuen. Das Erstaunlichste ist, wie sich Laura Summers den Kindern in dieser Geschichte nähert und sie die Ereignisse aus ihrer eigenen Sicht beschreiben lässt. Rihanna, genannt Ri, und Vicky sind Zwillinge, 14 Jahre alt. Ihr jüngerer Bruder, Jamie, ist zehn. Nachdem die Mutter vor zwei Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben war und der Vater dadurch aus der Bahn geriet, durchlitten die Kinder eine Odyssee. Sie wurden von Heim zu Heim geschoben, bis sich endlich freundliche Pflegeeltern fanden, die bereit waren, alle drei Kinder aufzunehmen. Und dann die Schreckensbotschaft. Ende des Lebens in der Pflegefamilie. Und nun schlüpft Laura Summers in die Zwillingsmädchen und lässt Ri und Vicky die Geschichte einer Flucht aus ihren jeweils eigenen Blickwinkeln erzählen – abwechselnd, von Kapitel zu Kapitel –, in völlig unterschiedlicher Ausdrucksweise. Ri ist nämlich seit Geburt geistig behindert, findet sich in ihrer kleinen Welt aber zurecht, hat ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen und kann ihre Empfindungen gut beschreiben. Nur sind für sie ganz andere Dinge bedeutsam als für ihre Schwester. Und das gibt genügend Stoff für Spannungen zwischen den beiden Mädchen, zu denen sich noch einige Querelen mit dem kleinen Rabauken von Bruder gesellen.
Die gemeinsame Flucht der Kinder aus Angst vor einer Trennung bekommt also zusätzliche Dimensionen. Das Geschehen wird dadurch nicht nur dramatischer, es wird auch vielschichtiger. Zwar ziehen die Kinder an einem Strang und haben ein gemeinsames Ziel vor Augen: Sie wollen zu ihrer alten Großtante, weil ein gemeinsamer Ferienaufenthalt, zusammen mit Mum und Dad, im idyllisch gelegenen Haus der Tante am See mit schönsten Erinnerungen verbunden ist. Eine beschwerliche, abenteuerliche Tour mit vielen Hindernissen beginnt. Und dann kommt ein fremder Junge aus dem Haus am See.
In Der Tag, an dem wir wegliefen verbinden sich spannende Dramaturgie, realistischer Hintergrund, poetische Landschaftsszenerie, glaubwürdige Charaktere und eine – von Eva Riekert treffend ins Deutsche übertragene – lebendige, kindgemäße Sprache, die die Seelennot ohne eine Spur künstlicher Aufgeregtheit in Worte fasst. Damit wird der Debütroman zu einem kleinen Meisterwerk (ab 12 Jahre) SIGGI SEUSS
LAURA SUMMERS: Der Tag, an dem wir wegliefen. Aus dem Englischen von Eva Riekert. dtv junior 2011. 272 Seiten, 14,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Meisterhaft findet Rezensent Siggi Seuss Laura Summers Jugendroman "Der Tag, an dem wir wegliefen", in dem drei Kinder aus ihrer Pflegefamilie weglaufen, weil sie in drei verschiedenen Heimen untergebracht werden sollen. Weniger der Stoff ist für den Rezensenten aufregend als die wechselnden Perspektiven, aus denen die englische Drehbuchautorin ihren Debütroman erzählt. Von Kapitel zu Kapitel wird nämlich einmal aus der Sicht der geistig behinderten Vierzehnjährigen Ri und ihrer Zwillingsschwester Vicky berichtet, was zu vielschichtigen, einfühlsamen Schilderungen der Situation führt, wie der Seuss lobt. Dass die Beziehung der Kinder untereinander auch nicht ohne Konflikte ist, gibt dem Roman eine zusätzliche Dimension, wie der Rezensent anerkennend bemerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Eine aufwühlende, tief berührende Geschichte - ganz großes Kino.
Maren Bonacker Gießener Zeitung 20120804
Maren Bonacker Gießener Zeitung 20120804