An der Straße von Rabat nach Salé wartet eine Menschenmenge auf die Ankunft Hassans II., des Königs von Marokko. Mitten darin zwei Jungen.Khalid stammt aus einem herrschaftlichen Haus im reichsten Viertel der Stadt, Omar aus der armen Vorstadt. Dennoch sind sie unzertrennlich. Omar liebt Khalid, den feingliedrigen Jungen mit der zarten Haut und den überspannten Ideen. Und Khalid Omar, der mit seinen vierzehn Jahren schon die Verantwortung für seinen Vater trägt. Der ist wie ein kleines Kind, seit Omars Mutter die Familie verlassen hat. Doch unter dieser Beziehung der beiden ungleichen Jungen lauern Abgründe. Und jetzt ist überdies Khalid ausgewählt, als reichster und bester Schüler der Klasse dem König die Hand zu küssen. Er hat Omar nichts davon gesagt. Dieser Verrat läßt die Kluft zwischen beiden aufbrechen - und verlangt ein Opfer. Lakonisch, dramatisch, mit kunstvoller Theatralik erzählt der marokkanische Autor Abdellah Taïa, wie Liebe umschlägt in Gewalt unter einem von sozialer Ungleichheit und Tabus geprägten despotischen Regime.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Auszeichnung mit dem Prix de Flore hat Abdellah Taias neuer Roman "Der Tag des Königs" sicher auch dem öffentlichen, mutigen Bekenntnis des marokkanischen Autors zu seiner Homosexualität zu verdanken, glaubt Rezensentin Angela Schader. Denn bei allem Lob, das die Kritikerin etwa über die "zwischen Expressivität und kunstvoller Patzigkeit" springenden Dialoge der jungen Protagonisten oder die "subtile" Schilderung dieser durch Träume und den Glauben an Magie fast surreal scheinenden Welt äußert, erscheint ihr der ohne Frage innovative Roman thematisch doch ein wenig zu überladen: Sie folgt hier nicht nur der konfliktreichen, obsessiven Liebesziehung zwischen dem armen, 14-jährigen Jungen Omar und seinem aus reichen Verhältnissen stammenden Schulfreund Khalid, sondern erfährt neben Hintergründen über das repressive Regime Hassans II, auch einiges - und doch zu wenig - über Omars Mutter, die die Familie verlassen hatte, nachdem der Vater sie zu einer "Hure gut abgerichtet" habe. Dennoch kann die Rezensentin dieses "vielversprechende" Buch nur bedingt empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2012Ein Handkuss für Hassan
Homosexualität ist eine Option: Mit seinem Roman "Der Tag des Königs" sagt Abdellah Taïa den Missständen und der geistigen Enge Marokkos in den achtziger Jahren den Kampf an.
Nein, es ist unmöglich, zu sein oder zu werden wie er. Die ganze Biographie steht dagegen, auch dann, wenn diese erst vierzehn Jahre zählt. Aber diese vierzehn Jahre genügen, einen Körper auf alle Zeiten zu zeichnen, ihm Spuren einzuschreiben, die er niemals wird ablegen können. Wie eine Tätowierung prägen sich die Zeichen der Armut dem Körper ein, werden auf immer über seine Herkunft Auskunft geben. Es stimmt darum nicht, dass erst Kleider Leute machen. Die Leute sind, was sie sind, auch ohne sie. Und so weiß Omar, als er den Freund zum ersten Mal nackt sieht, dass ihre Wege sich scheiden werden. Das Leben, spürt er, wird sie auseinandertreiben. In Marokko, wo Herkunft viel und Leistung wenig zählt, kann es kaum anders sein.
Die soziale Epiphanie, die der marokkanische Autor Abdellah Taïa in seinem Roman "Der Tag des Königs" in einigen wenigen Zeilen aufleuchten lässt, ist trotz ihrer Kürze eine der zentralen Passagen des Buches. Unmissverständlich macht sie dem Erzähler klar, wo er steht: nämlich auf der Seite derer, die, sosehr sie sich auch mühen, auf allzu viel nicht hoffen dürfen. Im Gegenteil, der Blick auf den blühenden Körper des Freundes signalisiert Omar, dass er auf immer bleiben wird, was er ist: ein namen- und hoffnungsloses Geschöpf der marokkanischen Unterschicht. Die in der Heimat gängigen Prädestinationslehren, versteht er in diesem Moment, lassen auch soziale Mobilität nicht zu.
So nachdrücklich diese Epiphanie daherkommt, so sehr verzichtet der 1973 geborene Taïa darauf, sie in Form eines Pamphlets oder gar einer Anklageschrift zu präsentieren. Stattdessen entfaltet sich seine literarische Bestandsaufnahme der marokkanischen Gesellschaft der achtziger Jahre als kleines Tableau, dessen verschiedene Motive allesamt das Thema der Stagnation umreißen - einer Stagnation, die soziale, politische, ganz wesentlich aber auch mythische Gründe hat.
Mythische, weil die Gesellschaft befangen ist. Denn sie steht nicht nur unter der Regierung, sondern auch dem Bann ihres Königs, Hassans II. Fast vier Jahrzehnte lang, von 1961 bis 1999, herrschte er über sein Land, ausgestattet mit einer Machtfülle absolutistischen Ausmaßes. Dynamik und Veränderung sind seine Sache nicht, stattdessen legt er Wert darauf, dass die Dinge und die Menschen bleiben, wo sie sind. Alles hat seinen Platz, so könnte man die Maxime des Königs umreißen, und der wird bestimmt durch eine althergebrachte Ordnung. Und weil er zugleich nichts dabei findet, Kritiker und Opponenten in seine "Geheimen Gärten", die Konzentrationslager in den Tiefen der Sahara, zu schicken, sich das Land darum kulturell und intellektuell über Jahre kaum ändert, wird Hassan zur übermächtigen Gestalt, zu einem Gebieter, der seine Untertanen nicht nur politisch, sondern auch psychologisch fest im Griff hat.
Umso verzückter ist Omar, als sich ihm die Gelegenheit bietet, dem König anlässlich eines Empfangs die Hand zu küssen - eine unerhörte Ehre für einen wie ihn, geboren und aufgewachsen im Staub der Vorstädte, weit weg von den Palästen der Königs. Doch nun fühlt er sich ihm nahe wie nie zuvor. Schritt für Schritt, behutsam und voller Ehrfurcht, nähert er sich dem Überwesen. Fast versagen ihm die Sinne den Dienst, so erhebend und verstörend ist die königliche Gegenwart. Bis auf wenige Zentimeter hat er sich dem König schon genähert, dann beugt er sich zum Handkuss. Dreimal haucht er seine Lippen auf die königliche Hand. Der König lässt es geschehen, befiehlt Omar aber dann, ihm das Datum seiner Thronbesteigung zu nennen. Der aber, völlig entrückt, nennt ihm stattdessen das Jahr 1956, das Datum der marokkanischen Revolution. Der König lacht, der Junge stimmt ein. Ein schüttelndes Lachen, das ihn alsbald aus dem Schlaf reißt, in eine Realität weit weg von den Palästen: Die Gelegenheit zum Handkuss war nur geträumt.
Ein König, der seine Untertanen bis in den Schlaf hinein verfolgt: Nichts könnte anschaulicher die Macht Hassans II. demonstrieren, die Furcht eben-so wie die Faszination, die die Marokkaner für ihr Oberhaupt empfanden. Umso wunderbarer scheint jener Tag, an dem Hassan Salé besucht, die Heimatstadt Omars und des ebendort geborenen Schriftstellers Abdellah Taïa. Nun ergibt sich tatsächlich, ganz real, die Chance zum erträumten Handkuss. Doch nicht Omar wird diese Ehre zuteil, sondern seinem Freund Khalid, Sohn aus bestem marokkanischem Hause. Der aber verschweigt ihm zunächst die Ehre, was Omar als ungeheuren Verrat empfindet. Denn Omar und Khalid haben ein denkbar enges Verhältnis, intellektuell und körperlich. Zusammen haben sie die ersten erotischen Erfahrungen gemacht: der eine, weil Mädchen unerreichbar sind, einer natürlichen Neigung folgend der andere.
Während Taïa sich der Figur Hassan II. mit literarischen Mitteln zum ersten Mal nähert, hat er die Homosexualität in sämtlichen seiner - noch nicht ins Deutsche übertragenen - Romane aufgegriffen. Denn wie für Omar ist auch für Abdellah Taïa die Homosexualität keine Verlegenheitslösung, sondern eine bewusst gewählte Option. Um dazu beizutragen, die homoerotische Spielart des Begehrens in seinem Heimatland hoffähig zu machen, entschloss sich Taïa vor fünf Jahren, sich öffentlich zu ihr zu bekennen - durch ein Interview in einem marokkanischen Nachrichtenmagazin, das allerdings nicht auf Arabisch, sondern auf Französisch erscheint - und damit zu den islamisch geprägten Traditionen seines Heimatlandes in größerer Distanz steht. Denn das Französische ist (noch) die Verkehrssprache der marokkanischen Moderne. Auf Französisch hat Taïa vor zwei Jahren einen Sammelband mit dem Titel "Lettres à un jeune marocain" (Briefe an einen jungen Marokkaner) herausgegeben, in dem marokkanische Autoren ihre Sicht auf die Heimat darlegen. Die Kritik hätte deutlicher und schärfer kaum ausfallen können. Heute lässt sich der Band als Präludium zu den arabischen Aufständen lesen, die in Marokko allerdings weniger heftig ausfielen als in anderen Ländern der Region. Auch dieser Band war ein Schritt zur Überwindung jener beengten und beengenden Verhältnisse, die Taïa in seinen Romanen beschreibt.
KERSTEN KNIPP
Abdellah Taïa: "Der Tag des Königs". Roman.
Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 179 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Homosexualität ist eine Option: Mit seinem Roman "Der Tag des Königs" sagt Abdellah Taïa den Missständen und der geistigen Enge Marokkos in den achtziger Jahren den Kampf an.
Nein, es ist unmöglich, zu sein oder zu werden wie er. Die ganze Biographie steht dagegen, auch dann, wenn diese erst vierzehn Jahre zählt. Aber diese vierzehn Jahre genügen, einen Körper auf alle Zeiten zu zeichnen, ihm Spuren einzuschreiben, die er niemals wird ablegen können. Wie eine Tätowierung prägen sich die Zeichen der Armut dem Körper ein, werden auf immer über seine Herkunft Auskunft geben. Es stimmt darum nicht, dass erst Kleider Leute machen. Die Leute sind, was sie sind, auch ohne sie. Und so weiß Omar, als er den Freund zum ersten Mal nackt sieht, dass ihre Wege sich scheiden werden. Das Leben, spürt er, wird sie auseinandertreiben. In Marokko, wo Herkunft viel und Leistung wenig zählt, kann es kaum anders sein.
Die soziale Epiphanie, die der marokkanische Autor Abdellah Taïa in seinem Roman "Der Tag des Königs" in einigen wenigen Zeilen aufleuchten lässt, ist trotz ihrer Kürze eine der zentralen Passagen des Buches. Unmissverständlich macht sie dem Erzähler klar, wo er steht: nämlich auf der Seite derer, die, sosehr sie sich auch mühen, auf allzu viel nicht hoffen dürfen. Im Gegenteil, der Blick auf den blühenden Körper des Freundes signalisiert Omar, dass er auf immer bleiben wird, was er ist: ein namen- und hoffnungsloses Geschöpf der marokkanischen Unterschicht. Die in der Heimat gängigen Prädestinationslehren, versteht er in diesem Moment, lassen auch soziale Mobilität nicht zu.
So nachdrücklich diese Epiphanie daherkommt, so sehr verzichtet der 1973 geborene Taïa darauf, sie in Form eines Pamphlets oder gar einer Anklageschrift zu präsentieren. Stattdessen entfaltet sich seine literarische Bestandsaufnahme der marokkanischen Gesellschaft der achtziger Jahre als kleines Tableau, dessen verschiedene Motive allesamt das Thema der Stagnation umreißen - einer Stagnation, die soziale, politische, ganz wesentlich aber auch mythische Gründe hat.
Mythische, weil die Gesellschaft befangen ist. Denn sie steht nicht nur unter der Regierung, sondern auch dem Bann ihres Königs, Hassans II. Fast vier Jahrzehnte lang, von 1961 bis 1999, herrschte er über sein Land, ausgestattet mit einer Machtfülle absolutistischen Ausmaßes. Dynamik und Veränderung sind seine Sache nicht, stattdessen legt er Wert darauf, dass die Dinge und die Menschen bleiben, wo sie sind. Alles hat seinen Platz, so könnte man die Maxime des Königs umreißen, und der wird bestimmt durch eine althergebrachte Ordnung. Und weil er zugleich nichts dabei findet, Kritiker und Opponenten in seine "Geheimen Gärten", die Konzentrationslager in den Tiefen der Sahara, zu schicken, sich das Land darum kulturell und intellektuell über Jahre kaum ändert, wird Hassan zur übermächtigen Gestalt, zu einem Gebieter, der seine Untertanen nicht nur politisch, sondern auch psychologisch fest im Griff hat.
Umso verzückter ist Omar, als sich ihm die Gelegenheit bietet, dem König anlässlich eines Empfangs die Hand zu küssen - eine unerhörte Ehre für einen wie ihn, geboren und aufgewachsen im Staub der Vorstädte, weit weg von den Palästen der Königs. Doch nun fühlt er sich ihm nahe wie nie zuvor. Schritt für Schritt, behutsam und voller Ehrfurcht, nähert er sich dem Überwesen. Fast versagen ihm die Sinne den Dienst, so erhebend und verstörend ist die königliche Gegenwart. Bis auf wenige Zentimeter hat er sich dem König schon genähert, dann beugt er sich zum Handkuss. Dreimal haucht er seine Lippen auf die königliche Hand. Der König lässt es geschehen, befiehlt Omar aber dann, ihm das Datum seiner Thronbesteigung zu nennen. Der aber, völlig entrückt, nennt ihm stattdessen das Jahr 1956, das Datum der marokkanischen Revolution. Der König lacht, der Junge stimmt ein. Ein schüttelndes Lachen, das ihn alsbald aus dem Schlaf reißt, in eine Realität weit weg von den Palästen: Die Gelegenheit zum Handkuss war nur geträumt.
Ein König, der seine Untertanen bis in den Schlaf hinein verfolgt: Nichts könnte anschaulicher die Macht Hassans II. demonstrieren, die Furcht eben-so wie die Faszination, die die Marokkaner für ihr Oberhaupt empfanden. Umso wunderbarer scheint jener Tag, an dem Hassan Salé besucht, die Heimatstadt Omars und des ebendort geborenen Schriftstellers Abdellah Taïa. Nun ergibt sich tatsächlich, ganz real, die Chance zum erträumten Handkuss. Doch nicht Omar wird diese Ehre zuteil, sondern seinem Freund Khalid, Sohn aus bestem marokkanischem Hause. Der aber verschweigt ihm zunächst die Ehre, was Omar als ungeheuren Verrat empfindet. Denn Omar und Khalid haben ein denkbar enges Verhältnis, intellektuell und körperlich. Zusammen haben sie die ersten erotischen Erfahrungen gemacht: der eine, weil Mädchen unerreichbar sind, einer natürlichen Neigung folgend der andere.
Während Taïa sich der Figur Hassan II. mit literarischen Mitteln zum ersten Mal nähert, hat er die Homosexualität in sämtlichen seiner - noch nicht ins Deutsche übertragenen - Romane aufgegriffen. Denn wie für Omar ist auch für Abdellah Taïa die Homosexualität keine Verlegenheitslösung, sondern eine bewusst gewählte Option. Um dazu beizutragen, die homoerotische Spielart des Begehrens in seinem Heimatland hoffähig zu machen, entschloss sich Taïa vor fünf Jahren, sich öffentlich zu ihr zu bekennen - durch ein Interview in einem marokkanischen Nachrichtenmagazin, das allerdings nicht auf Arabisch, sondern auf Französisch erscheint - und damit zu den islamisch geprägten Traditionen seines Heimatlandes in größerer Distanz steht. Denn das Französische ist (noch) die Verkehrssprache der marokkanischen Moderne. Auf Französisch hat Taïa vor zwei Jahren einen Sammelband mit dem Titel "Lettres à un jeune marocain" (Briefe an einen jungen Marokkaner) herausgegeben, in dem marokkanische Autoren ihre Sicht auf die Heimat darlegen. Die Kritik hätte deutlicher und schärfer kaum ausfallen können. Heute lässt sich der Band als Präludium zu den arabischen Aufständen lesen, die in Marokko allerdings weniger heftig ausfielen als in anderen Ländern der Region. Auch dieser Band war ein Schritt zur Überwindung jener beengten und beengenden Verhältnisse, die Taïa in seinen Romanen beschreibt.
KERSTEN KNIPP
Abdellah Taïa: "Der Tag des Königs". Roman.
Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 179 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main