»Russlands Gegenwart ist nur noch mit den Mitteln der Satire zu beschreiben.« Vladimir Sorokin Russland im Jahr 2027. Das Land hat sich vom Westen abgeschottet, lebt allein vom Gas- und Ölexport, pflegt Handelskontakte nur noch mit China und wird vom »Gossudar«, einem absoluten Alleinherrscher regiert. Dieser übt seine Macht mithilfe der Opritschniki, der »Auserwählten«, aus: einer allmächtigen Leibgarde, die vor keiner Bestialität zurückschreckt.
Die Zeit der großen Wirren ist vorbei, die Restauration beendet. Nun hat die Monarchie wieder die Macht ergriffen. Das Land ist von der Großen Russischen Mauer umgeben und - bei allem technologischen Fortschritt - in die dunkle Zeit Iwans des Schrecklichen zurückgefallen.
Die Opritschniki, die »Diener des Gossudar«, sind in roten Limousinen unterwegs, mit Hundeköpfen an den Stoßstangen und Besen am Kofferraum - Symbole dafür, dass jeglicher Widerstand ausgemerzt und von der russischen Erde gefegt wird. Zu dieser brutalen und korrupten Elite gehört auch Andrej. Seinen Arbeitstag beginnt er mit der Hinrichtung eines in Ungnade gefallenen Oligarchen, dann wohnt er der Auspeitschung von Intellektuellen bei, ist der liebestollen Gemahlin des Gossudar zu Diensten und beschließt den Tag mit einer dekadenten Orgie.
Der Tag des Opritschniks ist eine schmerzhafte Satire, eine negative Utopie im Sinne von Huxley, Orwell und Burgess. Das Erschreckende daran ist, dass sie der russischen Gegenwart beunruhigend nahekommt.
Der Tag des Opritschniks erscheint im Januar 2008 gleichzeitig in elf Sprachen.
»Das epochale Werk blickt ins Innere jenes schwarzen Knotens, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und es tut dies ebenso märchenhaft zeitlos wie hochaktuell.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Zeit der großen Wirren ist vorbei, die Restauration beendet. Nun hat die Monarchie wieder die Macht ergriffen. Das Land ist von der Großen Russischen Mauer umgeben und - bei allem technologischen Fortschritt - in die dunkle Zeit Iwans des Schrecklichen zurückgefallen.
Die Opritschniki, die »Diener des Gossudar«, sind in roten Limousinen unterwegs, mit Hundeköpfen an den Stoßstangen und Besen am Kofferraum - Symbole dafür, dass jeglicher Widerstand ausgemerzt und von der russischen Erde gefegt wird. Zu dieser brutalen und korrupten Elite gehört auch Andrej. Seinen Arbeitstag beginnt er mit der Hinrichtung eines in Ungnade gefallenen Oligarchen, dann wohnt er der Auspeitschung von Intellektuellen bei, ist der liebestollen Gemahlin des Gossudar zu Diensten und beschließt den Tag mit einer dekadenten Orgie.
Der Tag des Opritschniks ist eine schmerzhafte Satire, eine negative Utopie im Sinne von Huxley, Orwell und Burgess. Das Erschreckende daran ist, dass sie der russischen Gegenwart beunruhigend nahekommt.
Der Tag des Opritschniks erscheint im Januar 2008 gleichzeitig in elf Sprachen.
»Das epochale Werk blickt ins Innere jenes schwarzen Knotens, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und es tut dies ebenso märchenhaft zeitlos wie hochaktuell.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2008Die Monstersklaven sind unter uns
Wladimir Sorokins dunkle Russland-Vision "Tag des Opritschnik" sollte abschreckend wirken. Stattdessen ist der Roman zum Kultbuch avanciert, den die russische Gegenwart schon eingeholt hat.
Von Kerstin Holm
MOSKAU, im Dezember
Als Wladimir Sorokin vor drei Jahren seinen antiutopischen Zukunftsroman "Tag des Opritschnik" veröffentlichte, hoffte er insgeheim, die literarische Vision könnte auf die russische Wirklichkeit wirken wie ein Abwehrzauber. In dem Buch extrapoliert Sorokin die Zukunft des immer autoritärer werdenden Russland im Jahr 2027 als christlich orthodoxer Terrorstaat. Mit dem Segen des Herrschers und der Kirche hält ein brutaler Geheimorden eine materiell wie geistig verarmte Bevölkerung permanent in Angst und Schrecken. Öl- und Gaslieferungen nach Europa und China sind der letzte verbliebene Kontakt zur Außenwelt. Ihre Auslandspässe haben die Menschen feierlich verbrannt. Die Intellektuellen sind emigriert oder wurden umgebracht. Die übrigen Gebildeten haben die vaterländische Kultur eigenhändig von "überflüssigem" Schrifttum gesäubert.
Der "Opritschnik" wurde auch deshalb zum Kultbuch, weil darin die Seelenökonomie der Terrorordensbrüder an einem Seniormitglied exemplarisch vorgeführt wird. Der Leser begleitet Sorokins Helden, in dem sich Züge Petersburger Geheimdienstler und Moskauer Strafverfolger zu einem monströsen Archetyp bündeln, durch einen Arbeitstag, an dem er einen Oligarchen liquidiert, Zollgeschäfte seiner Kompagnons gegen konkurrierende Kreml-Protegés verteidigt und nebenbei von einer Ballerina, die sich für eine Verhaftete einsetzt, Geld und Rauschgift erpresst. Man erlebt, wie sich der staatliche Häscher mit dem altrussischen Kampfschrei "Goida!" in Mordlaune versetzt, wie er nach blutigen Einsätzen im Gottesdienst zur Ruhe kommt und wie ein innerer Huldigungsmonolog an Herrscher und Rechtgläubigkeit alle persönlichen Gewissensregungen ertränkt.
Mit seinem "Opritschnik", der schon im Titel auf Solschenizyns "Tag des Iwan Denissowitsch" antwortet, zeichnet Sorokin ein exemplarisches Psychogramm der Putin-Epoche. Angesichts der neu aufblühenden Sowjetnostalgie ist der Kontrast des Solschenizyn-Klassikers, worin Generationen von Sowjetbürgern sich wiedererkannten, zur bösen Blume des russischen Kapitalismus umso eindrucksvoller. Solschenizyns Held war ein sowjetischer GULag-Häftling, der Zwangsarbeit, Unterernährung, Kälte und Krankheit durchsteht und dabei Funken menschlichen Anstands und minimale Freiräume bewahrt. Sorokins Ich-Figur steht auf der Seite der Unterdrücker. Er ist der Monstersklave, der im Namen der höheren staatlichen Sache das Humane in sich ausmerzt wie schon der Tschekist im russischen Bürgerkrieg. Die Opritschnina, die die privilegierte Sphäre des Herrscherinteresses bezeichnet, wurde von Zar Iwan dem Schrecklichen als christlich gerechtfertigtes Okkupationssystem erfunden. Das Wort leitet sich ab von "opritsch", zu Deutsch "ausgenommen", und steht für die Sondervollmachten, dank derer die Staatsstützen die Zivilbevölkerung, die bei Sorokin wie im sechzehnten Jahrhundert wie-der "Semschtschina" (etwa: Landwesen) heißt, malträtieren dürfen.
Der "Opritschnik" wurde zur Lieblingslektüre sowohl liberaler als auch patriotischer Intellektueller. Die Menschenrechtskämpferin Valeria Nowodworskaja und die Partylöwin Xenia Sobtschak zeigten sich gleichermaßen begeistert. Der Geschäftsmann Boris Beresowski, der vor Putin ins Londoner Exil geflüchtet war wie einst Fürst Kurbski vor Iwan dem Schrecklichen nach Litauen, empfahl in seinem jährlichen Internet-Sendschreiben an den Kremlherrn, Putin, den er nach alter Freundschaft als "Wolodja" anspricht, solle den "Opritschnik" unbedingt lesen. Im Umkreis des Präsidenten lobt man Sorokins Buch als "äußerst treffend". Die Beamten ließen dem Schriftsteller ausrichten, der "Goida"-Ruf, mit dem man sich auf das Zerschmettern von Feinden einstimmt, sei ihnen unvergesslich. Vollends unheimlich war für Sorokin das Kompliment der Jugendorganisation der neuimperialen Eurasier, die den "Opritschnik" als prophetisches Werk begrüßten, das vorführt, was Russlands inneren Feinden blüht.
Seither hat sich die russische Wirklichkeit nach dem Szenario des "Opritschnik" entwickelt, bekommt Sorokin von Freunden und Bekannten zu hören. Die Petersburger Klanchefs, die auch äußerlich für Opritschniki durchgehen könnten, haben die Rohstoffkonzerne fest in der Hand. Wer sich gegen Beamtenwillkür wehrt, lebt gefährlich. Vor wenigen Tagen wurde in Chimki bei Moskau der Journalist Michail Beketow, der gegen illegale Finanzgeschäfte und Abholzungspläne der Regierung protestiert hatte, von Unbekannten fast zu Tode geprügelt. Der Strafprozess der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, die von der Obrigkeit gedeckte Bluttaten in Tschetschenien und der russischen Armee angeprangert hatte, findet ohne den mutmaßlichen Mörder statt, weil der wegen einer gezielten Indiskretion der Ermittler fliehen konnte. Und der tschetschenische Präsident Kadyrow, der Frau Politkowskaja mehrfach bedrohte, wurde nicht einmal als Zeuge befragt. Unterdessen wollte die Russische Orthodoxe Kirche, deren Priester eifrig Atom-U-Boote und Raketen segnen, angesichts der Wirtschaftskrise schon rechtgläubige Volksmilizen organisieren, die Volksproteste von Krisenopfern niederschlagen sollten.
Der Stoff ließ den Schriftsteller schon damals auch literarisch nicht los. Nach der Innensicht eines Systemträgers wollte er, sagt Sorokin, auch die übrigen Bewohner eines solchen Imperiums kennenlernen. So entstand der Folgeband "Zuckerkreml" (Sacharnyj kreml), der, in fünfzehn Erzählungen, Hofnarren, Henker, Zwangsarbeiter, Bettler und Dissidenten auf ihrem Lebensweg ein Stück begleitet. Das Buch, das 2010 bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch erscheinen soll, entführt seine Leser in ein neues Mittelalter der Informationstechnologie und der Massenarmut. Weil alle Brennstoffe ins Ausland verkauft werden, heizen auch wohlsituierte Moskauer mit Holzscheiten, und die Aufzüge der Wohnhäuser stehen am Wochenende still. Dafür leuchtet in der "guten" Wohnzimmerecke die interaktive 3-D-Ikone des Herrschers. Und am Weihnachtstag erscheint den auf dem Roten Platz versammelten Kindern im Winterhimmel sein lächelndes Antlitz.
Sorokins "Zuckerkreml" zufolge führt die Wirtschaftskrise in Russland in ein Zimbabwe-Szenario. Von bürgerlichen Berufen und Besitztümern ist hier in zwanzig Jahren kaum noch etwas übrig. Von den regierungseigenen Wohnhäusern unterscheiden sich die öffentlichen dadurch, dass in ihren Treppenhäusern Müll herumliegt. Viele Privatdomizile, deren Bewohner kein Schutzgeld zahlen wollten, wurden von den Opritschniki niedergebrannt. Und neuerdings brennen auch die Datschen fern von Moskau samt Gesinde, weil der Staat dann vom Besitzer Kompensationszahlungen für umgekommenes Steuervolk verlangen kann.
Die Opritschnina-Begeisterung ist heute, zu Sorokins Entsetzen, in Moskau salonfähig. Der vom Kreml protegierte Senior-Eurasier Alexander Dugin schlug vor, da im russischen Staat die Korruption systemisch, also untherapierbar sei, die "patriotische" von der unpatriotischen Korruption zu unterscheiden. Erstere sei das geringere Übel. Das Schmiergeld, das die Kommissare eintreiben, so Dugin, bleibe wenigstens im Land. In Wahrheit enttarne der Staat illegale Geschäfte bei Privatleuten, deckt sie aber in den Ministerien, verrät Dugin, der als russischer Machiavelli beim Namen nennt, was die meisten tun und doch leugnen.
In Sorokins "Zuckerkreml" ist die körperliche Züchtigung tägliches Brot. Die Mutter schlägt ihr Kind, der Aufseher peitscht den Zwangsarbeiter, der Gatte schlägt die Gattin oder bringt sie, wenn er dies selbst nicht vermag, zum Verprügeln auf die Polizeistation. Dafür entschädigt die nationale Leckerei, eine Kremlreplik aus reinem Zucker. Der süße Fetisch, an dem sich schon Iwan der Schreckliche delektierte, wird in Sorokins Zukunft fabrikmäßig hergestellt.
Die Bitterkeit und Übersüße des authentisch russischen Lebensgefühls kann man seit einiger Zeit kulinarisch studieren. Im September wurde im Moskauer Kaufmannsviertel, wo Iwan der Schreckliche die erste Wodkakneipe für seine gefürchteten Sondergarden installierte, das Restaurant "Opritschnik" eröffnet, das auf seine bitteren Schnäpse ebenso stolz ist wie auf die Desserts und Teemischungen, die mit einer Extraportion Zucker oder Honig genossen werden. Gern kehren Geheimdienstler und Militärs hier ein und trinken aufs Vaterland. Iwan der Schreckliche sah in den Opritschniki apokalyptische Reiter, die die Welt säubern, erklärt die Restaurantbesitzerin Jelena Jaworskaja. In jener Epoche, da in England siebzigtausend Armutsnomaden aufgehängt wurden, töteten die russischen Opritschniki nur etwa sieben- bis neuntausend Menschen, sagt Frau Jaworskaja - und niemanden aus dem einfachen Volk.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wladimir Sorokins dunkle Russland-Vision "Tag des Opritschnik" sollte abschreckend wirken. Stattdessen ist der Roman zum Kultbuch avanciert, den die russische Gegenwart schon eingeholt hat.
Von Kerstin Holm
MOSKAU, im Dezember
Als Wladimir Sorokin vor drei Jahren seinen antiutopischen Zukunftsroman "Tag des Opritschnik" veröffentlichte, hoffte er insgeheim, die literarische Vision könnte auf die russische Wirklichkeit wirken wie ein Abwehrzauber. In dem Buch extrapoliert Sorokin die Zukunft des immer autoritärer werdenden Russland im Jahr 2027 als christlich orthodoxer Terrorstaat. Mit dem Segen des Herrschers und der Kirche hält ein brutaler Geheimorden eine materiell wie geistig verarmte Bevölkerung permanent in Angst und Schrecken. Öl- und Gaslieferungen nach Europa und China sind der letzte verbliebene Kontakt zur Außenwelt. Ihre Auslandspässe haben die Menschen feierlich verbrannt. Die Intellektuellen sind emigriert oder wurden umgebracht. Die übrigen Gebildeten haben die vaterländische Kultur eigenhändig von "überflüssigem" Schrifttum gesäubert.
Der "Opritschnik" wurde auch deshalb zum Kultbuch, weil darin die Seelenökonomie der Terrorordensbrüder an einem Seniormitglied exemplarisch vorgeführt wird. Der Leser begleitet Sorokins Helden, in dem sich Züge Petersburger Geheimdienstler und Moskauer Strafverfolger zu einem monströsen Archetyp bündeln, durch einen Arbeitstag, an dem er einen Oligarchen liquidiert, Zollgeschäfte seiner Kompagnons gegen konkurrierende Kreml-Protegés verteidigt und nebenbei von einer Ballerina, die sich für eine Verhaftete einsetzt, Geld und Rauschgift erpresst. Man erlebt, wie sich der staatliche Häscher mit dem altrussischen Kampfschrei "Goida!" in Mordlaune versetzt, wie er nach blutigen Einsätzen im Gottesdienst zur Ruhe kommt und wie ein innerer Huldigungsmonolog an Herrscher und Rechtgläubigkeit alle persönlichen Gewissensregungen ertränkt.
Mit seinem "Opritschnik", der schon im Titel auf Solschenizyns "Tag des Iwan Denissowitsch" antwortet, zeichnet Sorokin ein exemplarisches Psychogramm der Putin-Epoche. Angesichts der neu aufblühenden Sowjetnostalgie ist der Kontrast des Solschenizyn-Klassikers, worin Generationen von Sowjetbürgern sich wiedererkannten, zur bösen Blume des russischen Kapitalismus umso eindrucksvoller. Solschenizyns Held war ein sowjetischer GULag-Häftling, der Zwangsarbeit, Unterernährung, Kälte und Krankheit durchsteht und dabei Funken menschlichen Anstands und minimale Freiräume bewahrt. Sorokins Ich-Figur steht auf der Seite der Unterdrücker. Er ist der Monstersklave, der im Namen der höheren staatlichen Sache das Humane in sich ausmerzt wie schon der Tschekist im russischen Bürgerkrieg. Die Opritschnina, die die privilegierte Sphäre des Herrscherinteresses bezeichnet, wurde von Zar Iwan dem Schrecklichen als christlich gerechtfertigtes Okkupationssystem erfunden. Das Wort leitet sich ab von "opritsch", zu Deutsch "ausgenommen", und steht für die Sondervollmachten, dank derer die Staatsstützen die Zivilbevölkerung, die bei Sorokin wie im sechzehnten Jahrhundert wie-der "Semschtschina" (etwa: Landwesen) heißt, malträtieren dürfen.
Der "Opritschnik" wurde zur Lieblingslektüre sowohl liberaler als auch patriotischer Intellektueller. Die Menschenrechtskämpferin Valeria Nowodworskaja und die Partylöwin Xenia Sobtschak zeigten sich gleichermaßen begeistert. Der Geschäftsmann Boris Beresowski, der vor Putin ins Londoner Exil geflüchtet war wie einst Fürst Kurbski vor Iwan dem Schrecklichen nach Litauen, empfahl in seinem jährlichen Internet-Sendschreiben an den Kremlherrn, Putin, den er nach alter Freundschaft als "Wolodja" anspricht, solle den "Opritschnik" unbedingt lesen. Im Umkreis des Präsidenten lobt man Sorokins Buch als "äußerst treffend". Die Beamten ließen dem Schriftsteller ausrichten, der "Goida"-Ruf, mit dem man sich auf das Zerschmettern von Feinden einstimmt, sei ihnen unvergesslich. Vollends unheimlich war für Sorokin das Kompliment der Jugendorganisation der neuimperialen Eurasier, die den "Opritschnik" als prophetisches Werk begrüßten, das vorführt, was Russlands inneren Feinden blüht.
Seither hat sich die russische Wirklichkeit nach dem Szenario des "Opritschnik" entwickelt, bekommt Sorokin von Freunden und Bekannten zu hören. Die Petersburger Klanchefs, die auch äußerlich für Opritschniki durchgehen könnten, haben die Rohstoffkonzerne fest in der Hand. Wer sich gegen Beamtenwillkür wehrt, lebt gefährlich. Vor wenigen Tagen wurde in Chimki bei Moskau der Journalist Michail Beketow, der gegen illegale Finanzgeschäfte und Abholzungspläne der Regierung protestiert hatte, von Unbekannten fast zu Tode geprügelt. Der Strafprozess der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, die von der Obrigkeit gedeckte Bluttaten in Tschetschenien und der russischen Armee angeprangert hatte, findet ohne den mutmaßlichen Mörder statt, weil der wegen einer gezielten Indiskretion der Ermittler fliehen konnte. Und der tschetschenische Präsident Kadyrow, der Frau Politkowskaja mehrfach bedrohte, wurde nicht einmal als Zeuge befragt. Unterdessen wollte die Russische Orthodoxe Kirche, deren Priester eifrig Atom-U-Boote und Raketen segnen, angesichts der Wirtschaftskrise schon rechtgläubige Volksmilizen organisieren, die Volksproteste von Krisenopfern niederschlagen sollten.
Der Stoff ließ den Schriftsteller schon damals auch literarisch nicht los. Nach der Innensicht eines Systemträgers wollte er, sagt Sorokin, auch die übrigen Bewohner eines solchen Imperiums kennenlernen. So entstand der Folgeband "Zuckerkreml" (Sacharnyj kreml), der, in fünfzehn Erzählungen, Hofnarren, Henker, Zwangsarbeiter, Bettler und Dissidenten auf ihrem Lebensweg ein Stück begleitet. Das Buch, das 2010 bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch erscheinen soll, entführt seine Leser in ein neues Mittelalter der Informationstechnologie und der Massenarmut. Weil alle Brennstoffe ins Ausland verkauft werden, heizen auch wohlsituierte Moskauer mit Holzscheiten, und die Aufzüge der Wohnhäuser stehen am Wochenende still. Dafür leuchtet in der "guten" Wohnzimmerecke die interaktive 3-D-Ikone des Herrschers. Und am Weihnachtstag erscheint den auf dem Roten Platz versammelten Kindern im Winterhimmel sein lächelndes Antlitz.
Sorokins "Zuckerkreml" zufolge führt die Wirtschaftskrise in Russland in ein Zimbabwe-Szenario. Von bürgerlichen Berufen und Besitztümern ist hier in zwanzig Jahren kaum noch etwas übrig. Von den regierungseigenen Wohnhäusern unterscheiden sich die öffentlichen dadurch, dass in ihren Treppenhäusern Müll herumliegt. Viele Privatdomizile, deren Bewohner kein Schutzgeld zahlen wollten, wurden von den Opritschniki niedergebrannt. Und neuerdings brennen auch die Datschen fern von Moskau samt Gesinde, weil der Staat dann vom Besitzer Kompensationszahlungen für umgekommenes Steuervolk verlangen kann.
Die Opritschnina-Begeisterung ist heute, zu Sorokins Entsetzen, in Moskau salonfähig. Der vom Kreml protegierte Senior-Eurasier Alexander Dugin schlug vor, da im russischen Staat die Korruption systemisch, also untherapierbar sei, die "patriotische" von der unpatriotischen Korruption zu unterscheiden. Erstere sei das geringere Übel. Das Schmiergeld, das die Kommissare eintreiben, so Dugin, bleibe wenigstens im Land. In Wahrheit enttarne der Staat illegale Geschäfte bei Privatleuten, deckt sie aber in den Ministerien, verrät Dugin, der als russischer Machiavelli beim Namen nennt, was die meisten tun und doch leugnen.
In Sorokins "Zuckerkreml" ist die körperliche Züchtigung tägliches Brot. Die Mutter schlägt ihr Kind, der Aufseher peitscht den Zwangsarbeiter, der Gatte schlägt die Gattin oder bringt sie, wenn er dies selbst nicht vermag, zum Verprügeln auf die Polizeistation. Dafür entschädigt die nationale Leckerei, eine Kremlreplik aus reinem Zucker. Der süße Fetisch, an dem sich schon Iwan der Schreckliche delektierte, wird in Sorokins Zukunft fabrikmäßig hergestellt.
Die Bitterkeit und Übersüße des authentisch russischen Lebensgefühls kann man seit einiger Zeit kulinarisch studieren. Im September wurde im Moskauer Kaufmannsviertel, wo Iwan der Schreckliche die erste Wodkakneipe für seine gefürchteten Sondergarden installierte, das Restaurant "Opritschnik" eröffnet, das auf seine bitteren Schnäpse ebenso stolz ist wie auf die Desserts und Teemischungen, die mit einer Extraportion Zucker oder Honig genossen werden. Gern kehren Geheimdienstler und Militärs hier ein und trinken aufs Vaterland. Iwan der Schreckliche sah in den Opritschniki apokalyptische Reiter, die die Welt säubern, erklärt die Restaurantbesitzerin Jelena Jaworskaja. In jener Epoche, da in England siebzigtausend Armutsnomaden aufgehängt wurden, töteten die russischen Opritschniki nur etwa sieben- bis neuntausend Menschen, sagt Frau Jaworskaja - und niemanden aus dem einfachen Volk.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Schon mit seinen bisherigen, betont unpolitischen Romanen war Vladimir Sorokin dem offiziösen Russland ein Dorn im Auge, nun legt er einen Politroman vor, in dem er dezidiert mit Putins Russland in Gericht geht. Rezensentin Wiebke Porombka kann dem gar nicht genug Bedeutung beimesse, zumal viele russische Literaten derzeit den Schulterschluss mit der Unterhaltungsbranche suchen. In "Der Tag des Opritschniks" entwirft Sorokin das Szenario eines Großrusslands, dessen "bedingungsloser Nationalismus" von einem "totalitären Überwachungsregime" sichergestellt wird. In vorderster Linie agiert die Herrscher-Leibgarde der (von Iwan dem Schrecklichen übernommenen) Opritschniki, sie ergeht sich in Terror und Sexorgien. Doch bei aller Sympathie für Sorokin - für Porombka hält sich die Sprengkraft dieses Buches in Grenzen: Die politischen Aussagen findet sie eigentlich ziemlich beliebig und die technizistischen Visionen erscheinen ihr auch recht altmodisch. Und ganz schlimm für die Rezensentin: Sprachlich gehe diesem Roman das "Verstörende und Betörende" von Sorokins anderen Büchern gänzlich ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine bitterböse Satire [...]. Das ist nicht nur unterhaltend, es ist auch beklemmend. Und gelegentlich bleibt dem Leser dabei das Lachen im Halse stecken.« Cornelia Rabitz Deutsche Welle