Seit zehn Jahren arbeitet Adèle als Schulbusfahrerin auf der dünn besiedelten Hochebene. Trotz des Kinderlärms, der ihre Tage füllt, ist ihr Leben still. Während der langen Fahrten beobachtet sie die sich ständig verändernden Kinder, die Wandlungen der Natur und erinnert sich an ihr eigenes Leben. Dass ihre Ankunft in dieser Gegend eine Rückkehr war, ein letzter wichtiger Schritt auf dem Weg einer schmerzhaften und radikalen Selbstbestimmung, hält sie verborgen. Ihr Bruder hat den Kontakt abgebrochen, der Vater lebt in einem Altersheim, die Mutter ist lange tot. Als Adèle sich in Tony verliebt, glaubt sie noch, ihr Geheimnis wahren zu können.Emmanuelle Pagano erzählt behutsam und schlicht eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. Ein mutiger Roman, spannend, poetisch und hoffnungsvoll.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2008Adèle und seine Kinder
Emmanuelle Pagano setzt auf Körper statt Diskurs
Am 1. September fängt für die Kinder die Schule wieder an, für die wortkarge Adèle ihr Arbeitsalltag. Seit einer Dekade fährt sie den Schulbus über eine dünnbesiedelte Hochebene in Südfrankreich. Hier spielt Emmanuelle Paganos plastischer Roman "Der Tag war blau". Adèle hat fast ihr ganzes Leben hier verbracht, spricht im hiesigen Dialekt, weiß um die Namen und Geschichten aller Bewohner. Diese hingegen glauben, Adèle erst seit zehn Jahren zu kennen. Damals kehrte die Frau aus der Stadt zurück dorthin, wo sie aufwuchs - als Junge.
Präzise und anschaulich skizziert Emmanuelle Pagano in ihrem vierten Roman sechs Tage, vom Schulanfang bis zum 17. Februar. Die leuchtenden Bilder entspringen dem scharfen Blick der stillen Adèle. Trotz ihrer schroffen Hülle betrachtet sie die Kinder im Bus so liebevoll, als wären es ihre eigenen. Während der täglichen Touren reisen auch Adèles Gedanken: Die introvertierte Ich-Erzählerin erinnert sich an ihre frühen Jahre auf dem elterlichen Bauernhof, die schmerzhaft-schöne Zeit nach der operativen Geschlechtsumwandlung, die frisch aufkeimende Romanze mit dem Jäger Tony. Die Metamorphose zur Frau gestand sich Adèle erst in einer größeren Stadt zu, in die sie nach dem Gymnasium zog. Der Bruder weigert sich, seine neue Schwester anzunehmen. Erst vom Krankenbett aus nähert er sich ihr wieder an.
Mit Zimperlichkeiten und Schönfärbereien hält sich Emmanuelle Pagano nicht auf, vielmehr scheint sie fasziniert von der launenhaften Härte der Natur. Nach ihrer Operation zur Frau phantasiert sie: "Unter Morphium und unter Schmerzen, die es so schlecht stillte, sah ich die beiden Körper, das breite Kalb und meinen kleinen Bruder, den kleinen violetten Fötus, lebend auf den Wassern des Sees treiben." Eine der vielen Fehlgeburten von Adèles Mutter hatte diese früh getötet. Emmanuelle Pagano psychologisiert den Schmerz darüber nicht. Auch die schwierige Beziehung der Geschwister theoretisiert sie nicht. Statt um Diskurs geht es ihr um Körperlichkeit. Indes, eine politische Dimension vermisst man: "Der Tag war blau" erzählt nicht die Offenbarung eines Coming-outs. Adèle rebelliert weder gegen soziale Zwänge noch gegen die kleinbürgerlichen Konventionen in der südfranzösischen Provinz, sie will nur in dem Körper leben, nach dem sie sich von klein auf sehnte.
Am Ende suchen Adèle und die Buskinder vor einem Schneesturm in einer Höhle Schutz. Angestachelt durch dieses Abenteuer, plaudert jemand in der intimen Runde Adèles Geheimnis aus. Anfeindungen, das Scheitern ihrer Beziehung zu dem nichtsahnenden Tony, aber auch die Unterstützung, auf die sie hofft, spielt Adèle nur kurz in Gedanken durch, in derselben felsenfesten Gelassenheit, die sich durch das ganze Buch zieht: "Ich weiß, die Zeit geht über die Gerüchte, die Wunden hinweg." Emmanuelle Paganos Roman beruhigt durch seine Lebensklugheit, berührt durch seine unmittelbare Körperlichkeit.
CHRISTINA HOFFMANN
Emmanuelle Pagano: "Der Tag war blau". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 171 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuelle Pagano setzt auf Körper statt Diskurs
Am 1. September fängt für die Kinder die Schule wieder an, für die wortkarge Adèle ihr Arbeitsalltag. Seit einer Dekade fährt sie den Schulbus über eine dünnbesiedelte Hochebene in Südfrankreich. Hier spielt Emmanuelle Paganos plastischer Roman "Der Tag war blau". Adèle hat fast ihr ganzes Leben hier verbracht, spricht im hiesigen Dialekt, weiß um die Namen und Geschichten aller Bewohner. Diese hingegen glauben, Adèle erst seit zehn Jahren zu kennen. Damals kehrte die Frau aus der Stadt zurück dorthin, wo sie aufwuchs - als Junge.
Präzise und anschaulich skizziert Emmanuelle Pagano in ihrem vierten Roman sechs Tage, vom Schulanfang bis zum 17. Februar. Die leuchtenden Bilder entspringen dem scharfen Blick der stillen Adèle. Trotz ihrer schroffen Hülle betrachtet sie die Kinder im Bus so liebevoll, als wären es ihre eigenen. Während der täglichen Touren reisen auch Adèles Gedanken: Die introvertierte Ich-Erzählerin erinnert sich an ihre frühen Jahre auf dem elterlichen Bauernhof, die schmerzhaft-schöne Zeit nach der operativen Geschlechtsumwandlung, die frisch aufkeimende Romanze mit dem Jäger Tony. Die Metamorphose zur Frau gestand sich Adèle erst in einer größeren Stadt zu, in die sie nach dem Gymnasium zog. Der Bruder weigert sich, seine neue Schwester anzunehmen. Erst vom Krankenbett aus nähert er sich ihr wieder an.
Mit Zimperlichkeiten und Schönfärbereien hält sich Emmanuelle Pagano nicht auf, vielmehr scheint sie fasziniert von der launenhaften Härte der Natur. Nach ihrer Operation zur Frau phantasiert sie: "Unter Morphium und unter Schmerzen, die es so schlecht stillte, sah ich die beiden Körper, das breite Kalb und meinen kleinen Bruder, den kleinen violetten Fötus, lebend auf den Wassern des Sees treiben." Eine der vielen Fehlgeburten von Adèles Mutter hatte diese früh getötet. Emmanuelle Pagano psychologisiert den Schmerz darüber nicht. Auch die schwierige Beziehung der Geschwister theoretisiert sie nicht. Statt um Diskurs geht es ihr um Körperlichkeit. Indes, eine politische Dimension vermisst man: "Der Tag war blau" erzählt nicht die Offenbarung eines Coming-outs. Adèle rebelliert weder gegen soziale Zwänge noch gegen die kleinbürgerlichen Konventionen in der südfranzösischen Provinz, sie will nur in dem Körper leben, nach dem sie sich von klein auf sehnte.
Am Ende suchen Adèle und die Buskinder vor einem Schneesturm in einer Höhle Schutz. Angestachelt durch dieses Abenteuer, plaudert jemand in der intimen Runde Adèles Geheimnis aus. Anfeindungen, das Scheitern ihrer Beziehung zu dem nichtsahnenden Tony, aber auch die Unterstützung, auf die sie hofft, spielt Adèle nur kurz in Gedanken durch, in derselben felsenfesten Gelassenheit, die sich durch das ganze Buch zieht: "Ich weiß, die Zeit geht über die Gerüchte, die Wunden hinweg." Emmanuelle Paganos Roman beruhigt durch seine Lebensklugheit, berührt durch seine unmittelbare Körperlichkeit.
CHRISTINA HOFFMANN
Emmanuelle Pagano: "Der Tag war blau". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 171 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christine Hoffmann zeigt sich berührt von der Plastizität dieses Romans. Die Geschichte eines Coming-outs in der französischen Provinz gelingt Emmanuelle Pagano ihrem Empfinden nach vor allem durch Anschaulichkeit, eine "unmittelbare Körperlichkeit" und die aus dem Text sprechende "Lebensklugheit". Ganz und gar lässt sich dadurch jedoch das Gefühl der Rezensentin, dass etwas fehlt, nicht ausschalten: Ein diskursives Moment immerhin, die "politische Dimension", ein Aufbegehren der Hauptfigur gegen soziale Zwänge, gibt Hoffmann zu bedenken, hätte es ruhig sein dürfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH