Brillen, Teleskope und Mikroskope in literarischen Texten eignen sich, ganz gleich ob sie als Motive, Metaphern oder Vergleiche verwendet werden, vorzüglich dazu, die Erkenntnisfrage zu thematisieren und eine autopoetologische Perspektive auf die Texte selber zu eröffnen. Die Rede von optischen Instrumenten wird hier benützt, um den Status der jeweiligen Literatur im Verhältnis zu anderen kulturellen Praktiken, insbesondere zur Naturwissenschaft, genau bestimmen zu können.
Das Buch präsentiert sich als Museum, in dem Texte vom 16. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart ausgestellt und besprochen werden. In jedem mit Exponaten bestückten Saal dieses Museums dominiert jeweils ein anderer gesellschaftlicher Funktionszusammenhang. Auf diese Weise soll eine neuartige Motivgeschichte entstehen - keine bloße Ansammlung, sondern eine Sammlung; und auch keine chronologische Aneinanderreihung, die den Eindruck erweckt, als wäre eine rein zeitliche Abfolge schon ein sinnvolles Gebilde.
Das Buch präsentiert sich als Museum, in dem Texte vom 16. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart ausgestellt und besprochen werden. In jedem mit Exponaten bestückten Saal dieses Museums dominiert jeweils ein anderer gesellschaftlicher Funktionszusammenhang. Auf diese Weise soll eine neuartige Motivgeschichte entstehen - keine bloße Ansammlung, sondern eine Sammlung; und auch keine chronologische Aneinanderreihung, die den Eindruck erweckt, als wäre eine rein zeitliche Abfolge schon ein sinnvolles Gebilde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2004Welche Buchstaben erkennen Sie?
Texte im Sehtest: Bei Ulrich Stadler stimmt die Optik
Welchen Charme eine mit den Kulturwissenschaften kokettierende Literaturwissenschaft aufzubieten weiß, demonstriert der Zürcher Germanist Ulrich Stadler, indem er sein neuestes Buch nach allen Regeln der Museumskunde in ein "kulturhistorisches Museum" verwandelt. Da gibt es Vorhalle und Korridor, Säle und Depots, Archiv und Katalograum, ein Bilderkabinett und das Verzeichnis der Donatoren. Höflich, doch nachdrücklich wird auch dem Leser die Rolle eines Museumsbesuchers zugedacht. Kein Wunder dies alles, denn zu besichtigen sind optische Instrumente, namentlich Mikroskope und Teleskope, nach Engelhard Weigl "Leitinstrumente" der Neuzeit also.
Allerdings handelt es sich um "literarisierte" Instrumente, also um literarische Texte mit optischer Bewaffnung. Die freilich wollen sich schlechterdings nicht einer Geschichte, gar einer herkömmlichen Motivgeschichte, unterwerfen. Wohin also mit den überquellenden "Collectanea", wenn "geschichtsphilosophische" Risiken verboten sind, aber auch "Kraut und Rüben" nicht sein sollen? An Teleologie und Kontingenz vorbei rettet sie die Unterbringung im Museum. So wird aus der Not eine witzige Stärke, die den Besucher mit allen Freiheiten des Herumspazierens entschädigt.
Ganz ohne roten Faden freilich muß er nicht auskommen. Haben es doch die optischen Instrumente irgendwie mit Erkenntnis zu tun. Stadler hält sie geradezu für Symbole eines kopernikanisch-cartesianischen "Denkstils", die den "Abgrund" zwischen der res cogitans und der res extensa markieren, nicht ohne dabei ein beträchtliches "Gewaltpotential" freizusetzen. Da liegt es nahe, den Erkenntnisanspruch der "literarisierten" Instrumente mit dem ihrer literarischen Nutzer zu vergleichen. Und so kommt der "Status von Literatur" in den Untertitel und ins Museum, das nicht immer reibungslose Verhältnis also von Wissenschaft und Literatur.
Über Mangel kann man sich nicht beklagen. Das Museum ist reichhaltig bestückt. Und man betritt Säle, in denen man sich ausgesprochen wohl fühlt, weil dort alles zusammenpaßt, das optische Instrument, seine literarische Adaptation, die Frage nach dem "Status" und, nicht zuletzt, die Sorgfalt des Museumsführers. Brockes und die Physikotheologie beispielsweise bilden ein gut bekanntes Gespann, das trefflich mit den neuen Instrumenten umzugehen versteht. Stadler weiß sogar zu suggerieren, daß der "perspektivierende Gestus" von Brockes' Naturbetrachtung womöglich mit dem Blick durch die optischen Instrumente zusammenhänge, die Literatur also vom "technisierten Blick" gelernt habe.
Eine ähnlich günstige Konstellation läßt sich für Swift verbuchen. Nicht von ungefähr ist Gulliver "kurzsichtig" und führt auf allen vier Reisen ein Fernrohr mit sich. So können Teleskop und Mikroskop hier ihre satirischen Potenzen entfalten; verzerrend bemächtigen sie sich der "Travels", so daß die Romanwelten wie optische Versuchsanordnungen funktionieren, die aller Erkenntnis ihre Relativität bescheinigen. Auch Lichtenberg liefert schöne Exponate. "Wenn Scharfsinn ein Vergrößrungs-Glas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungs-Glas." Über solche und andere optisch gerüstete Aphorismen läßt sich gut räsonieren, vielleicht sogar über Differenzierung und Koalition von Poesie und Wissenschaft, wie Stadler dies tut.
Das persönliche Lieblingsinstrument Stadlers ist offenkundig das Mikroskop. Als Mikroskopierer jedenfalls behandelt er seine Texte. Nicht selten reichen die knappsten Textpartikel aus, um massive Problemkomplexe und ganze Autorenporträts zum Vorschein zu bringen. Jean Paul etwa ist mit zwei Tränentropfen vertreten, die "aus zwei konvexen Linsengläsern ein Mikroskop" zusammensetzen, für Novalis genügt das Stichwort "poetische Theorie der Fernröhre". Die Devise maxima in minimis und der ständige Blick durchs Mikroskop machen den Museumsbesuch allerdings einigermaßen anstrengend, zumal wenn man nun doch pflichtgemäß das ganze Pensum absolviert.
Auch gewinnt man den Eindruck, daß die Faszinationskraft der Instrumente den Literaten, um es milde zu sagen, allmählich abhanden gekommen ist. Sicher ist Stadler kein wichtiger instrumentenbewaffneter Text entgangen (in den "Depots" werden auf fünfzig Seiten alle in bildender Kunst und Literatur gefundenen Instrumente verzeichnet, von B wie Brille bis V wie Vergrößerungsglas), doch je mehr er sich aus der Pionierzeit entfernt, desto skurriler werden die Exemplare, desto mühsamer die Versuche, sie in den Untersuchungszusammenhang zurückzuholen. Das gilt für Paul Scheerbart ("Jenseitsgalerie") oder Gustav Meyrink ("Der Saturnring") und selbst für Musil ("Triedere"), Doderer ("Die erleuchteten Fenster") oder endlich Alexander Kluge ("Die Patriotin"). Die Geschichte - pardon - der optischen Instrumente scheint nicht gerade ein Königsweg der Literatur zu sein. Die optisch-literarische Allianz landet im Kuriositätenkabinett und beim Voyeurismus.
Aber auch die Gegenrechnung wird präsentiert. Die Skepsis angesichts der optischen Errungenschaften hat natürlich in Goethe ihren bekanntesten Anwalt. "Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn." Stadler führt vor, wie Wilhelm Meister im Umkreis der Makarie und auf ihrer Sternwarte diese Lektion lernt und zugleich mit der "kopernikanischen Kränkung" fertig wird - mit Hilfe eines Fernrohrs. Das hat man auch anderwärts schon gelesen, nicht aber, daß er selbst mit seinen (vier) Himmelsbetrachtungen an einem Experiment des Astronomen teilhat und bei dieser Gelegenheit - er identifiziert den realen Morgenstern mit der im Traum verstirnten Makarie - "Züge des Jupiter angenommen hat". Lautet Stadlers Formel für Goethe "Literatur als Therapeutikum", so liefert doch erst Stifter die beste und obendrein instrumentenfreundliche Pointe. Liest man seine Erzählungen, wie Stadler es nahelegt, als "metaphorische Teleskop-Blicke", dann erweist sich das Teleskop selbst als literarischer Katastrophenschutz.
Der Besucher verläßt das Museum vielfach belehrt, doch ein wenig erschöpft. Er mag sich daran erinnern, was der unheimliche Instrumentenhändler Coppola in E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" angerichtet hat, der tatsächlich auch im "Depot" lauert, und freut sich, daß er heil aus der Sache hervorgeht, dank der ruhigen und kundigen Hand, die ihn angeleitet hat.
HANS-JÜRGEN SCHINGS.
Ulrich Stadler: "Der technisierte Blick". Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003. 402 S., br., 39,- [Euro].
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Texte im Sehtest: Bei Ulrich Stadler stimmt die Optik
Welchen Charme eine mit den Kulturwissenschaften kokettierende Literaturwissenschaft aufzubieten weiß, demonstriert der Zürcher Germanist Ulrich Stadler, indem er sein neuestes Buch nach allen Regeln der Museumskunde in ein "kulturhistorisches Museum" verwandelt. Da gibt es Vorhalle und Korridor, Säle und Depots, Archiv und Katalograum, ein Bilderkabinett und das Verzeichnis der Donatoren. Höflich, doch nachdrücklich wird auch dem Leser die Rolle eines Museumsbesuchers zugedacht. Kein Wunder dies alles, denn zu besichtigen sind optische Instrumente, namentlich Mikroskope und Teleskope, nach Engelhard Weigl "Leitinstrumente" der Neuzeit also.
Allerdings handelt es sich um "literarisierte" Instrumente, also um literarische Texte mit optischer Bewaffnung. Die freilich wollen sich schlechterdings nicht einer Geschichte, gar einer herkömmlichen Motivgeschichte, unterwerfen. Wohin also mit den überquellenden "Collectanea", wenn "geschichtsphilosophische" Risiken verboten sind, aber auch "Kraut und Rüben" nicht sein sollen? An Teleologie und Kontingenz vorbei rettet sie die Unterbringung im Museum. So wird aus der Not eine witzige Stärke, die den Besucher mit allen Freiheiten des Herumspazierens entschädigt.
Ganz ohne roten Faden freilich muß er nicht auskommen. Haben es doch die optischen Instrumente irgendwie mit Erkenntnis zu tun. Stadler hält sie geradezu für Symbole eines kopernikanisch-cartesianischen "Denkstils", die den "Abgrund" zwischen der res cogitans und der res extensa markieren, nicht ohne dabei ein beträchtliches "Gewaltpotential" freizusetzen. Da liegt es nahe, den Erkenntnisanspruch der "literarisierten" Instrumente mit dem ihrer literarischen Nutzer zu vergleichen. Und so kommt der "Status von Literatur" in den Untertitel und ins Museum, das nicht immer reibungslose Verhältnis also von Wissenschaft und Literatur.
Über Mangel kann man sich nicht beklagen. Das Museum ist reichhaltig bestückt. Und man betritt Säle, in denen man sich ausgesprochen wohl fühlt, weil dort alles zusammenpaßt, das optische Instrument, seine literarische Adaptation, die Frage nach dem "Status" und, nicht zuletzt, die Sorgfalt des Museumsführers. Brockes und die Physikotheologie beispielsweise bilden ein gut bekanntes Gespann, das trefflich mit den neuen Instrumenten umzugehen versteht. Stadler weiß sogar zu suggerieren, daß der "perspektivierende Gestus" von Brockes' Naturbetrachtung womöglich mit dem Blick durch die optischen Instrumente zusammenhänge, die Literatur also vom "technisierten Blick" gelernt habe.
Eine ähnlich günstige Konstellation läßt sich für Swift verbuchen. Nicht von ungefähr ist Gulliver "kurzsichtig" und führt auf allen vier Reisen ein Fernrohr mit sich. So können Teleskop und Mikroskop hier ihre satirischen Potenzen entfalten; verzerrend bemächtigen sie sich der "Travels", so daß die Romanwelten wie optische Versuchsanordnungen funktionieren, die aller Erkenntnis ihre Relativität bescheinigen. Auch Lichtenberg liefert schöne Exponate. "Wenn Scharfsinn ein Vergrößrungs-Glas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungs-Glas." Über solche und andere optisch gerüstete Aphorismen läßt sich gut räsonieren, vielleicht sogar über Differenzierung und Koalition von Poesie und Wissenschaft, wie Stadler dies tut.
Das persönliche Lieblingsinstrument Stadlers ist offenkundig das Mikroskop. Als Mikroskopierer jedenfalls behandelt er seine Texte. Nicht selten reichen die knappsten Textpartikel aus, um massive Problemkomplexe und ganze Autorenporträts zum Vorschein zu bringen. Jean Paul etwa ist mit zwei Tränentropfen vertreten, die "aus zwei konvexen Linsengläsern ein Mikroskop" zusammensetzen, für Novalis genügt das Stichwort "poetische Theorie der Fernröhre". Die Devise maxima in minimis und der ständige Blick durchs Mikroskop machen den Museumsbesuch allerdings einigermaßen anstrengend, zumal wenn man nun doch pflichtgemäß das ganze Pensum absolviert.
Auch gewinnt man den Eindruck, daß die Faszinationskraft der Instrumente den Literaten, um es milde zu sagen, allmählich abhanden gekommen ist. Sicher ist Stadler kein wichtiger instrumentenbewaffneter Text entgangen (in den "Depots" werden auf fünfzig Seiten alle in bildender Kunst und Literatur gefundenen Instrumente verzeichnet, von B wie Brille bis V wie Vergrößerungsglas), doch je mehr er sich aus der Pionierzeit entfernt, desto skurriler werden die Exemplare, desto mühsamer die Versuche, sie in den Untersuchungszusammenhang zurückzuholen. Das gilt für Paul Scheerbart ("Jenseitsgalerie") oder Gustav Meyrink ("Der Saturnring") und selbst für Musil ("Triedere"), Doderer ("Die erleuchteten Fenster") oder endlich Alexander Kluge ("Die Patriotin"). Die Geschichte - pardon - der optischen Instrumente scheint nicht gerade ein Königsweg der Literatur zu sein. Die optisch-literarische Allianz landet im Kuriositätenkabinett und beim Voyeurismus.
Aber auch die Gegenrechnung wird präsentiert. Die Skepsis angesichts der optischen Errungenschaften hat natürlich in Goethe ihren bekanntesten Anwalt. "Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn." Stadler führt vor, wie Wilhelm Meister im Umkreis der Makarie und auf ihrer Sternwarte diese Lektion lernt und zugleich mit der "kopernikanischen Kränkung" fertig wird - mit Hilfe eines Fernrohrs. Das hat man auch anderwärts schon gelesen, nicht aber, daß er selbst mit seinen (vier) Himmelsbetrachtungen an einem Experiment des Astronomen teilhat und bei dieser Gelegenheit - er identifiziert den realen Morgenstern mit der im Traum verstirnten Makarie - "Züge des Jupiter angenommen hat". Lautet Stadlers Formel für Goethe "Literatur als Therapeutikum", so liefert doch erst Stifter die beste und obendrein instrumentenfreundliche Pointe. Liest man seine Erzählungen, wie Stadler es nahelegt, als "metaphorische Teleskop-Blicke", dann erweist sich das Teleskop selbst als literarischer Katastrophenschutz.
Der Besucher verläßt das Museum vielfach belehrt, doch ein wenig erschöpft. Er mag sich daran erinnern, was der unheimliche Instrumentenhändler Coppola in E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" angerichtet hat, der tatsächlich auch im "Depot" lauert, und freut sich, daß er heil aus der Sache hervorgeht, dank der ruhigen und kundigen Hand, die ihn angeleitet hat.
HANS-JÜRGEN SCHINGS.
Ulrich Stadler: "Der technisierte Blick". Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003. 402 S., br., 39,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Vielfach belehrt, doch auch ein wenig erschöpft hat Rezensent Hans-Jürgen Schings dieses Buch des Zürcher Germanisten Ulrich Stadler, das wie ein "nach allen Regeln der Museumskunde" reich bestücktes kulturhistorisches Museum sei. Stadler ist dem Motiv optischer Instrumente in literarischen Texten nachgegangen, erzählt Schings, vom Mikroskop bis zum Teleskop. Autoren wie Goethe, Jean Paul oder Novalis findet der ausgesprochen gern in Stadlers Museum umhergehende Rezensent ebenso berücksichtigt wie Swift, Musil oder Doderer. Kein wichtiger "instrumentenbewaffneter Text" ist Stadler entgangen, lobt der Rezensent, der dennoch zum Ergebnis kommt, dass die Geschichte der optischen Instrumente, (durch die er sich mit ruhiger und kundiger Hand geleitet findet), nicht gerade ein Königsweg der Literatur zu sein scheint, weshalb er die optische-literarische Allianz nicht selten im Kuriosenkabinett und beim Voyeurismus landen sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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