George richtete dieses Manuskript als Heft für die 64 Gedichte ein, die er, in drei Zyklen gegliedert, für sein fünftes Gedichtwerk vorgesehen hatte. Es sollte die kalligraphisch gestaltete Vorlage des Erstdrucks werden. Doch fand er während der Ausarbeitung so viel zu ändern, am Text der Gedichte, insbesondere aber am Aufbau der Zyklen, daß die vorgesehene Druckvorlage zu einer intensiv genutzten Arbeitsunterlage geriet, die die Annäherungen an die endgültige Fassung des "Teppichs" mit 72 Gedichten dokumentiert.
Dem Faksimile der Handschrift ist ein Begleitband beigegeben, in dem die Befunde, die an der Handschrift zu erheben sind, geklärt und die Geschichte des außergewöhnlichen Manuskripts, die Charakteristika der Niederschriften und deren Überarbeitungen sowie die Umgestaltungen der Zyklen dargestellt werden. Die Edition ist für den Liebhaber ebenso von Interesse wie für die George-Philologie; dem Betrachter des Faksimiles ermöglicht sie Einblick in die Arbeit des Dichters, dem Philologen eröffnet sie erstmals Erkenntnisse über die Genese der Zyklen, deren Bedeutung für Georges Hauptwerk bisher in Ermangelung solcher Quellen wie dieses Manuskript nicht ausreichend untersucht worden ist.
Dem Faksimile der Handschrift ist ein Begleitband beigegeben, in dem die Befunde, die an der Handschrift zu erheben sind, geklärt und die Geschichte des außergewöhnlichen Manuskripts, die Charakteristika der Niederschriften und deren Überarbeitungen sowie die Umgestaltungen der Zyklen dargestellt werden. Die Edition ist für den Liebhaber ebenso von Interesse wie für die George-Philologie; dem Betrachter des Faksimiles ermöglicht sie Einblick in die Arbeit des Dichters, dem Philologen eröffnet sie erstmals Erkenntnisse über die Genese der Zyklen, deren Bedeutung für Georges Hauptwerk bisher in Ermangelung solcher Quellen wie dieses Manuskript nicht ausreichend untersucht worden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2005Das handgeschriebene Buch
Stefan Georges "Teppich des Lebens" als Faksimile-Ausgabe
An einem Frühlingstag des Jahres 1920 teilte Stefan George stolz seiner Gastgeberin Edith Landmann mit, er habe den ganzen Nachmittag mit einem seiner Schüler "über zwei Worten gesessen - wir Philologen". Und: "Die Philologie, die Zusammenhänge zwischen den Worten, das möge er nicht missen." Man sollte es dem Meister, der in der Regel viel nüchterner dachte als seine enthusiastischen Adepten, gleichtun und das Ethos der philologischen Handwerklichkeit anwenden auf sein eigenes Werk, das bisher allzuoft herhalten mußte für wolkig-ganzheitliche "Wesensschau". Gelegenheit hierzu gibt aufs schönste das Faksimile einer prachtvollen Handschrift Georges, die bis vor kurzem in der Forschung als unauffindbar galt.
Es handelt sich um ein zweiunddreißig Seiten umfassendes, in einen Bogen gerippten silbergrauen Papiers gehülltes Heft, auf dessen Vorderseite George mit blauen Versalien bereits den Titel gesetzt hatte, unter dem die hier versammelten Gedichte erscheinen sollten: "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel". Auf jede Seite hat George in der von ihm entwickelten kalligraphischen Schrift mit schwarzer Tusche zwei Gedichte geschrieben und dabei die Zyklentitel und die Überschriften der Gedichte kunstvoll in roter Tinte in Versalien hervorgehoben.
Die Anlage der spätestens im Mai 1899 entstandenen Handschrift gibt zu erkennen, daß bei ihrer Niederschrift Umfang und innere Anordnung seines neuen Gedichtbandes für George weitgehend feststanden; vermutlich hat er zeitweise sogar daran gedacht, das Manuskript als Druckvorlage zu verwenden. Als dann aber Ende des Jahres 1899 der von Melchior Lechter mit üppigster buchkünstlerischer Prachtvollkommenheit ausgestattete "Teppich des Lebens" in dreihundert Exemplaren erschien, waren acht Gedichte hinzugekommen, die Reihenfolge hatte sich in vielfacher Hinsicht geändert, und auch in Wortlaut und Interpunktion der Gedichte weist der Druck viele Abweichungen gegenüber der Handschrift auf. George hat also in den wenigen Monaten, die zwischen der Entstehung des handgeschriebenen Hefts und dem Druck lagen, intensiv an seinem neuen Gedichtbuch weitergearbeitet und deshalb auch in dem kalligraphischen Manuskript zumeist mit Bleistift viele Änderungen vorgenommen und Umstellungen der Gedichte erwogen.
Der George-Leser hat nur selten Gelegenheit, den Dichter, der alle Entstehungsspuren seiner Gedichte den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen suchte, so intensiv bei der Arbeit am Text zu beobachten wie im Falle dieser Handschrift.
Dies ist um so bedeutsamer deshalb, weil "Der Teppich des Lebens" nicht nur die Mitte von Georges Werk bezeichnet - das Buch entstand in der Mitte seines Lebens und ist das vierte seiner sieben Gedichtbücher -, sondern auch eine entscheidende Wende in seinem dichterischen Selbstverständnis einleitet. Schon in dem ersten Gedicht erscheint dem Dichter ein "nackter engel" als Bote des "schönen lebens"; der Dichter verläßt den Raum ästhetizistischer Lebensferne und wandelt sich zum "freund und führer" einer "kleinen schar", für die die Kunst - seine Kunst! - zum zentralen Medium einer Neugestaltung des modernen Lebens jenseits der Ökonomisierung und Technisierung des Alltags werden sollte: "Hellas ewig unsre liebe." In der Handschrift setzte George hinter "Hellas" und "liebe" noch jeweils ein Ausrufungszeichen.
Damit hatte der Prozeß begonnen, der George sich zum Führer einer männlichen Bildungselite wandeln ließ, die sich als das "Geheime Deutschland" empfand und das "Neue Reich" der wiedergewonnenen Lebensganzheit schaffen wollte; man weiß, welche Bedeutung das Gedicht "Der Täter" aus dem "Teppich des Lebens", dessen Titel in der Handschrift noch "Der Thaeter" geschrieben wurde, für Claus Schenk Graf von Stauffenberg besessen hat. Die Befunde der nun veröffentlichten Handschrift geben zu erkennen, welch intensiver Arbeit am Text die poetische Neuerfindung und Legitimierung Georges als Leit- und Orientierungsfigur seines Gegen-Staats bedurfte. Der Formung der Leiber und Geister geht die des Textkörpers voran.
Welche Bedeutung George gerade diesem Manuskript, das er das "handgeschriebene Buch" nannte, beimaß, zeigt sich daran, daß er 1932 in der im Rahmen der Gesamtausgabe seiner Werke erschienenen Ausgabe des "Teppichs des Lebens" nicht weniger als zwanzig Seiten - freilich solche, die dem gedruckten Text schon weitgehend entsprachen und nur wenige Korrekturen enthielten - hieraus schwarzweiß im Anhang reproduzieren ließ. Um so schmerzlicher mußte es dann sein, daß das gesamte Manuskript der Forschung entzogen blieb. Erst 1998 gelangte die Handschrift als Schenkung in den Besitz der Stefan George Stiftung - nicht weniger als vierzehn Jahre nachdem die kritische Edition des "Teppichs" im Rahmen der Sämtlichen Werke (1984) erschienen war. Damit steht die Forschung zu diesem zentralen Buch Georges auf einer entscheidend veränderten Grundlage. Die Befunde der Handschrift auf eine Weise, die nicht anders als meisterhaft genannt werden kann, philologisch zum Sprechen gebracht zu haben ist das Verdienst von Elisabeth Höpker-Herberg, die noch die flüchtigsten Korrekturen lesbar gemacht und selbst radierte Einträge mit Hilfe digitaler Vergrößerung entziffert hat. So wird es dem Leser dieser vorbildlichen Edition gehen wie weiland Stefan George: Die Philologie, die wird er nicht missen mögen.
ERNST OSTERKAMP
Stefan George: "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel". Faksimile der Handschrift. Befunde der Handschrift. Für die Stefan George Stiftung herausgegeben von Elisabeth Höpker-Herberg. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 32 u. 118 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stefan Georges "Teppich des Lebens" als Faksimile-Ausgabe
An einem Frühlingstag des Jahres 1920 teilte Stefan George stolz seiner Gastgeberin Edith Landmann mit, er habe den ganzen Nachmittag mit einem seiner Schüler "über zwei Worten gesessen - wir Philologen". Und: "Die Philologie, die Zusammenhänge zwischen den Worten, das möge er nicht missen." Man sollte es dem Meister, der in der Regel viel nüchterner dachte als seine enthusiastischen Adepten, gleichtun und das Ethos der philologischen Handwerklichkeit anwenden auf sein eigenes Werk, das bisher allzuoft herhalten mußte für wolkig-ganzheitliche "Wesensschau". Gelegenheit hierzu gibt aufs schönste das Faksimile einer prachtvollen Handschrift Georges, die bis vor kurzem in der Forschung als unauffindbar galt.
Es handelt sich um ein zweiunddreißig Seiten umfassendes, in einen Bogen gerippten silbergrauen Papiers gehülltes Heft, auf dessen Vorderseite George mit blauen Versalien bereits den Titel gesetzt hatte, unter dem die hier versammelten Gedichte erscheinen sollten: "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel". Auf jede Seite hat George in der von ihm entwickelten kalligraphischen Schrift mit schwarzer Tusche zwei Gedichte geschrieben und dabei die Zyklentitel und die Überschriften der Gedichte kunstvoll in roter Tinte in Versalien hervorgehoben.
Die Anlage der spätestens im Mai 1899 entstandenen Handschrift gibt zu erkennen, daß bei ihrer Niederschrift Umfang und innere Anordnung seines neuen Gedichtbandes für George weitgehend feststanden; vermutlich hat er zeitweise sogar daran gedacht, das Manuskript als Druckvorlage zu verwenden. Als dann aber Ende des Jahres 1899 der von Melchior Lechter mit üppigster buchkünstlerischer Prachtvollkommenheit ausgestattete "Teppich des Lebens" in dreihundert Exemplaren erschien, waren acht Gedichte hinzugekommen, die Reihenfolge hatte sich in vielfacher Hinsicht geändert, und auch in Wortlaut und Interpunktion der Gedichte weist der Druck viele Abweichungen gegenüber der Handschrift auf. George hat also in den wenigen Monaten, die zwischen der Entstehung des handgeschriebenen Hefts und dem Druck lagen, intensiv an seinem neuen Gedichtbuch weitergearbeitet und deshalb auch in dem kalligraphischen Manuskript zumeist mit Bleistift viele Änderungen vorgenommen und Umstellungen der Gedichte erwogen.
Der George-Leser hat nur selten Gelegenheit, den Dichter, der alle Entstehungsspuren seiner Gedichte den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen suchte, so intensiv bei der Arbeit am Text zu beobachten wie im Falle dieser Handschrift.
Dies ist um so bedeutsamer deshalb, weil "Der Teppich des Lebens" nicht nur die Mitte von Georges Werk bezeichnet - das Buch entstand in der Mitte seines Lebens und ist das vierte seiner sieben Gedichtbücher -, sondern auch eine entscheidende Wende in seinem dichterischen Selbstverständnis einleitet. Schon in dem ersten Gedicht erscheint dem Dichter ein "nackter engel" als Bote des "schönen lebens"; der Dichter verläßt den Raum ästhetizistischer Lebensferne und wandelt sich zum "freund und führer" einer "kleinen schar", für die die Kunst - seine Kunst! - zum zentralen Medium einer Neugestaltung des modernen Lebens jenseits der Ökonomisierung und Technisierung des Alltags werden sollte: "Hellas ewig unsre liebe." In der Handschrift setzte George hinter "Hellas" und "liebe" noch jeweils ein Ausrufungszeichen.
Damit hatte der Prozeß begonnen, der George sich zum Führer einer männlichen Bildungselite wandeln ließ, die sich als das "Geheime Deutschland" empfand und das "Neue Reich" der wiedergewonnenen Lebensganzheit schaffen wollte; man weiß, welche Bedeutung das Gedicht "Der Täter" aus dem "Teppich des Lebens", dessen Titel in der Handschrift noch "Der Thaeter" geschrieben wurde, für Claus Schenk Graf von Stauffenberg besessen hat. Die Befunde der nun veröffentlichten Handschrift geben zu erkennen, welch intensiver Arbeit am Text die poetische Neuerfindung und Legitimierung Georges als Leit- und Orientierungsfigur seines Gegen-Staats bedurfte. Der Formung der Leiber und Geister geht die des Textkörpers voran.
Welche Bedeutung George gerade diesem Manuskript, das er das "handgeschriebene Buch" nannte, beimaß, zeigt sich daran, daß er 1932 in der im Rahmen der Gesamtausgabe seiner Werke erschienenen Ausgabe des "Teppichs des Lebens" nicht weniger als zwanzig Seiten - freilich solche, die dem gedruckten Text schon weitgehend entsprachen und nur wenige Korrekturen enthielten - hieraus schwarzweiß im Anhang reproduzieren ließ. Um so schmerzlicher mußte es dann sein, daß das gesamte Manuskript der Forschung entzogen blieb. Erst 1998 gelangte die Handschrift als Schenkung in den Besitz der Stefan George Stiftung - nicht weniger als vierzehn Jahre nachdem die kritische Edition des "Teppichs" im Rahmen der Sämtlichen Werke (1984) erschienen war. Damit steht die Forschung zu diesem zentralen Buch Georges auf einer entscheidend veränderten Grundlage. Die Befunde der Handschrift auf eine Weise, die nicht anders als meisterhaft genannt werden kann, philologisch zum Sprechen gebracht zu haben ist das Verdienst von Elisabeth Höpker-Herberg, die noch die flüchtigsten Korrekturen lesbar gemacht und selbst radierte Einträge mit Hilfe digitaler Vergrößerung entziffert hat. So wird es dem Leser dieser vorbildlichen Edition gehen wie weiland Stefan George: Die Philologie, die wird er nicht missen mögen.
ERNST OSTERKAMP
Stefan George: "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel". Faksimile der Handschrift. Befunde der Handschrift. Für die Stefan George Stiftung herausgegeben von Elisabeth Höpker-Herberg. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 32 u. 118 S., geb., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rolf Vollmann macht sich in der Besprechung des Handschriften-Faksimiles "Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel" zunächst Gedanken über die verschiedenen "Attitüden" Stefan Georges, wie zum Beispiel der, sein Äußeres nach dem Abbild Dantes zu stilisieren. Den faksimilierten Handschriftenband findet der Rezensent in so fern etwas irreführend, weil er sich als autorisierte Fassung quasi von der Hand des Dichters geriert, obwohl man weiß, dass sich die spätere von George selbst besorgte Druckfassung durchaus davon unterscheidet. Im vorliegenden Band hat Vollmann dann auch ein handfestes "Schreibfehlerchen" gefunden, eine Wortwiederholung in dem "außerordentlich guten Gedicht" "Der Täter", die in der gedruckten Ausgabe korrigiert ist. Aber irgendwie rührt es den Rezensenten auch, dass sich in den geradezu "erzgegossen" wirkenden handschriftlichen Versen der Meister als fehlbar erweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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