Zwischen Lemberg und Wilna, zwischen Polen und Litauen - mit einem kurzen Intermezzo in Deutschland - spielt diese hinreißende Familiengeschichte. Mit verschmitztem Charme und bilderreicher Sprache, durch groteske Überzeichnung und vergnüglichen Spott vollbringt der polnische Satiriker Marek Lawrynowicz das Kunststück, den Lauf der wechselhaften polnischen Geschichte unterhaltsam darzustellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2000Auf dem Karussellpferd
Marek Lawrynowicz' Polen · Von Hans-Ulrich Treichel
Einen "polnischen Schelmenroman" kündigt der Buchrücken an, von einem Autor, der 1954 geboren wurde und sein Brot als Redakteur beim Warschauer Rundfunk verdient - zuständig für den "Bereich Satire". Einen für Satire zuständigen Warschauer Rundfunkredakteur können wir uns nur als traurigen Menschen vorstellen, der traurige Bücher schreibt. Marek Lawrynowicz' Roman aber, der im Original 1998 erschien, ist ein komischer, grotesker, spöttischer Durchgang durch die polnische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Roman beginnt zur Zeit des Ersten Weltkriegs und mit den Großeltern des Erzählers, die in Wilna leben und "nicht im Traum daran dachten, daß sie einmal meine Großeltern sein würden". Damit ist ein wichtiger literarischer Kunstbegriff benannt, der zur Komik des Textes beiträgt: Lawrynowicz erzählt seine Geschichte und die seiner Familie aus dem Bauch heraus - aus dem Bauch der Mutter, aus dem er erst im letzten Drittel des Buches entlassen wird. Das Geburtskapitel gehört zu den turbulenten Höhepunkten des Textes, bildet dramaturgisch die Klimax. Denn der Erzähler wird nicht nur mit Hilfe der Schwerkraft und einer Hebamme in die Welt entlassen, er gerät auch kurz darauf auf dem Weg vom Krankenhaus in die elterliche Wohnung in eine mit Stalin-Porträts geschmückte Feiertagsdemonstration, die Züge einer Raserei annimmt. Vor allem in der Nähe der Tribüne, auf der der polnische Präsident Bierut "das dröhnende ,Er lebe hoooooooch!' aus den energischen Busen der jungen Kommunisten und Kommunistinnen" entgegennimmt, "aus den haarigen Busen der Straßenbahner, den schwächlichen Busen der Exekutive, aus dem üppigen und für Zärtlichkeiten offenen Busen der Büfettdame aus der Swierczewski-Fabrik und auch aus den Busen der Milizionäre, die all diese Busen bewachen".
Womit ein weiteres Lieblingsverfahren des Autors deutlich wird: die Aufzählung. Sie ist zum einen der kindlichen, säuglingshaften Perspektive geschuldet - "Gemischtwarenhändler beugten sich über mich, Metzger und kohlebeschmierte Kutscher . . . Kerle in Unterhemden . . . junge Fräuleins" - und hat zum anderen den Effekt, die Welt zu verkindlichen, sie in eine Art Karussell zu verwandeln, auf dem immer neue Merkwürdigkeiten vorbeiziehen.
In dieser Verkindlichung des Realen liegt das Versöhnliche der satirischen Darstellung, in der vieles liebenswert, einiges schlimm und nichts schreckenerregend erscheint: weder die Wirren der Geschichte, denen die Stadt Wilna ausgesetzt ist, noch das Lagerleben, das Mietek, der Onkel des Erzählers, ertragen muß, und aus dem er sich mit Hilfe von geschnitzten pornographischen Holzfiguren befreien kann, die ihm ein Mithäftling überläßt; nicht das "unmerkliche" Sterben des Onkels und Kirchenchorgründers Edward im Kreise seiner Sangesbrüder und -schwestern und auch nicht der polnische oder sowjetische Sozialismus samt Geheimdienst und Bürokratie. Speziell letztere bekommt bei Lawrynowicz ihren satirischen Segen, wird als Welt beschrieben, in der man Schlange steht, um wiederum Schlange zu stehen, in der "Anlagen Anlagen" hinzugefügt werden und wo "ein Stempel einen anderen Stempel verlangt". Das sind Standardsituationen, der Autor rennt offene Bürotüren ein. Er tut dies temporeich, oft unterhaltsam, manchmal albern: "Ojojojojojoj!" kann es da schon einmal heißen.
So sprachen die Erwachsenen zum Erzähler als Säugling. Das muß sich ihm so sehr eingeprägt haben, daß er das Weltgeschehen für ein kindisches Unterfangen hält. Wohl rezitiert er am Schluß: "Leide meine Seele, / und du wirst erlöst. / Wenn du nicht gelitten, / dann ergeht's dir bös." Doch tut er dies nicht wie einer, dessen Vorfahren durch zwei Kriege gegangen sind, der den realen Sozialismus erlebt hat und der weiß, was es heißt, für den Bereich Satire zuständig zu sein. Er tut es in bester Laune, ganz wie jemand, der seine Erlösung schon hinter sich hat.
Marek Lawrynowicz: "Der Teufel auf dem Kirchturm". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2000. 208 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marek Lawrynowicz' Polen · Von Hans-Ulrich Treichel
Einen "polnischen Schelmenroman" kündigt der Buchrücken an, von einem Autor, der 1954 geboren wurde und sein Brot als Redakteur beim Warschauer Rundfunk verdient - zuständig für den "Bereich Satire". Einen für Satire zuständigen Warschauer Rundfunkredakteur können wir uns nur als traurigen Menschen vorstellen, der traurige Bücher schreibt. Marek Lawrynowicz' Roman aber, der im Original 1998 erschien, ist ein komischer, grotesker, spöttischer Durchgang durch die polnische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Roman beginnt zur Zeit des Ersten Weltkriegs und mit den Großeltern des Erzählers, die in Wilna leben und "nicht im Traum daran dachten, daß sie einmal meine Großeltern sein würden". Damit ist ein wichtiger literarischer Kunstbegriff benannt, der zur Komik des Textes beiträgt: Lawrynowicz erzählt seine Geschichte und die seiner Familie aus dem Bauch heraus - aus dem Bauch der Mutter, aus dem er erst im letzten Drittel des Buches entlassen wird. Das Geburtskapitel gehört zu den turbulenten Höhepunkten des Textes, bildet dramaturgisch die Klimax. Denn der Erzähler wird nicht nur mit Hilfe der Schwerkraft und einer Hebamme in die Welt entlassen, er gerät auch kurz darauf auf dem Weg vom Krankenhaus in die elterliche Wohnung in eine mit Stalin-Porträts geschmückte Feiertagsdemonstration, die Züge einer Raserei annimmt. Vor allem in der Nähe der Tribüne, auf der der polnische Präsident Bierut "das dröhnende ,Er lebe hoooooooch!' aus den energischen Busen der jungen Kommunisten und Kommunistinnen" entgegennimmt, "aus den haarigen Busen der Straßenbahner, den schwächlichen Busen der Exekutive, aus dem üppigen und für Zärtlichkeiten offenen Busen der Büfettdame aus der Swierczewski-Fabrik und auch aus den Busen der Milizionäre, die all diese Busen bewachen".
Womit ein weiteres Lieblingsverfahren des Autors deutlich wird: die Aufzählung. Sie ist zum einen der kindlichen, säuglingshaften Perspektive geschuldet - "Gemischtwarenhändler beugten sich über mich, Metzger und kohlebeschmierte Kutscher . . . Kerle in Unterhemden . . . junge Fräuleins" - und hat zum anderen den Effekt, die Welt zu verkindlichen, sie in eine Art Karussell zu verwandeln, auf dem immer neue Merkwürdigkeiten vorbeiziehen.
In dieser Verkindlichung des Realen liegt das Versöhnliche der satirischen Darstellung, in der vieles liebenswert, einiges schlimm und nichts schreckenerregend erscheint: weder die Wirren der Geschichte, denen die Stadt Wilna ausgesetzt ist, noch das Lagerleben, das Mietek, der Onkel des Erzählers, ertragen muß, und aus dem er sich mit Hilfe von geschnitzten pornographischen Holzfiguren befreien kann, die ihm ein Mithäftling überläßt; nicht das "unmerkliche" Sterben des Onkels und Kirchenchorgründers Edward im Kreise seiner Sangesbrüder und -schwestern und auch nicht der polnische oder sowjetische Sozialismus samt Geheimdienst und Bürokratie. Speziell letztere bekommt bei Lawrynowicz ihren satirischen Segen, wird als Welt beschrieben, in der man Schlange steht, um wiederum Schlange zu stehen, in der "Anlagen Anlagen" hinzugefügt werden und wo "ein Stempel einen anderen Stempel verlangt". Das sind Standardsituationen, der Autor rennt offene Bürotüren ein. Er tut dies temporeich, oft unterhaltsam, manchmal albern: "Ojojojojojoj!" kann es da schon einmal heißen.
So sprachen die Erwachsenen zum Erzähler als Säugling. Das muß sich ihm so sehr eingeprägt haben, daß er das Weltgeschehen für ein kindisches Unterfangen hält. Wohl rezitiert er am Schluß: "Leide meine Seele, / und du wirst erlöst. / Wenn du nicht gelitten, / dann ergeht's dir bös." Doch tut er dies nicht wie einer, dessen Vorfahren durch zwei Kriege gegangen sind, der den realen Sozialismus erlebt hat und der weiß, was es heißt, für den Bereich Satire zuständig zu sein. Er tut es in bester Laune, ganz wie jemand, der seine Erlösung schon hinter sich hat.
Marek Lawrynowicz: "Der Teufel auf dem Kirchturm". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2000. 208 S., geb., 36,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Ein komischer, grotesker, spöttischer Durchgang durch die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts", so beschreibt Rezensent und Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel diesen Roman. Durch dieses Buch hat er aber auch gelernt, dass polnische Rundfunkredakteure keine "traurigen Menschen, die traurige Bücher schreiben" sein müssen - auch dann nicht, wenn sie für den "Bereich Satire" zuständig sind. Treichel nimmt uns mit auf den Ritt durch die Geschichte, die "aus dem Bauch heraus" erzählt sei. Im Mutterbauch nämlich befindet sich der Erzähler noch, der erst im letzten Drittel des Buches geboren wird: ein Beitrag zur Komik des Textes und wichtiger literarischer Kunstgriff, so Treichel. Denn in "dieser Verkindlichung des Realen" liegt das Versöhnliche der satirischen Darstellung, "in der vieles liebenswert, einiges schlimm und nichts schreckenerregend" erscheint, meint Treichel. So hinterlässt das schreckliche 20, Jahrhundert wenigstens diesmal gute Laune. Wie schön.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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