Sonias Sinne spielen verrückt: Sie sieht auf einmal Geräusche, schmeckt Formen oder fühlt Farben. Ein Aufenthalt in den Bergen soll ihr Gemüt beruhigen, doch das Gegenteil tritt ein: Im Spannungsfeld von archaischer Bergwelt und urbaner Wellness, bedrohlichem Jahrhundertregen und moderner Telekommunikation beginnt ihre überreizte Wahrnehmung erst recht zu blühen - oder gerät die Wirklichkeit aus den Fugen?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2006Schnitzwerk aus Fleischkäse
Schaurig ist die Alpensage: Der neue Thriller des Schweizers Martin Suter
Die Schweiz muss etwas Verlockendes haben. Jedenfalls für Deutsche. Erstmals, so melden die Zeitungen in diesen Tagen, sind im Jahre 2005 mehr Deutsche – über 14 000 – in die Schweiz ausgewandert als in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die deutschen Ausgewanderten haben sich, so sagen sie in Interviews, vom hohen Lebensstandard und den grandiosen Alpenlandschaften locken lassen. Wen würde das nicht reizen?
Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die ihre Auswanderungspläne in die Schweiz noch einmal überdenken wollen. Denn er ist nicht nur ein eleganter Stilist, sondern auch ein Vertreter jener Tradition, die man die „Verdacht-gegen-die-Schweiz-Literatur” nennen kann: „Die rosaroten Häuser in diesem Teil des Dorfes sahen aus wie aus Fleischkäse geschnitzt.” Das klingt nach Modell-Eisenbahn und soll danach klingen. Aber nicht die Dörfer und schon gar nicht das Alte, Archaische steht hier im Zentrum des Verdachts. Entlarvung traditioneller Idyllen ist nicht Suters Metier. Er ist Spezialist für die Gegenwart, für das Aktuelle und Mondäne, für die Schweiz als Inbegriff der – sei’s technischen, sei’s ökonomischen, sei’s zivilisatorischen – Modernität. Kurz, Martin Suters Modellschweiz liegt irgendwo dort, wo früher einmal Japan lag.
Gern essen seine Figuren Sushi, routiniert hantieren sie mit Stäbchen, und wenn’s nicht läuft, greifen die Manager, Wirtschaftsanwälte oder Angestellten aus der Chefetage einer Bank zu einer wohldosierten Einheit fernöstlicher Entspannungstechnik. Das Formmodell aber, mit dem Suter seinen Figuren zu Leibe rückt, stammt aus Westeuropa, aus jenem Belgien, das Georges Simenon hervorbrachte und das durch ihn ein Kontinent wurde, der Frankreich in sich aufnahm und bis nach Afrika reichte.
Dieses Modell verlangt das mehr oder weniger allmähliche, jedenfalls unwiderstehliche Herauskippen der Figuren aus einem geordneten, unscheinbaren, allenfalls von Langeweile bedrohten Leben. Die Anlässe mögen von außen kommen, die Dynamik aber kommt aus dem Leben selbst, dessen Ordnung zerfällt.
Es liegt auf der Hand, dass sich das Simenon-Modell mit dem „Verdacht-gegen-die-Schweiz”-Modell bestens verträgt. Bei Martin Suter kommt es zu ihrer chromglänzenden Fusion, in verbissen eleganten Villen, die durch Renovierung ästhetisch ruiniert sind, in technisch hochgerüsteten Anwaltskanzleien, in Boutiquen mit Antiquitäten aus der klassischen Moderne, in schwarzen Ungetümen mit Vierradantrieb und hochwertiger Stereoanlage.
Wellness und gestörte Ordnung
Suters neuer Roman heißt „Der Teufel von Mailand”, spielt aber im Unterengadin, an einem Schauplatz, der nur darauf gewartet hat, von einem literarischen Chronisten des modernen Lebensstils heimgesucht zu werden: einem Wellness-Hotel. Sonia, die Städterin und Heldin des Romans, gerät hierher, nachdem ihre Ehe gescheitert und ihr Mann, ein Banker aus gutem Hause, im Gefängnis gelandet ist, weil er sie geschlagen, ja nahezu umgebracht hat. Nun kehrt sie, eher um wieder Halt zu finden als aus finanziellen Gründen, wieder in ihren Beruf als Physiotherapeutin zurück. Sie weiß, dass ihr Mann nicht locker lassen wird mit seinen erpresserischen Versuchen, sie zu einer Aussage zu bringen, die ihn entlastet.
Suter wäre nicht Suter, gelänge es ihm nicht, mit ebenso leichter Hand, wie der kanadische Barpianist seine Standards herbeizitiert, das Wellness-Hotel samt Dorf, das die neue Bewirtschaftung misstrauisch beobachtet, mit präzise umrissenen Figuren zu bevölkern: einem alten trunkenen Portier, einem jungen, reggae- und jointverliebten, notorisch geilen Milchfahrer, einem schwulen Masseur, einer nervigen alten Dame und einem alternden, klugen Arzt.
Den Arzt als Kommentarstimme im Roman braucht Suter, weil er sich mit der charmanten Studie zu Wellness und Massage nicht bescheidet. Er greift ein Motiv aus früheren Romanen auf: die physiologische Variante von innen gestörter Ordnung. Die Verrückung der Wahrnehmung löst in dieser Variante den Prozess aus, in dem eine Figur an sich und ihrem Leben irre wird. In „Small World” waren es Symptome von Alzheimer, in „Ein perfekter Freund” eine zeitweilige Amnesie, in „Die dunkle Seite des Mondes” wurde ein Erfolgsanwalt nach dem Genuss halluzinogener Pilze zum unheimlichen, unberechenbaren Waldmenschen. Nun, im „Teufel aus Mailand”, laboriert die Heldin Sonia an den Folgen eines schlechten LSD-Trips, aus dem sie zu Beginn des Romans nach einer wüsten Nacht erwacht. Ach, wäre Suter, der Gegenwartsspezialist, der Sonia eine hinreißende SMS-Kommunikation mit ihrer mondänen Freundin führen lässt, doch bei der Verquickung von Wellness-Ambiente und Wahrnehmungsverrückung samt Dauerregen im Hintergrund geblieben! Aber er flirtet diesmal mit der Vergangenheit, mit dem guten alten Schauerroman. „Der Teufel aus Mailand” heißt eine alte Alpensage, die Sonia in der Bibliothek des Wellness-Hotels findet, mit einer düsteren Prophezeiung, die sich nach und nach erfüllen soll, in fünf (zunehmend vorhersehbaren) Schritten.
Der Flirt mit dem Schauerroman geht gründlich schief. Nicht nur, weil er Suters Talent zur souveränen Handlungsführung eher einengt als animiert und der Auflösung das Aroma von Kinderkrimi beimischt: Die Sache mit der Sage wäre ideal für TKKG oder die Fünf Freunde. Sondern vor allem, weil eine Welt, in der schaurige Alpensagen das Regiment über frisch renovierte Wellness-Hotels führen, partout nicht Suters Welt ist, auch dann nicht, wenn sehr gegenwärtige böse Banker hinter den Dämonen von einst stecken. LOTHAR MÜLLER
MARTIN SUTER: Der Teufel von Mailand. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 298 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Schaurig ist die Alpensage: Der neue Thriller des Schweizers Martin Suter
Die Schweiz muss etwas Verlockendes haben. Jedenfalls für Deutsche. Erstmals, so melden die Zeitungen in diesen Tagen, sind im Jahre 2005 mehr Deutsche – über 14 000 – in die Schweiz ausgewandert als in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die deutschen Ausgewanderten haben sich, so sagen sie in Interviews, vom hohen Lebensstandard und den grandiosen Alpenlandschaften locken lassen. Wen würde das nicht reizen?
Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die ihre Auswanderungspläne in die Schweiz noch einmal überdenken wollen. Denn er ist nicht nur ein eleganter Stilist, sondern auch ein Vertreter jener Tradition, die man die „Verdacht-gegen-die-Schweiz-Literatur” nennen kann: „Die rosaroten Häuser in diesem Teil des Dorfes sahen aus wie aus Fleischkäse geschnitzt.” Das klingt nach Modell-Eisenbahn und soll danach klingen. Aber nicht die Dörfer und schon gar nicht das Alte, Archaische steht hier im Zentrum des Verdachts. Entlarvung traditioneller Idyllen ist nicht Suters Metier. Er ist Spezialist für die Gegenwart, für das Aktuelle und Mondäne, für die Schweiz als Inbegriff der – sei’s technischen, sei’s ökonomischen, sei’s zivilisatorischen – Modernität. Kurz, Martin Suters Modellschweiz liegt irgendwo dort, wo früher einmal Japan lag.
Gern essen seine Figuren Sushi, routiniert hantieren sie mit Stäbchen, und wenn’s nicht läuft, greifen die Manager, Wirtschaftsanwälte oder Angestellten aus der Chefetage einer Bank zu einer wohldosierten Einheit fernöstlicher Entspannungstechnik. Das Formmodell aber, mit dem Suter seinen Figuren zu Leibe rückt, stammt aus Westeuropa, aus jenem Belgien, das Georges Simenon hervorbrachte und das durch ihn ein Kontinent wurde, der Frankreich in sich aufnahm und bis nach Afrika reichte.
Dieses Modell verlangt das mehr oder weniger allmähliche, jedenfalls unwiderstehliche Herauskippen der Figuren aus einem geordneten, unscheinbaren, allenfalls von Langeweile bedrohten Leben. Die Anlässe mögen von außen kommen, die Dynamik aber kommt aus dem Leben selbst, dessen Ordnung zerfällt.
Es liegt auf der Hand, dass sich das Simenon-Modell mit dem „Verdacht-gegen-die-Schweiz”-Modell bestens verträgt. Bei Martin Suter kommt es zu ihrer chromglänzenden Fusion, in verbissen eleganten Villen, die durch Renovierung ästhetisch ruiniert sind, in technisch hochgerüsteten Anwaltskanzleien, in Boutiquen mit Antiquitäten aus der klassischen Moderne, in schwarzen Ungetümen mit Vierradantrieb und hochwertiger Stereoanlage.
Wellness und gestörte Ordnung
Suters neuer Roman heißt „Der Teufel von Mailand”, spielt aber im Unterengadin, an einem Schauplatz, der nur darauf gewartet hat, von einem literarischen Chronisten des modernen Lebensstils heimgesucht zu werden: einem Wellness-Hotel. Sonia, die Städterin und Heldin des Romans, gerät hierher, nachdem ihre Ehe gescheitert und ihr Mann, ein Banker aus gutem Hause, im Gefängnis gelandet ist, weil er sie geschlagen, ja nahezu umgebracht hat. Nun kehrt sie, eher um wieder Halt zu finden als aus finanziellen Gründen, wieder in ihren Beruf als Physiotherapeutin zurück. Sie weiß, dass ihr Mann nicht locker lassen wird mit seinen erpresserischen Versuchen, sie zu einer Aussage zu bringen, die ihn entlastet.
Suter wäre nicht Suter, gelänge es ihm nicht, mit ebenso leichter Hand, wie der kanadische Barpianist seine Standards herbeizitiert, das Wellness-Hotel samt Dorf, das die neue Bewirtschaftung misstrauisch beobachtet, mit präzise umrissenen Figuren zu bevölkern: einem alten trunkenen Portier, einem jungen, reggae- und jointverliebten, notorisch geilen Milchfahrer, einem schwulen Masseur, einer nervigen alten Dame und einem alternden, klugen Arzt.
Den Arzt als Kommentarstimme im Roman braucht Suter, weil er sich mit der charmanten Studie zu Wellness und Massage nicht bescheidet. Er greift ein Motiv aus früheren Romanen auf: die physiologische Variante von innen gestörter Ordnung. Die Verrückung der Wahrnehmung löst in dieser Variante den Prozess aus, in dem eine Figur an sich und ihrem Leben irre wird. In „Small World” waren es Symptome von Alzheimer, in „Ein perfekter Freund” eine zeitweilige Amnesie, in „Die dunkle Seite des Mondes” wurde ein Erfolgsanwalt nach dem Genuss halluzinogener Pilze zum unheimlichen, unberechenbaren Waldmenschen. Nun, im „Teufel aus Mailand”, laboriert die Heldin Sonia an den Folgen eines schlechten LSD-Trips, aus dem sie zu Beginn des Romans nach einer wüsten Nacht erwacht. Ach, wäre Suter, der Gegenwartsspezialist, der Sonia eine hinreißende SMS-Kommunikation mit ihrer mondänen Freundin führen lässt, doch bei der Verquickung von Wellness-Ambiente und Wahrnehmungsverrückung samt Dauerregen im Hintergrund geblieben! Aber er flirtet diesmal mit der Vergangenheit, mit dem guten alten Schauerroman. „Der Teufel aus Mailand” heißt eine alte Alpensage, die Sonia in der Bibliothek des Wellness-Hotels findet, mit einer düsteren Prophezeiung, die sich nach und nach erfüllen soll, in fünf (zunehmend vorhersehbaren) Schritten.
Der Flirt mit dem Schauerroman geht gründlich schief. Nicht nur, weil er Suters Talent zur souveränen Handlungsführung eher einengt als animiert und der Auflösung das Aroma von Kinderkrimi beimischt: Die Sache mit der Sage wäre ideal für TKKG oder die Fünf Freunde. Sondern vor allem, weil eine Welt, in der schaurige Alpensagen das Regiment über frisch renovierte Wellness-Hotels führen, partout nicht Suters Welt ist, auch dann nicht, wenn sehr gegenwärtige böse Banker hinter den Dämonen von einst stecken. LOTHAR MÜLLER
MARTIN SUTER: Der Teufel von Mailand. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 298 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2006Auf das Böse ist kein Verlaß
Martin Suter verirrt sich im Engadiner Nebel
Martin Suter, ein Autor, der nach Angaben des Buchumschlags in sonnigeren Regionen lebt, hat für "Der Teufel von Mailand" die phantasmagorische Szenerie eines Schweizer Bergdorfs beschworen mit allem, was dazugehört: Nebel, Blitzen, Stürmen, sintflutartigen Regenfällen und plötzlichem Wintereinbruch. Wir tauchen ein in die lauernde Atmosphäre aufgeschreckter Hinterwäldler, die der Neueröffnung eines stillgelegten Berghotels mit Mißtrauen entgegensehen.
Einsilbige Typen und doppelzüngige Frauen sorgen dafür, daß die Physiotherapeutin Sonia sich in ihrem neuen Job als Wellness-Spezialistin nicht allzu wohl fühlt. Sie ist damit beschäftigt, einem persönlichen Albtraum zu entkommen, seit ihr Exmann, ein angesehener Banker, sie krankenhausreif geprügelt hat. Sonia war in die städtische Nachtszene abgedriftet und hat nach einem katastrophalen LSD-Trip die Notbremse gezogen. Auf der Flucht ist sie nicht nur vor ihren eigenen destruktiven Tendenzen, sondern auch vor dem Druck ihrer angeheirateten Familie, die sie dazu bewegen will, die Anzeige gegen ihren inhaftierten Mann zurückzuziehen. Ihre Chefin Barbara Peters ist eine stupend schöne, ihrem Personal gegenüber faire, aber allem Anschein nach herzlose Frau mit Revenantcharakter; sie paßt perfekt in die lokale Sage vom Mailänder Teufel, die Sonia in die Hände fällt, als sich seltsame Dinge im Hotel zu ereignen beginnen. Wie Sonia kann der Leser nicht umhin, eins und eins zusammenzuzählen und an das Eintreffen der düsteren Prophezeiung im Zentrum der Sage zu glauben.
An diesem Punkt verspricht der Roman zu einem modernen Märchen zu werden, der holzschnittartige Umriß vieler Figuren tritt stärker hervor und legt sich wie eine Folie über die psychologischen Motivationen. Doch die Fährten, auf die uns Suter im Engadiner Nebel führt, enden im Nichts. Auf das Böse ist nicht länger Verlaß. Während einige so übel sind, wie sie scheinen, haben andere am Ende eine weiße Weste, und die wahren Strippenzieher sind die Vertrauten mit den harmlosen Gesichtern. Der Zusammenstoß zwischen modernem Unternehmertum und abergläubischer Versponnenheit ergibt ein Patt. Was die Lesererwartung betrifft, spielt Suter weniger mit alten Sagenbüchern als mit einem Urtext der modernen Schweizer Literatur, Dürrenmatts "Besuch der alten Dame". Doch während Dürrenmatt die Erwartungen umdreht und die so mondäne wie unsympathische Besucherin über die scheinbar naiven und gutmütigen Einheimischen triumphieren läßt, wird die Hotelchefin vom Lauf der Ereignisse exkulpiert, ohne ihre dämonische Aura abzulegen.
Den Grund könnte man in einer gut verborgenen Voreingenommenheit des Erzählers entdecken, der sich sonst schlank hinter seinen Figuren zurückhält. Doch als er bezüglich eines Maurers bemerkt, er arbeite "auf einer der vielen Baustellen, durch die das Engadin systematisch verunstaltet wurde", öffnet er das Visier und läßt erkennen, warum die Dorfbewohner jenseits von Gut und Böse lebendiger herausgearbeitet wurden. Die eintrudelnden Städter und auch die Protagonistin sind im Vergleich dazu flach, die Aspekte ihres Charakters wirken seltsam unvermittelt. Daß Sonia seit dem LSD-Erlebnis synästhetische Flashbacks erleidet und den Kanarienvogel einer seit einem Mittelmeerurlaub vermißten Freundin hütet, bleiben weniger falsche Fährten als lose Fäden, für die sich der Autor nicht interessiert. Dem entspricht die halbherzig inkorporierte Technik, die für ein Wagnersches Finale herhält und das Buch mit hölzernen SMS-Botschaften spickt, deren Funktion das eine oder andere Telefonat eleganter und glaubwürdiger hätte bedienen können.
"Der Teufel von Mailand" macht den Eindruck, als habe sich sein Autor für keine Erzählform entscheiden können. Sonia läßt sich ihre synästhetischen Erlebnisse von einem Arzt erklären, der sie darüber belehrt, daß es nicht nur eine allgemein anerkannte Wirklichkeit gibt, sondern "unendlich viele", die sich zur "allumfassenden, zeitlosen, transzendentalen Wirklichkeit" ergänzen. Dies Zugeständnis ist fatal für jeden forensischen Erzählstoff, der sich mit der Aufklärung der einen Wirklichkeit begnügt. Suters Roman wäre packender ausgefallen, wenn er sich an die gehalten hätte.
INGEBORG HARMS
Martin Suter: "Der Teufel von Mailand". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 296 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Suter verirrt sich im Engadiner Nebel
Martin Suter, ein Autor, der nach Angaben des Buchumschlags in sonnigeren Regionen lebt, hat für "Der Teufel von Mailand" die phantasmagorische Szenerie eines Schweizer Bergdorfs beschworen mit allem, was dazugehört: Nebel, Blitzen, Stürmen, sintflutartigen Regenfällen und plötzlichem Wintereinbruch. Wir tauchen ein in die lauernde Atmosphäre aufgeschreckter Hinterwäldler, die der Neueröffnung eines stillgelegten Berghotels mit Mißtrauen entgegensehen.
Einsilbige Typen und doppelzüngige Frauen sorgen dafür, daß die Physiotherapeutin Sonia sich in ihrem neuen Job als Wellness-Spezialistin nicht allzu wohl fühlt. Sie ist damit beschäftigt, einem persönlichen Albtraum zu entkommen, seit ihr Exmann, ein angesehener Banker, sie krankenhausreif geprügelt hat. Sonia war in die städtische Nachtszene abgedriftet und hat nach einem katastrophalen LSD-Trip die Notbremse gezogen. Auf der Flucht ist sie nicht nur vor ihren eigenen destruktiven Tendenzen, sondern auch vor dem Druck ihrer angeheirateten Familie, die sie dazu bewegen will, die Anzeige gegen ihren inhaftierten Mann zurückzuziehen. Ihre Chefin Barbara Peters ist eine stupend schöne, ihrem Personal gegenüber faire, aber allem Anschein nach herzlose Frau mit Revenantcharakter; sie paßt perfekt in die lokale Sage vom Mailänder Teufel, die Sonia in die Hände fällt, als sich seltsame Dinge im Hotel zu ereignen beginnen. Wie Sonia kann der Leser nicht umhin, eins und eins zusammenzuzählen und an das Eintreffen der düsteren Prophezeiung im Zentrum der Sage zu glauben.
An diesem Punkt verspricht der Roman zu einem modernen Märchen zu werden, der holzschnittartige Umriß vieler Figuren tritt stärker hervor und legt sich wie eine Folie über die psychologischen Motivationen. Doch die Fährten, auf die uns Suter im Engadiner Nebel führt, enden im Nichts. Auf das Böse ist nicht länger Verlaß. Während einige so übel sind, wie sie scheinen, haben andere am Ende eine weiße Weste, und die wahren Strippenzieher sind die Vertrauten mit den harmlosen Gesichtern. Der Zusammenstoß zwischen modernem Unternehmertum und abergläubischer Versponnenheit ergibt ein Patt. Was die Lesererwartung betrifft, spielt Suter weniger mit alten Sagenbüchern als mit einem Urtext der modernen Schweizer Literatur, Dürrenmatts "Besuch der alten Dame". Doch während Dürrenmatt die Erwartungen umdreht und die so mondäne wie unsympathische Besucherin über die scheinbar naiven und gutmütigen Einheimischen triumphieren läßt, wird die Hotelchefin vom Lauf der Ereignisse exkulpiert, ohne ihre dämonische Aura abzulegen.
Den Grund könnte man in einer gut verborgenen Voreingenommenheit des Erzählers entdecken, der sich sonst schlank hinter seinen Figuren zurückhält. Doch als er bezüglich eines Maurers bemerkt, er arbeite "auf einer der vielen Baustellen, durch die das Engadin systematisch verunstaltet wurde", öffnet er das Visier und läßt erkennen, warum die Dorfbewohner jenseits von Gut und Böse lebendiger herausgearbeitet wurden. Die eintrudelnden Städter und auch die Protagonistin sind im Vergleich dazu flach, die Aspekte ihres Charakters wirken seltsam unvermittelt. Daß Sonia seit dem LSD-Erlebnis synästhetische Flashbacks erleidet und den Kanarienvogel einer seit einem Mittelmeerurlaub vermißten Freundin hütet, bleiben weniger falsche Fährten als lose Fäden, für die sich der Autor nicht interessiert. Dem entspricht die halbherzig inkorporierte Technik, die für ein Wagnersches Finale herhält und das Buch mit hölzernen SMS-Botschaften spickt, deren Funktion das eine oder andere Telefonat eleganter und glaubwürdiger hätte bedienen können.
"Der Teufel von Mailand" macht den Eindruck, als habe sich sein Autor für keine Erzählform entscheiden können. Sonia läßt sich ihre synästhetischen Erlebnisse von einem Arzt erklären, der sie darüber belehrt, daß es nicht nur eine allgemein anerkannte Wirklichkeit gibt, sondern "unendlich viele", die sich zur "allumfassenden, zeitlosen, transzendentalen Wirklichkeit" ergänzen. Dies Zugeständnis ist fatal für jeden forensischen Erzählstoff, der sich mit der Aufklärung der einen Wirklichkeit begnügt. Suters Roman wäre packender ausgefallen, wenn er sich an die gehalten hätte.
INGEBORG HARMS
Martin Suter: "Der Teufel von Mailand". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 296 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine mindestens ebenso leichte Hand wie ein Barpianist beim "Herbeizitieren seiner Standards" bescheinigt Rezensent Lothar Müller dem Schriftsteller Martin Suter nach Lektüre seines neuen Romans. Aber mehr Komplimente hat er dann nicht zu vergeben, da er dieses Werk aus der Kategorie "Verdacht-gegen-die Schweiz-Literatur" eher misslungen findet. Denn die literarischen Standards sind aus Müllers Sicht dann doch ein wenig zu glatt geraten. Den Schauplatz, ein Wellness-Hotel - bevölkert von Bankern, geschiedenen Ehefrauen und anderen ähnlich Situierten - samt deren schwulen Masseuren und einem "alten, trunkenen Portier" - findet er bei aller handwerklicher Könnerschaft der Beschreibung auch nicht wirklich originell, sondern eher klischeehaft. Und so sehr sich Suter als Chronist des modernen Lebensstils hier wohl auch abstrampeln mag, der Rezensent reagiert fast allergisch auf die "chromglänzende" Oberfläche dieser Prosa, deren Unterhaltungswert er jedoch nicht bestreitet. Ihren literarischen Wert aber scheinbar doch, da er in diesem Buch am Ende auch noch "das Aroma von Kinderkrimi" schmeckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Martin Suter gilt als Meister einer eleganten Feder, die so fein geschliffen ist, dass man die Stiche oft erst hinterher spürt.« Monika Willer / Westfalenpost Westfalenpost