Sonias Sinne spielen verrückt: Sie sieht auf einmal Geräusche, schmeckt Formen oder fühlt Farben. Ein Aufenthalt in den Bergen soll ihr Gemüt beruhigen, doch das Gegenteil tritt ein: Im Spannungsfeld von archaischer Bergwelt und urbaner Wellness, bedrohlichem Jahrhundertregen und moderner Telekommunikation beginnt ihre überreizte Wahrnehmung erst recht zu blühen oder gerät die Wirklichkeit aus den Fugen?
»Martin Suter gilt als Meister einer eleganten Feder, die so fein geschliffen ist, dass man die Stiche oft erst hinterher spürt.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2006Auf das Böse ist kein Verlaß
Martin Suter verirrt sich im Engadiner Nebel
Martin Suter, ein Autor, der nach Angaben des Buchumschlags in sonnigeren Regionen lebt, hat für "Der Teufel von Mailand" die phantasmagorische Szenerie eines Schweizer Bergdorfs beschworen mit allem, was dazugehört: Nebel, Blitzen, Stürmen, sintflutartigen Regenfällen und plötzlichem Wintereinbruch. Wir tauchen ein in die lauernde Atmosphäre aufgeschreckter Hinterwäldler, die der Neueröffnung eines stillgelegten Berghotels mit Mißtrauen entgegensehen.
Einsilbige Typen und doppelzüngige Frauen sorgen dafür, daß die Physiotherapeutin Sonia sich in ihrem neuen Job als Wellness-Spezialistin nicht allzu wohl fühlt. Sie ist damit beschäftigt, einem persönlichen Albtraum zu entkommen, seit ihr Exmann, ein angesehener Banker, sie krankenhausreif geprügelt hat. Sonia war in die städtische Nachtszene abgedriftet und hat nach einem katastrophalen LSD-Trip die Notbremse gezogen. Auf der Flucht ist sie nicht nur vor ihren eigenen destruktiven Tendenzen, sondern auch vor dem Druck ihrer angeheirateten Familie, die sie dazu bewegen will, die Anzeige gegen ihren inhaftierten Mann zurückzuziehen. Ihre Chefin Barbara Peters ist eine stupend schöne, ihrem Personal gegenüber faire, aber allem Anschein nach herzlose Frau mit Revenantcharakter; sie paßt perfekt in die lokale Sage vom Mailänder Teufel, die Sonia in die Hände fällt, als sich seltsame Dinge im Hotel zu ereignen beginnen. Wie Sonia kann der Leser nicht umhin, eins und eins zusammenzuzählen und an das Eintreffen der düsteren Prophezeiung im Zentrum der Sage zu glauben.
An diesem Punkt verspricht der Roman zu einem modernen Märchen zu werden, der holzschnittartige Umriß vieler Figuren tritt stärker hervor und legt sich wie eine Folie über die psychologischen Motivationen. Doch die Fährten, auf die uns Suter im Engadiner Nebel führt, enden im Nichts. Auf das Böse ist nicht länger Verlaß. Während einige so übel sind, wie sie scheinen, haben andere am Ende eine weiße Weste, und die wahren Strippenzieher sind die Vertrauten mit den harmlosen Gesichtern. Der Zusammenstoß zwischen modernem Unternehmertum und abergläubischer Versponnenheit ergibt ein Patt. Was die Lesererwartung betrifft, spielt Suter weniger mit alten Sagenbüchern als mit einem Urtext der modernen Schweizer Literatur, Dürrenmatts "Besuch der alten Dame". Doch während Dürrenmatt die Erwartungen umdreht und die so mondäne wie unsympathische Besucherin über die scheinbar naiven und gutmütigen Einheimischen triumphieren läßt, wird die Hotelchefin vom Lauf der Ereignisse exkulpiert, ohne ihre dämonische Aura abzulegen.
Den Grund könnte man in einer gut verborgenen Voreingenommenheit des Erzählers entdecken, der sich sonst schlank hinter seinen Figuren zurückhält. Doch als er bezüglich eines Maurers bemerkt, er arbeite "auf einer der vielen Baustellen, durch die das Engadin systematisch verunstaltet wurde", öffnet er das Visier und läßt erkennen, warum die Dorfbewohner jenseits von Gut und Böse lebendiger herausgearbeitet wurden. Die eintrudelnden Städter und auch die Protagonistin sind im Vergleich dazu flach, die Aspekte ihres Charakters wirken seltsam unvermittelt. Daß Sonia seit dem LSD-Erlebnis synästhetische Flashbacks erleidet und den Kanarienvogel einer seit einem Mittelmeerurlaub vermißten Freundin hütet, bleiben weniger falsche Fährten als lose Fäden, für die sich der Autor nicht interessiert. Dem entspricht die halbherzig inkorporierte Technik, die für ein Wagnersches Finale herhält und das Buch mit hölzernen SMS-Botschaften spickt, deren Funktion das eine oder andere Telefonat eleganter und glaubwürdiger hätte bedienen können.
"Der Teufel von Mailand" macht den Eindruck, als habe sich sein Autor für keine Erzählform entscheiden können. Sonia läßt sich ihre synästhetischen Erlebnisse von einem Arzt erklären, der sie darüber belehrt, daß es nicht nur eine allgemein anerkannte Wirklichkeit gibt, sondern "unendlich viele", die sich zur "allumfassenden, zeitlosen, transzendentalen Wirklichkeit" ergänzen. Dies Zugeständnis ist fatal für jeden forensischen Erzählstoff, der sich mit der Aufklärung der einen Wirklichkeit begnügt. Suters Roman wäre packender ausgefallen, wenn er sich an die gehalten hätte.
INGEBORG HARMS
Martin Suter: "Der Teufel von Mailand". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 296 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Suter verirrt sich im Engadiner Nebel
Martin Suter, ein Autor, der nach Angaben des Buchumschlags in sonnigeren Regionen lebt, hat für "Der Teufel von Mailand" die phantasmagorische Szenerie eines Schweizer Bergdorfs beschworen mit allem, was dazugehört: Nebel, Blitzen, Stürmen, sintflutartigen Regenfällen und plötzlichem Wintereinbruch. Wir tauchen ein in die lauernde Atmosphäre aufgeschreckter Hinterwäldler, die der Neueröffnung eines stillgelegten Berghotels mit Mißtrauen entgegensehen.
Einsilbige Typen und doppelzüngige Frauen sorgen dafür, daß die Physiotherapeutin Sonia sich in ihrem neuen Job als Wellness-Spezialistin nicht allzu wohl fühlt. Sie ist damit beschäftigt, einem persönlichen Albtraum zu entkommen, seit ihr Exmann, ein angesehener Banker, sie krankenhausreif geprügelt hat. Sonia war in die städtische Nachtszene abgedriftet und hat nach einem katastrophalen LSD-Trip die Notbremse gezogen. Auf der Flucht ist sie nicht nur vor ihren eigenen destruktiven Tendenzen, sondern auch vor dem Druck ihrer angeheirateten Familie, die sie dazu bewegen will, die Anzeige gegen ihren inhaftierten Mann zurückzuziehen. Ihre Chefin Barbara Peters ist eine stupend schöne, ihrem Personal gegenüber faire, aber allem Anschein nach herzlose Frau mit Revenantcharakter; sie paßt perfekt in die lokale Sage vom Mailänder Teufel, die Sonia in die Hände fällt, als sich seltsame Dinge im Hotel zu ereignen beginnen. Wie Sonia kann der Leser nicht umhin, eins und eins zusammenzuzählen und an das Eintreffen der düsteren Prophezeiung im Zentrum der Sage zu glauben.
An diesem Punkt verspricht der Roman zu einem modernen Märchen zu werden, der holzschnittartige Umriß vieler Figuren tritt stärker hervor und legt sich wie eine Folie über die psychologischen Motivationen. Doch die Fährten, auf die uns Suter im Engadiner Nebel führt, enden im Nichts. Auf das Böse ist nicht länger Verlaß. Während einige so übel sind, wie sie scheinen, haben andere am Ende eine weiße Weste, und die wahren Strippenzieher sind die Vertrauten mit den harmlosen Gesichtern. Der Zusammenstoß zwischen modernem Unternehmertum und abergläubischer Versponnenheit ergibt ein Patt. Was die Lesererwartung betrifft, spielt Suter weniger mit alten Sagenbüchern als mit einem Urtext der modernen Schweizer Literatur, Dürrenmatts "Besuch der alten Dame". Doch während Dürrenmatt die Erwartungen umdreht und die so mondäne wie unsympathische Besucherin über die scheinbar naiven und gutmütigen Einheimischen triumphieren läßt, wird die Hotelchefin vom Lauf der Ereignisse exkulpiert, ohne ihre dämonische Aura abzulegen.
Den Grund könnte man in einer gut verborgenen Voreingenommenheit des Erzählers entdecken, der sich sonst schlank hinter seinen Figuren zurückhält. Doch als er bezüglich eines Maurers bemerkt, er arbeite "auf einer der vielen Baustellen, durch die das Engadin systematisch verunstaltet wurde", öffnet er das Visier und läßt erkennen, warum die Dorfbewohner jenseits von Gut und Böse lebendiger herausgearbeitet wurden. Die eintrudelnden Städter und auch die Protagonistin sind im Vergleich dazu flach, die Aspekte ihres Charakters wirken seltsam unvermittelt. Daß Sonia seit dem LSD-Erlebnis synästhetische Flashbacks erleidet und den Kanarienvogel einer seit einem Mittelmeerurlaub vermißten Freundin hütet, bleiben weniger falsche Fährten als lose Fäden, für die sich der Autor nicht interessiert. Dem entspricht die halbherzig inkorporierte Technik, die für ein Wagnersches Finale herhält und das Buch mit hölzernen SMS-Botschaften spickt, deren Funktion das eine oder andere Telefonat eleganter und glaubwürdiger hätte bedienen können.
"Der Teufel von Mailand" macht den Eindruck, als habe sich sein Autor für keine Erzählform entscheiden können. Sonia läßt sich ihre synästhetischen Erlebnisse von einem Arzt erklären, der sie darüber belehrt, daß es nicht nur eine allgemein anerkannte Wirklichkeit gibt, sondern "unendlich viele", die sich zur "allumfassenden, zeitlosen, transzendentalen Wirklichkeit" ergänzen. Dies Zugeständnis ist fatal für jeden forensischen Erzählstoff, der sich mit der Aufklärung der einen Wirklichkeit begnügt. Suters Roman wäre packender ausgefallen, wenn er sich an die gehalten hätte.
INGEBORG HARMS
Martin Suter: "Der Teufel von Mailand". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 296 S., geb., 19,90 [Euro].
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