Seit der Antike hadern Priester, Richter, Philosophen, Künstler und Politiker mit der Unzugänglichkeit von Herzen, Seelen oder Gehirnen. Nur zu gerne hätten sie das Geheimnis aus der Welt geschafft! Manfred Schneider erzählt die Geschichte des Traums und Albtraums von der Transparenz in zehn Kapiteln. Sein tiefgründiger Essay führt von Descartes' Philosophentraum über die Französische Revolution, die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts, die moderne Glasarchitektur, den Surrealismus, die russische Revolution bis zu Walter Benjamin und viele Autoren des 20. Jahrhunderts. Er reicht bis zu den intellektuellen und wissenschaftlichen Absurditäten unserer Tage, allen voran den mit Unsummen geförderten Neurosciences
und ihrem Versprechen, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen.
und ihrem Versprechen, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2013Langer Abschied von der kurzen Karriere der Piratenpartei
Keine Geheimnisse, gläserne Häuser und eine durchsichtige Welt: Manfred Schneider attackiert die Utopie einer transparenten Gesellschaft.
Von Helmut Mayer
Von Transparenz ist heute oft die Rede. Wikileaks promovierte sie zum Programm der Weltverbesserung, die Piratenpartei wollte sie im politischen Entscheidungsprozess durch und durch verwirklichen. Sie wird eingefordert von der Datenwirtschaft und mittlerweile auch von Geheimdiensten; Managemet-Ratgeber empfehlen sie Führungskräften, Kommunikationsspezialisten allen Verwaltungen. So betrachtet tritt Transparenz als Versprechen auf.
Gleichzeitig ist von Transparenz aber auch dort die Rede, wo es um gesellschaftliche Verlustrechnungen geht. Dann sind anvisiert: der Terror öffentlich ausgestellter Intimität, das tendenzielle Wegfallen des Privaten im durchökonomisierten Regime der Selbstvermarktung und der Spaßgesellschaft oder auch die Aushebelung der Privatsphäre durch die immer engmaschiger werdenden staatlichen Überwachungstechniken. So betrachtet erscheint Transparenz als Drohung totaler Kontrolle.
Auf jeden Fall ist aber dem Wort kaum zu entgehen. Es kann, so formuliert es Manfred Schneider, als Star unter den Wörtern gelten. Womit für den Bochumer Neugermanisten mit erwiesener zeitdiagnostischer Ader zugleich die Frage aufgeworfen ist, wie es zu dieser Konjunktur kam. Seine Antwort lautet kurzgefasst: Die Anziehungskraft der beschworenen Transparenz zehrt von einer langen Geschichte, in der es unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder um die Herstellung von Regimen restloser Durchsichtigkeit gegangen ist. Um Regime also, die in Aussicht stellten oder als Fiktion durchspielten, dass bis dahin Verborgenes sich unmittelbar vor Augen stellen lässt - ob dieses Verborgene nun im Inneren der Menschen lag oder als Widerstand einer opaken Welt zu überwinden war.
Spuren dieser in Philosophie und Literatur gut durchgearbeiteten, auch mit einer theologischen Grundierung versehenen Motive seien es, die heute mit der technischen Realität der omnipräsenten, alle Kapazitätsgrenzen hinter sich lassenden Rechner eine letztlich fatale Verbindung eingingen. Fatal deshalb, weil damit die Illusion aufkam, dass das Versprechen von Transparenz sich tatsächlich erfüllen lasse - was freilich heute so wenig gilt wie vor dem Advent des Internet oder eben nur in der desillusionierenden Form der drohenden Kontrolle, nicht der Durchsichtigkeit gesellschaftlicher Organisation auf allen Ebenen.
Schneider stürzt sich also in einen Parcours durch die Geschichte, um Beschwörungen solcher Durchsichtigkeit oder, wie der Titel es festhält, Elemente eines Traums von der unmöglichen Transparenz vorzuführen. Und damit das als Modell untergründiger Wirkungen in Anspruch genommene Konzept des Traums nicht ganz in der Luft hängt, beginnt der Parcours tatsächlich mit Traumgesichten, jenen nämlich, die René Descartes berühmte Notate aus der Zeit seines Durchbruchs zum Programm einer neuen Wissenschaft festhalten. Weil unter ihnen auch feurige Lichtpunkte vorkommen, ist Descartes schnell zum Transparenzdenker befördert, zumal er ja auch noch Vorliebe für die Parallelisierung von Licht und Erkenntnis zeigte - selbst wenn ihn das eigentlich aus einer mächtigen einschlägigen Tradition kaum heraushebt.
Von Descartes geht es dann weiter zu frühneuzeitlichen literarischen und medizinischen Bearbeitungen der pathologischen Vorstellung, einen gläsernen Körper zu haben. Mit einer bedrohlichen oder gesuchten Transparenz für fremde Blicke hat das zwar, wie die Beispiele zeigen, kaum zu tun. Aber Schneider ist bereits in Fahrt und kann vorweisen, dass Descartes diese Wahnvorstellung immerhin einmal nennt. Und wenn Descartes an anderer Stelle sogar explizit festhalte, dass wir uns alle einen Körper aus Diamant wünschen, erweise sich die tiefe Bedeutung dieser Verknüpfung des Programms philosophischen Durchblicks mit dem melancholischen Wahn.
Folgt man diesem interessant klingenden Hinweis, schlägt also bei Descartes nach, findet man den gläsernen Wahn tatsächlich: Descartes handelt da gerade von der altehrwürdigen Maxime, dass man besser die eigenen Wünsche ändert, als an der Ordnung der Welt zu rütteln - dann würden wir uns nämlich ebenso wenig in Unmögliches verbohren, wie wir auf die Idee verfallen, uns einen Körper aus Diamant zu wünschen oder Flügel, um wie die Vögel zu fliegen. Da träumte also nicht Descartes von unserer ultimativen Kristallisierung, sondern der Autor mit offenen Augen vom Beleg einer hübschen Verknüpfung.
Schneiders Weg führt dann weiter von den gläsernen Irren zu Rousseaus Anklagen einer verstellten, die wahren Gefühle in gesellschaftliche Maskenspiele zwingenden Welt, nimmt sich Rousseaus passionierte Leser unter den französischen Jakobinern als Terroristen der Transparenz vor, streift Benthams panoptische Kontrollarchitektur für Gefängnisse und Arbeitshäuser, geht fort zur ganz anders besetzten Glasarchitektur und ihren Spuren bei einem Sozialutopisten wie Charles Fourier und in sozialreformerischen Ideen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, nimmt die Psychoanalyse und Ausgewähltes aus dem Surrealismus mit, macht einen Schlenker nach Hollywood und landet schließlich bei Hirnforschern unserer Tage, die sich zur Prognose versteigen, dass demnächst das Fenster zur inneren Gedankenwelt eröffnet sein wird, wie es die frühe Science-Fiction - auch sie vergisst Schneider nicht ganz - noch höchst pittoresken Apparaten vorbehalten hatte.
Das alles ist wortmächtig vorgetragen, mit spürbarer Lust, die versammelten Motive und Konstellationen in ein Netz prägnanter Formulierungen zu binden. Hervortreten soll nicht zuletzt die Doppelgesichtigkeit der imaginierten Transparenzen, das noch in ihren lautersten oder auch naivsten Evokationen voller utopischer Verve lauernde Umkippen in Kontrollwahn.
Schneiders großangelegte Faszinationsgeschichte läuft natürlich auch auf die Piraten und ihre kurze Karriere zu. Sie treten auf als erste Bewegung, die den Transparenztraum zum politischen Programm erhob. Der Abschied von ihren Illusionen ist kein hämischer, mögen die Antriebe auch - Stichwort Gratiskultur - kleinlich gewesen sein. Utopisches kam ja immerhin ins Spiel und wurde in beeindruckend kurzer Zeit auf lehrreiche Weise zerschlissen. Weil die Welt eben nicht aus Glasfaserkabeln besteht, so resümiert es Schneider bündig. Das Diaphane auszumalen, mag reizvoll sein, das Opake ist beständig.
Manfred Schneider: "Transparenztraum". Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013. 342 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keine Geheimnisse, gläserne Häuser und eine durchsichtige Welt: Manfred Schneider attackiert die Utopie einer transparenten Gesellschaft.
Von Helmut Mayer
Von Transparenz ist heute oft die Rede. Wikileaks promovierte sie zum Programm der Weltverbesserung, die Piratenpartei wollte sie im politischen Entscheidungsprozess durch und durch verwirklichen. Sie wird eingefordert von der Datenwirtschaft und mittlerweile auch von Geheimdiensten; Managemet-Ratgeber empfehlen sie Führungskräften, Kommunikationsspezialisten allen Verwaltungen. So betrachtet tritt Transparenz als Versprechen auf.
Gleichzeitig ist von Transparenz aber auch dort die Rede, wo es um gesellschaftliche Verlustrechnungen geht. Dann sind anvisiert: der Terror öffentlich ausgestellter Intimität, das tendenzielle Wegfallen des Privaten im durchökonomisierten Regime der Selbstvermarktung und der Spaßgesellschaft oder auch die Aushebelung der Privatsphäre durch die immer engmaschiger werdenden staatlichen Überwachungstechniken. So betrachtet erscheint Transparenz als Drohung totaler Kontrolle.
Auf jeden Fall ist aber dem Wort kaum zu entgehen. Es kann, so formuliert es Manfred Schneider, als Star unter den Wörtern gelten. Womit für den Bochumer Neugermanisten mit erwiesener zeitdiagnostischer Ader zugleich die Frage aufgeworfen ist, wie es zu dieser Konjunktur kam. Seine Antwort lautet kurzgefasst: Die Anziehungskraft der beschworenen Transparenz zehrt von einer langen Geschichte, in der es unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder um die Herstellung von Regimen restloser Durchsichtigkeit gegangen ist. Um Regime also, die in Aussicht stellten oder als Fiktion durchspielten, dass bis dahin Verborgenes sich unmittelbar vor Augen stellen lässt - ob dieses Verborgene nun im Inneren der Menschen lag oder als Widerstand einer opaken Welt zu überwinden war.
Spuren dieser in Philosophie und Literatur gut durchgearbeiteten, auch mit einer theologischen Grundierung versehenen Motive seien es, die heute mit der technischen Realität der omnipräsenten, alle Kapazitätsgrenzen hinter sich lassenden Rechner eine letztlich fatale Verbindung eingingen. Fatal deshalb, weil damit die Illusion aufkam, dass das Versprechen von Transparenz sich tatsächlich erfüllen lasse - was freilich heute so wenig gilt wie vor dem Advent des Internet oder eben nur in der desillusionierenden Form der drohenden Kontrolle, nicht der Durchsichtigkeit gesellschaftlicher Organisation auf allen Ebenen.
Schneider stürzt sich also in einen Parcours durch die Geschichte, um Beschwörungen solcher Durchsichtigkeit oder, wie der Titel es festhält, Elemente eines Traums von der unmöglichen Transparenz vorzuführen. Und damit das als Modell untergründiger Wirkungen in Anspruch genommene Konzept des Traums nicht ganz in der Luft hängt, beginnt der Parcours tatsächlich mit Traumgesichten, jenen nämlich, die René Descartes berühmte Notate aus der Zeit seines Durchbruchs zum Programm einer neuen Wissenschaft festhalten. Weil unter ihnen auch feurige Lichtpunkte vorkommen, ist Descartes schnell zum Transparenzdenker befördert, zumal er ja auch noch Vorliebe für die Parallelisierung von Licht und Erkenntnis zeigte - selbst wenn ihn das eigentlich aus einer mächtigen einschlägigen Tradition kaum heraushebt.
Von Descartes geht es dann weiter zu frühneuzeitlichen literarischen und medizinischen Bearbeitungen der pathologischen Vorstellung, einen gläsernen Körper zu haben. Mit einer bedrohlichen oder gesuchten Transparenz für fremde Blicke hat das zwar, wie die Beispiele zeigen, kaum zu tun. Aber Schneider ist bereits in Fahrt und kann vorweisen, dass Descartes diese Wahnvorstellung immerhin einmal nennt. Und wenn Descartes an anderer Stelle sogar explizit festhalte, dass wir uns alle einen Körper aus Diamant wünschen, erweise sich die tiefe Bedeutung dieser Verknüpfung des Programms philosophischen Durchblicks mit dem melancholischen Wahn.
Folgt man diesem interessant klingenden Hinweis, schlägt also bei Descartes nach, findet man den gläsernen Wahn tatsächlich: Descartes handelt da gerade von der altehrwürdigen Maxime, dass man besser die eigenen Wünsche ändert, als an der Ordnung der Welt zu rütteln - dann würden wir uns nämlich ebenso wenig in Unmögliches verbohren, wie wir auf die Idee verfallen, uns einen Körper aus Diamant zu wünschen oder Flügel, um wie die Vögel zu fliegen. Da träumte also nicht Descartes von unserer ultimativen Kristallisierung, sondern der Autor mit offenen Augen vom Beleg einer hübschen Verknüpfung.
Schneiders Weg führt dann weiter von den gläsernen Irren zu Rousseaus Anklagen einer verstellten, die wahren Gefühle in gesellschaftliche Maskenspiele zwingenden Welt, nimmt sich Rousseaus passionierte Leser unter den französischen Jakobinern als Terroristen der Transparenz vor, streift Benthams panoptische Kontrollarchitektur für Gefängnisse und Arbeitshäuser, geht fort zur ganz anders besetzten Glasarchitektur und ihren Spuren bei einem Sozialutopisten wie Charles Fourier und in sozialreformerischen Ideen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, nimmt die Psychoanalyse und Ausgewähltes aus dem Surrealismus mit, macht einen Schlenker nach Hollywood und landet schließlich bei Hirnforschern unserer Tage, die sich zur Prognose versteigen, dass demnächst das Fenster zur inneren Gedankenwelt eröffnet sein wird, wie es die frühe Science-Fiction - auch sie vergisst Schneider nicht ganz - noch höchst pittoresken Apparaten vorbehalten hatte.
Das alles ist wortmächtig vorgetragen, mit spürbarer Lust, die versammelten Motive und Konstellationen in ein Netz prägnanter Formulierungen zu binden. Hervortreten soll nicht zuletzt die Doppelgesichtigkeit der imaginierten Transparenzen, das noch in ihren lautersten oder auch naivsten Evokationen voller utopischer Verve lauernde Umkippen in Kontrollwahn.
Schneiders großangelegte Faszinationsgeschichte läuft natürlich auch auf die Piraten und ihre kurze Karriere zu. Sie treten auf als erste Bewegung, die den Transparenztraum zum politischen Programm erhob. Der Abschied von ihren Illusionen ist kein hämischer, mögen die Antriebe auch - Stichwort Gratiskultur - kleinlich gewesen sein. Utopisches kam ja immerhin ins Spiel und wurde in beeindruckend kurzer Zeit auf lehrreiche Weise zerschlissen. Weil die Welt eben nicht aus Glasfaserkabeln besteht, so resümiert es Schneider bündig. Das Diaphane auszumalen, mag reizvoll sein, das Opake ist beständig.
Manfred Schneider: "Transparenztraum". Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013. 342 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Opake ist halt stärker, resümiert Helmut Mayer den von Traumgesichten über Descartes und Rousseau und die Psychoanalyse bis zur Hirnforschung und zur Piratenpartei reichenden Parcours des Neugermanisten Manfred Schneider. Dass Schneider bei seiner Untersuchung literarischer und medizinischer Perspektiven auf die Vorstellung von der Transparenz des Körpers mitunter Verbindungen knüpft, die sich bei genauerem Hinsehen des Rezensenten als Wünsche des Autors im Sinne seiner Idee entpuppen, kann Mayer verkraften. Zumal ihm die Lust des Autors bei seiner "wortmächtig" vermittelten Verknüpfungsarbeit ansteckend zu sein scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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