Bruce Chatwin gilt als einer der bedeutendsten Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die magische Wirkung seiner Prosa entfaltet sich auch in diesen kürzeren Texten aus seinem Nachlass. Es sind Geschichten und Reiseskizzen, Artikel und Essays. Autobiographische Perspektiven werden eröffnet, Reisen nach Timbuktu oder in die Toskana beschrieben. Der "nomadischen Alternative" als gegenläufiger Lebensform zu unserer sesshaften Zivilisation ist ein großer Essay gewidmet. Noch einmal berührt, was hier an Texten versammelt wurde, die großen Themen, um die Bruce Chatwins Leben und Schreiben kreisten. Als ein roter Faden ziehen sie sich durch sein gesamtes Werk: von "Patagonien" bis zu den "Traumpfaden".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.1997Elf Pilger sollt ihr sein
Bruce Chatwin über Fußballer und andere Zugvögel
Als vor zweihundert Jahren der junge Georg Forster von seiner großen Reise in die Südsee und zum Inselparadies Tahiti berichtete, wohin er den Kapitän James Cook hatte begleiten dürfen, da war sein deutsches Publikum gebannt von ihm. Grund genug gab es zum Staunen über Unerhörtes und Unbekanntes, besonders da niemand sonst die geringste Aussicht besaß, je selbst dorthin zu kommen. Heutzutage gilt die französische Kolonie Tahiti als Teil des vereinigten Europa, und die Hauptstadt Papeete ist mit dem internationalen Flugplatz durch eine Autobahn verbunden: Der letzte Winkel der Erde ist bekannt, und außerdem ist er erreichbar für jedermann, sei es nun in der virtuellen Realität der Mattscheibe oder der tatsächlichen, durch die Tourismusindustrie vermittelten. Voraussetzung ist nur noch, daß man den Dollar als Entfernungsmaß akzeptiert. Unter derartigen Bedingungen sollten es deshalb Reisebücher eigentlich schwer haben, wenn sie mehr als nur Baedeker sein wollen.
Wahrscheinlich jedoch sind die Bücher von Bruce Chatwin gerade deshalb zu Klassikern moderner Reiseliteratur geworden. Gewiß hatte er sich Ziele abseits der großen Tourismusrouten ausgesucht und damit einen Tribut ans wenig Bekannte geleistet. Erst zog es ihn zum Feuerland im Süden des amerikanischen Kontinents, später ging er dann feinfühlig und mit Phantasie den "Songlines", den "Träumen" und Vorstellungen der australischen Eingeborenen nach. "In Patagonien" (1977) und "Traumpfade" (1987) haben ihm eine feste Lesergemeinde verschafft; in den Regalen australischer Buchläden ist letzterer Titel bis heute verfügbar, was viel heißen will in einer Zeit, da das kommerzielle Leben der meisten Bücher eher nach Monaten als nach Jahren gemessen wird.
Die Faszination, die von Chatwins Büchern ausging und zum Teil noch immer ausgeht, betrifft freilich nicht mehr jenes Fremde, als dessen Vermittler und Deuter Forster einst aufgetreten war, sie betrifft die Person des Reisenden selbst. Nicht um Ziele ging es Chatwin, sondern vor allen Dingen um Wege, die letztlich Teil einer unendlichen Reise zu sich selbst darstellten. Reisen wurde ihm zu einer Lebensform, die er als Autor mit jenen zu teilen bereit war, die sich gleich ihm bedrängt fühlten in den "umbauten Räumen" der modernen Städte. Räume, "die meine Phantasie wirklich ansprechen", seien die "Schiffskabinen, Holzhütten, Mönchszellen" gewesen, hat er von sich bekannt. Wer so schreibt, paßt nicht in die Zehnerreihe eines Jumbo-Jets und erst recht nicht in die Business Class mit einem Fernsehschirm an jedem Sitz.
Chatwin wurde zur legendären Figur des unsteten, ein wenig melancholischen, ewig jungen Wanderers, obwohl er beim Erscheinen seines ersten Buches bereits neununddreißig war. Seine kreative Tätigkeit erstreckte sich über kaum mehr als zehn Jahre; er ist 1989, neunundvierzigjährig, nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Aus Nachlaßpapieren und Verstreutem haben Freunde mehrere Bände zusammengestellt, zuletzt ein Buch, das im englischen Original "Anatomy of Restlessness" heißt. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel "Der Traum des Ruhelosen". Der englische jedoch verrät mehr vom eigentlichen Inhalt, denn Kernstück dieses Bandes ist eine Theorie des Nomadentums, in der das Unterwegssein als der Menschheit besseres Schicksal entwickelt wird, wenngleich nicht bedingungslos und nicht ohne Sinn für die feinen Unterschiede zwischen der schöpferischen Ruhelosigkeit von Zivilisationsflüchtlingen und dem neurotischen Umgetriebensein des "Internationalen Jet-Sets".
Reisen trage "nicht nur zur Entfaltung des Geistes bei. Es formt ihn", heißt es in einem frühen Aufsatz Chatwins, und zur Begründung heißt es: "Es ist kaum verwunderlich, daß eine Generation, die sich mit der Zentralheizung vor Kälte und mit der Klimaanlage vor Hitze schützt, die in aseptischen Transportmitteln von einem Haus oder Hotel zum anderen gekarrt wird, das Bedürfnis nach geistigen oder physischen Reisen empfindet, nach Aufputschmitteln und Beruhigungspillen oder den läuternden Reisen von Sex, Musik und Tanz. Wir verbringen allzuviel Zeit in verdunkelten Zimmern." Gedanken dieser Art haben den Reiz der Neuheit nicht mehr, und die großzügige Metaphorisierung des Reisens, Wanderns, Pilgerns trägt sogar die Gefahr unfreiwilliger Parodie in sich: "Fußballer sind sich wenig bewußt, daß auch sie Pilger sind. Der Ball, den sie kicken, symbolisiert einen Zugvogel."
Chatwins Philosophie des Nomadentums ist eng auf den eigenen Leib geschneidert, so daß sie sich nur noch als biographisches Dokument lesen läßt. Die aphoristisch pointierte Beobachtung von Neuem, das sensitive Nachspüren von Reaktionen auf Außerordentliches, der kritische Blick auf innere Mechanismen in der Begegnung mit dem Fremden hingegen - das sind seine Stärken, und davon findet sich denn auch in diesem Band manch Lohnendes.
Aufschlußreich kann da scheinbar so Nebensächliches sein wie die Rezension einer Biographie über Robert Louis Stevenson, den Emigranten auf Samoa, der in Chatwins Analyse mehr von der Mittelmäßigkeit als von der Tuberkulose bedroht war und außerdem unfähig erscheint, sich als Künstler "mit den Komplikationen der Sexualität auseinanderzusetzen". Der Erzähler rauher Seefahrermännlichkeit habe sich oft in einer gewissen Mädchenhaftigkeit gefallen, "niedlich wie ein Girlie", wie er selbst dichtete, einer Peinlichkeit, zu der Chatwin meint, er hätte dergleichen wohl nicht geschrieben, "wäre er ein Homosexueller gewesen oder hätte er gewußt, was es bedeutet, einer zu sein".
Von einer anderen Seite seines Selbst spricht Chatwin in dem langen Essay über drei extravagante, sozusagen interkulturelle Luxusexistenzen auf Capri, den Arzt Axel Munthe, den italienischen Schriftsteller Curzio Malaparte, der eigentlich Kurt Suckert hieß, und den Baron Adelswärd-Fersen, einen Franzosen schwedischer Herkunft. Exempel sind sie ihm allesamt für das Leben auf der "dünnen Linie zwischen den Extremen von Askese und Sinnlichkeit", zivilisationsferner Natur und erlesener Kunst. Denn auch er selbst, der ebenso ruhe- wie anspruchslose Wanderer, war im Grunde seines Herzens Ästhet, den es zwischen Phantasie und Wirklichkeit umhertrieb.
Jahrelang hat Chatwin im Auktionshaus von Sotheby's in London gearbeitet, ein Kenner und Liebhaber von Raritäten, deren eigentlicher Wert für ihn in ihrer nutzlosen Schönheit bestand. Wirklich lebensnotwendig seien ihm stets nur ein paar schöne Dinge gewesen, denen er eine eigene "Moral" zubilligt, zum Beispiel ein Blatt "aus einem Koran des achten Jahrhunderts" oder "ein indisches Bild von einem Bananenbaum". Mit diesem indischen Bild nun und einer Frage läßt uns das Buch allein. War es wirklich ein Bananenbaum, niedrig, amorph und mit populären Früchten behangen, oder vielmehr einer dieser prächtigen, gewaltig ausladenden Banyan-Bäume, in deren Geäst die Götter wohnen und unter denen sich ein ganzes indisches Dorf versammeln kann? Schuld der Übersetzerin, die Chatwin in ein gewandtes Deutsch übertragen hat, ist es nicht - der Bananenbaum steht schon im englischen Original. Aber stand er auch wirklich in Chatwins Manuskript? Wir werden es wohl nie mehr erfahren. Man wandelt nicht ungestraft unter Banyan-Bäumen. GERHARD SCHULZ
Bruce Chatwin: "Der Traum des Ruhelosen." Hrsg. von Jan Borm und Matthew Graves. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Kamp. Carl Hanser Verlag, München 1996. 253 S., geb., 36,- DM.
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Bruce Chatwin über Fußballer und andere Zugvögel
Als vor zweihundert Jahren der junge Georg Forster von seiner großen Reise in die Südsee und zum Inselparadies Tahiti berichtete, wohin er den Kapitän James Cook hatte begleiten dürfen, da war sein deutsches Publikum gebannt von ihm. Grund genug gab es zum Staunen über Unerhörtes und Unbekanntes, besonders da niemand sonst die geringste Aussicht besaß, je selbst dorthin zu kommen. Heutzutage gilt die französische Kolonie Tahiti als Teil des vereinigten Europa, und die Hauptstadt Papeete ist mit dem internationalen Flugplatz durch eine Autobahn verbunden: Der letzte Winkel der Erde ist bekannt, und außerdem ist er erreichbar für jedermann, sei es nun in der virtuellen Realität der Mattscheibe oder der tatsächlichen, durch die Tourismusindustrie vermittelten. Voraussetzung ist nur noch, daß man den Dollar als Entfernungsmaß akzeptiert. Unter derartigen Bedingungen sollten es deshalb Reisebücher eigentlich schwer haben, wenn sie mehr als nur Baedeker sein wollen.
Wahrscheinlich jedoch sind die Bücher von Bruce Chatwin gerade deshalb zu Klassikern moderner Reiseliteratur geworden. Gewiß hatte er sich Ziele abseits der großen Tourismusrouten ausgesucht und damit einen Tribut ans wenig Bekannte geleistet. Erst zog es ihn zum Feuerland im Süden des amerikanischen Kontinents, später ging er dann feinfühlig und mit Phantasie den "Songlines", den "Träumen" und Vorstellungen der australischen Eingeborenen nach. "In Patagonien" (1977) und "Traumpfade" (1987) haben ihm eine feste Lesergemeinde verschafft; in den Regalen australischer Buchläden ist letzterer Titel bis heute verfügbar, was viel heißen will in einer Zeit, da das kommerzielle Leben der meisten Bücher eher nach Monaten als nach Jahren gemessen wird.
Die Faszination, die von Chatwins Büchern ausging und zum Teil noch immer ausgeht, betrifft freilich nicht mehr jenes Fremde, als dessen Vermittler und Deuter Forster einst aufgetreten war, sie betrifft die Person des Reisenden selbst. Nicht um Ziele ging es Chatwin, sondern vor allen Dingen um Wege, die letztlich Teil einer unendlichen Reise zu sich selbst darstellten. Reisen wurde ihm zu einer Lebensform, die er als Autor mit jenen zu teilen bereit war, die sich gleich ihm bedrängt fühlten in den "umbauten Räumen" der modernen Städte. Räume, "die meine Phantasie wirklich ansprechen", seien die "Schiffskabinen, Holzhütten, Mönchszellen" gewesen, hat er von sich bekannt. Wer so schreibt, paßt nicht in die Zehnerreihe eines Jumbo-Jets und erst recht nicht in die Business Class mit einem Fernsehschirm an jedem Sitz.
Chatwin wurde zur legendären Figur des unsteten, ein wenig melancholischen, ewig jungen Wanderers, obwohl er beim Erscheinen seines ersten Buches bereits neununddreißig war. Seine kreative Tätigkeit erstreckte sich über kaum mehr als zehn Jahre; er ist 1989, neunundvierzigjährig, nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Aus Nachlaßpapieren und Verstreutem haben Freunde mehrere Bände zusammengestellt, zuletzt ein Buch, das im englischen Original "Anatomy of Restlessness" heißt. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel "Der Traum des Ruhelosen". Der englische jedoch verrät mehr vom eigentlichen Inhalt, denn Kernstück dieses Bandes ist eine Theorie des Nomadentums, in der das Unterwegssein als der Menschheit besseres Schicksal entwickelt wird, wenngleich nicht bedingungslos und nicht ohne Sinn für die feinen Unterschiede zwischen der schöpferischen Ruhelosigkeit von Zivilisationsflüchtlingen und dem neurotischen Umgetriebensein des "Internationalen Jet-Sets".
Reisen trage "nicht nur zur Entfaltung des Geistes bei. Es formt ihn", heißt es in einem frühen Aufsatz Chatwins, und zur Begründung heißt es: "Es ist kaum verwunderlich, daß eine Generation, die sich mit der Zentralheizung vor Kälte und mit der Klimaanlage vor Hitze schützt, die in aseptischen Transportmitteln von einem Haus oder Hotel zum anderen gekarrt wird, das Bedürfnis nach geistigen oder physischen Reisen empfindet, nach Aufputschmitteln und Beruhigungspillen oder den läuternden Reisen von Sex, Musik und Tanz. Wir verbringen allzuviel Zeit in verdunkelten Zimmern." Gedanken dieser Art haben den Reiz der Neuheit nicht mehr, und die großzügige Metaphorisierung des Reisens, Wanderns, Pilgerns trägt sogar die Gefahr unfreiwilliger Parodie in sich: "Fußballer sind sich wenig bewußt, daß auch sie Pilger sind. Der Ball, den sie kicken, symbolisiert einen Zugvogel."
Chatwins Philosophie des Nomadentums ist eng auf den eigenen Leib geschneidert, so daß sie sich nur noch als biographisches Dokument lesen läßt. Die aphoristisch pointierte Beobachtung von Neuem, das sensitive Nachspüren von Reaktionen auf Außerordentliches, der kritische Blick auf innere Mechanismen in der Begegnung mit dem Fremden hingegen - das sind seine Stärken, und davon findet sich denn auch in diesem Band manch Lohnendes.
Aufschlußreich kann da scheinbar so Nebensächliches sein wie die Rezension einer Biographie über Robert Louis Stevenson, den Emigranten auf Samoa, der in Chatwins Analyse mehr von der Mittelmäßigkeit als von der Tuberkulose bedroht war und außerdem unfähig erscheint, sich als Künstler "mit den Komplikationen der Sexualität auseinanderzusetzen". Der Erzähler rauher Seefahrermännlichkeit habe sich oft in einer gewissen Mädchenhaftigkeit gefallen, "niedlich wie ein Girlie", wie er selbst dichtete, einer Peinlichkeit, zu der Chatwin meint, er hätte dergleichen wohl nicht geschrieben, "wäre er ein Homosexueller gewesen oder hätte er gewußt, was es bedeutet, einer zu sein".
Von einer anderen Seite seines Selbst spricht Chatwin in dem langen Essay über drei extravagante, sozusagen interkulturelle Luxusexistenzen auf Capri, den Arzt Axel Munthe, den italienischen Schriftsteller Curzio Malaparte, der eigentlich Kurt Suckert hieß, und den Baron Adelswärd-Fersen, einen Franzosen schwedischer Herkunft. Exempel sind sie ihm allesamt für das Leben auf der "dünnen Linie zwischen den Extremen von Askese und Sinnlichkeit", zivilisationsferner Natur und erlesener Kunst. Denn auch er selbst, der ebenso ruhe- wie anspruchslose Wanderer, war im Grunde seines Herzens Ästhet, den es zwischen Phantasie und Wirklichkeit umhertrieb.
Jahrelang hat Chatwin im Auktionshaus von Sotheby's in London gearbeitet, ein Kenner und Liebhaber von Raritäten, deren eigentlicher Wert für ihn in ihrer nutzlosen Schönheit bestand. Wirklich lebensnotwendig seien ihm stets nur ein paar schöne Dinge gewesen, denen er eine eigene "Moral" zubilligt, zum Beispiel ein Blatt "aus einem Koran des achten Jahrhunderts" oder "ein indisches Bild von einem Bananenbaum". Mit diesem indischen Bild nun und einer Frage läßt uns das Buch allein. War es wirklich ein Bananenbaum, niedrig, amorph und mit populären Früchten behangen, oder vielmehr einer dieser prächtigen, gewaltig ausladenden Banyan-Bäume, in deren Geäst die Götter wohnen und unter denen sich ein ganzes indisches Dorf versammeln kann? Schuld der Übersetzerin, die Chatwin in ein gewandtes Deutsch übertragen hat, ist es nicht - der Bananenbaum steht schon im englischen Original. Aber stand er auch wirklich in Chatwins Manuskript? Wir werden es wohl nie mehr erfahren. Man wandelt nicht ungestraft unter Banyan-Bäumen. GERHARD SCHULZ
Bruce Chatwin: "Der Traum des Ruhelosen." Hrsg. von Jan Borm und Matthew Graves. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Kamp. Carl Hanser Verlag, München 1996. 253 S., geb., 36,- DM.
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