Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 4,30 €
  • Broschiertes Buch

"Ach, die fünfziger Jahre! Das waren bestimmt die schönsten und die lustigsten Jahre überhaupt. Ja, daß man jetzt endlich wieder leben konnte, ohne Krieg, das war wie eine Neugeburt. So beschrieb Anfang der achtziger Jahre eine 60jährige Angestellte ihre Erinnerung an diese Zeit. Das Ende des Elends und der Neubeginn prägten die Erfahrungen dieser Generation: das erste Paar Nylonstrümpfe, der erste Fernseher, der erste Elektromixer, das erste Auto. Doch die materiellen Glücksversprechen konnten sich auch in den Jahrzehnten des ungebrochenenen Wirtschaftswunders nur sehr kurz behaupten. Bald…mehr

Produktbeschreibung
"Ach, die fünfziger Jahre! Das waren bestimmt die schönsten und die lustigsten Jahre überhaupt. Ja, daß man jetzt endlich wieder leben konnte, ohne Krieg, das war wie eine Neugeburt. So beschrieb Anfang der achtziger Jahre eine 60jährige Angestellte ihre Erinnerung an diese Zeit. Das Ende des Elends und der Neubeginn prägten die Erfahrungen dieser Generation: das erste Paar Nylonstrümpfe, der erste Fernseher, der erste Elektromixer, das erste Auto. Doch die materiellen Glücksversprechen konnten sich auch in den Jahrzehnten des ungebrochenenen Wirtschaftswunders nur sehr kurz behaupten. Bald mußten die Konsumenten feststellen, daß der Traum vom guten Leben auch in der schönen, bunten Warenwelt unerfüllbar blieb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.1998

Das Füllhorn auf Knopfdruck
Arne Andersen weiß, wie das Wirtschaftswunder wurde und weste

Die Politikgeschichte bewegt sich in Wanderstiefeln, die Kulturgeschichte geht auf leisen Sohlen. Nichtsdestoweniger legt auch sie große Entfernungen zurück. Das Buch des Bremer Technik- und Wirtschaftshistorikers Arne Andersen, das sich mit Alltag und Konsum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, hilft dem Gedächtnis nach. Ist es wirklich erst vier, fünf Jahrzehnte her, daß die Hausfrau ihre Wäsche auf dem Waschbrett rubbelte und täglich frische Lebensmittel beim Kaufmann um die Ecke einkaufte, weil Kühltruhen noch nicht eingeführt waren? Der Slogan der Christdemokraten in den fünfziger Jahren "Keine Experimente" traf jedenfalls auf die Alltagskultur nicht zu. Der Alltag war nicht nur Experimenten ausgeliefert. Er unterlag einer Revolution.

Was immer sich in der Normalität der Industriegesellschaften verändert hat, es gehorchte und gehorcht drei Tendenzen: der Abstraktion, der Globalisierung und einer neuen Organisation von Zeit. Wer die Kohlen noch im Keller lagerte und die Flammen im Ofenfenster beobachtete, hatte stets die Verminderung der Vorräte und die Höhe des Verbrauchs vor Augen. Kohle ist konkret, Elektrizität abstrakt. Seitdem die Energie aus der Steckdose fließt, gerät das Verhältnis von Aufwand, Ertrag und Folgen aus den Augen. Sogar der Mann, der jeden Monat ins Haus kam, um die Stromuhr abzulesen, ist durch den Dauerauftrag ersetzt.

Wo Anschauung und Kontrolle fehlen, wird auch die Diskussion über energiebewußtes Verhalten schwierig. Die Schornsteine des eigenen Hauses und der Nachbarn rußen nicht mehr, und die Hochschlote der Kraftwerke, die ihre Emissionen übers Land schleudern - Patentlösung der sechziger Jahre -, stehen weit weg. Umwandlungsverluste auf dem Weg von der Kohle zum Strom sind ohnehin für keinen Normalverbraucher nachvollziehbar. Wie sollte er da für alternative Energieformen zu gewinnen sein? Der Benzinverbrauch, meint Andersen, mache noch eine halbe Ausnahme. Das Einfüllen an der Zapfsäule hat wenigstens einen Rest manueller Betätigung bewahrt.

Das Füllhorn der Gaben, die noch in den ersten Nachkriegsjahren unvorstellbar waren, funktioniert auf Knopfdruck. Gezahlt wird bargeldlos, vom Girokonto oder, seit 1967, per Scheckkarte. Dagegen hatte die Lohntüte noch die sinnliche Erfahrung des Geldes ermöglicht und der Gang zum Vermieter jede Veränderung der Mieten deutlich gemacht. Abstraktionen überall. Andersen berichtet von einem Malwettbewerb für Kinder, die kürzlich einen Bauernhof schildern sollten: Ein Drittel hatte die Kühe lila dargestellt, wie sie es von der Milka-Werbung kannten. Als 1950 noch fast ein Viertel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft arbeitete, wußten auch Kinder, daß Rindvieh in Schleswig-Holstein schwarzbunt oder im Allgäu braunweiß war.

Der Ort des Einkaufs wird gleichgültig, wenn der Versandhandel seine Angebote per Katalog unterbreitet. Der vom Versandhaus Otto aus dem Jahr 1950 war 14 Seiten dünn, hatte eingeklebte Fotos und lag in dreihundert Exemplaren vor. Fünf Jahre später wurde er schon in 85000 Exemplaren aufgelegt. Dabei ist Teleshopping für den Autor noch gar kein Thema.

Globalisierung ist kein neuer Trend, aber einer, der sich verstärkt hat. Jede Veränderung auf dem Weltmarkt hat ihre Rückwirkung im Land. Als die 1960 gegründete Opec das Preismonopol für Erdöl brach, nahm die Zahl der Zentralheizungen in deutschen Häusern sprunghaft zu. Ferne ist nahe gerückt, aber Nähe und Ferne machen kaum einen Unterschied mehr. Ob Malediven oder Karibik, das Clubghetto als Reiseziel beläßt dem Gastland nur jenen Hauch von Exotik, der nicht durch Ortskenntnis irritiert. Globalisierung und Abstraktion treten nicht als Gegensätze auf, sondern spielen zusammen.

Auch die Zeit ist neu organisiert. Zum einen steht arbeitsfreie Zeit in größeren Quantitäten als zuvor zur Verfügung: Verkürzung der Arbeitszeiten, Erleichterung der Hausarbeit durch die "stummen Diener", den Gerätepark von durchschnittlich dreißig elektrisch betriebenen Apparaten je Haushalt. Es gibt fast so viele freie Tage im Jahr wie Arbeitstage. Zum anderen ist die Zeit egalisiert. Ihre Unumkehrbarkeit hat sie verloren. Konsumgüter werden durch Verfall und Alterung nicht in Frage gestellt, sondern sind auf Verschleiß und Ersatz in immer neuen Zyklen geradezu angelegt. Vor vierzig Jahren dagegen waren Möbelkäufe noch Anschaffungen fürs ganze Leben. Jahreszeiten werden kaum noch fühlbar. In den Wohlstandsgesellschaften der westlichen Welt sind die Wohnungen das ganze Jahr über gleichmäßig durchwärmt und erleuchtet.

Wo ist nur die ersparte Zeit geblieben? Noch fischen wir nicht am Morgen, jagen nicht am Nachmittag und philosophieren nicht am Abend, wie Karl Marx es so verlockend ausmalte. Natürlich, den Frauen wurde die Berufstätigkeit ermöglicht oder erleichtert, nachdem die Zentralheizung von der Mühsal des Feuermachens befreite, die Waschmaschine von der Fron der Waschtage, die Kältetechnik vom Zwang eigener Vorratshaltung. Aber möglicherweise geht ein guter Teil der geretteten Zeit ja auch auf das Studium der Anleitungsbücher für ebenjene komplizierten Gerätschaften, die Zeit sparen sollen.

Andersens Buch besteht aus kompakten Informationen, einer Fülle von Details, Umfrageergebnissen, vielen Zahlen, einigen Statistiken und schlüssig gewählten zeitgenössischen Fotos, Werbegrafiken, Karikaturen. Eine Gruppe junger Bremer Typographie-Studenten, zuständig für die Buchgestaltung, läßt sie über die Seiten des zweifarbig gedruckten Bandes wirbeln, dem vermuteten Konsumverhalten heutiger Leser zuarbeitend. Der Autor selbst vertraut der Aussagekraft seiner Fakten und breitet sie in erfreulicher Nüchternheit aus. Unterhaltsam ist das Material. Der Autor muß es nicht sein.

Entgegen dem Versprechen des Untertitels (" . . . vom Wirtschaftswunder bis heute") ist der Akzent auf die fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik gesetzt. Die Digitalisierung der Haushalte lag noch in der Ferne. Ohnehin ist das Feld weit. Über Speise- und Einkaufsgewohnheiten, die Maschinisierung der Wohnungen, die Priorität von Einfamilienhaus und Auto, die erwachende Reiselust der Deutschen (erst Ruhpolding, dann Rimini) und ihren sorgloseren Umgang mit Ratenzahlung und Kreditaufnahme erfährt man viel, wenig oder nichts über Vereinsleben, Sport, Gesundheitspflege oder gar über die anspruchsvolleren Kulturtechniken. Aber vielleicht gehört die Enthaltsamkeit gegenüber Büchern, Bildern, Filmen, Musik und Theater zum realistisch gezeichneten Bild der deutschen Durchschnittskultur.

Sein Material verdankt Arne Andersen fleißiger Lektüre der Quellen wie der Fachliteratur, aber auch gesammelten Erfahrungsberichten von Zeitgenossen. Eigene Erinnerungen des 1951 geborenen Autors sind gleichfalls in den Text eingeflossen. Man nimmt Jung-Arne wahr, wie er auf einem Klappbett im Kinderzimmer nächtigt, das sonntägliche Opernkonzert aus dem elterlichen Radio haßt, Erdbeereis aus dem neuen Kühlschrank liebt, doch die grau gewordenen, von Mutter eingemachten Früchte verabscheut. Die anilinroten "Heißgetränke", die in den Verkaufsbuden vor der Währungsreform ausgeschenkt wurden, sind ihm dank der Gnade seiner späten Geburt erspart geblieben. Sollte übrigens wirklich schon der Zweijährige vom Vater eine elektrische Eisenbahn geschenkt bekommen haben? Es ist eine der wenigen Angaben des akribisch gearbeiteten Buches, die Zweifel wecken.

Der Nüchternheit seiner Darstellung zum Trotz hebt auch Andersen am Ende zu einem Credo an. Er hält keine Fastenpredigt, sondern drückt die Hoffnung auf eine freiwillig gewählte und ökologisch vernünftige Lebensweise aus, die sich Askese als Luxus leistet: Mut zur Langsamkeit statt des hektischen Aktionismus, Muße statt Effizienz, Sanduhr statt Handy. Es ist, als solle, mit Thorstein Veblen zu sprechen, der "demonstrative Konsum" zugunsten des "demonstrativen Müßiggangs" einer neuen "leisure class" zurückgenommen werden. WOLFGANG PEHNT

Arne Andersen: "Der Traum vom guten Leben - Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute". Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 1997. 272 S., 300 Abb., geb., 58,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr