Der Kampf um Bücher und Bewusstsein.
Christian Adam sondiert ein hart umstrittenes Terrain: den Buchmarkt der Nachkriegszeit in Ost und West.
Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, die Deutschen vernichtend geschlagen. In den Köpfen der Bevölkerung herrscht Orientierungslosigkeit - und die Besatz er in Ost und West erkennen schnell: mit Zeitungen und Büchern kann man das Bewusstsein der Bevölkerung wirksam beeinflussen. Schnell werden die Bibliotheken von der alten Naziliteratur befreit, Drucklizenzen vergeben und Strukturen neu aufgebaut. Man will den radikalen Neuanfang, träumt von der Stunde Null. Doch mit dem Kalten Krieg werden Bücher und Autoren zunehmend zum Zankapfel der Systeme; Verlage werden von Parteien und Geheimdiensten finanziert, Bücher zu ideologischen Waffen.
Christian Adam untersucht die Mentalitätslage der Deutschen anhand der Bestseller in Ost und West und hat dabei eine Unmenge spannender Geschichten zu erzählen; u. a. von dem DDR-Verleger Günter Hofé, der wegen Spionageverdachts auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse verhaftet wurde; von Lothar Blanvalet, der keinen »Aufstieg aus dem Nichts« hingelegt, sondern noch 1944 humorige Werke für Wehrmachtssoldaten verlegt hatte; von Harry Thürk, dem »Konsalik des Ostens«, der angesichts deutscher Kriegsverbrechen klare Worte fand - ganz im Gegensatz zu seinem Westkollegen Hans Hellmut Kirst, der in millionenfach gelesenen Romanen die Geschehnisse verharmloste; von verlagsfördernden Geheimdiensten, Buchverbotslisten und gar von Bücherverbrennungen.
Der Traum vom Jahre Null? Christian Adam lässt ihn platzen! Seine genau recherchierten Geschichten um Autoren, Bücher, Bestseller und Leser in der Nachkriegszeit führen uns die deutsch-deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihren Umgang mit Erblast und Visionen so klar vor Augen wie selten zuvor.
Christian Adam sondiert ein hart umstrittenes Terrain: den Buchmarkt der Nachkriegszeit in Ost und West.
Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, die Deutschen vernichtend geschlagen. In den Köpfen der Bevölkerung herrscht Orientierungslosigkeit - und die Besatz er in Ost und West erkennen schnell: mit Zeitungen und Büchern kann man das Bewusstsein der Bevölkerung wirksam beeinflussen. Schnell werden die Bibliotheken von der alten Naziliteratur befreit, Drucklizenzen vergeben und Strukturen neu aufgebaut. Man will den radikalen Neuanfang, träumt von der Stunde Null. Doch mit dem Kalten Krieg werden Bücher und Autoren zunehmend zum Zankapfel der Systeme; Verlage werden von Parteien und Geheimdiensten finanziert, Bücher zu ideologischen Waffen.
Christian Adam untersucht die Mentalitätslage der Deutschen anhand der Bestseller in Ost und West und hat dabei eine Unmenge spannender Geschichten zu erzählen; u. a. von dem DDR-Verleger Günter Hofé, der wegen Spionageverdachts auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse verhaftet wurde; von Lothar Blanvalet, der keinen »Aufstieg aus dem Nichts« hingelegt, sondern noch 1944 humorige Werke für Wehrmachtssoldaten verlegt hatte; von Harry Thürk, dem »Konsalik des Ostens«, der angesichts deutscher Kriegsverbrechen klare Worte fand - ganz im Gegensatz zu seinem Westkollegen Hans Hellmut Kirst, der in millionenfach gelesenen Romanen die Geschehnisse verharmloste; von verlagsfördernden Geheimdiensten, Buchverbotslisten und gar von Bücherverbrennungen.
Der Traum vom Jahre Null? Christian Adam lässt ihn platzen! Seine genau recherchierten Geschichten um Autoren, Bücher, Bestseller und Leser in der Nachkriegszeit führen uns die deutsch-deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihren Umgang mit Erblast und Visionen so klar vor Augen wie selten zuvor.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Reinhard Wittmann zieht das Fazit aus Christian Adams sorgfältiger Recherchearbeit: Die vermeintlich ideologiefreie und unterhaltsame Massenliteratur in Deutschland hat vom Kaiserreich bis zur Adenauerzeit Kontinuität. Adams Buch findet der Rezensent angenehm zu lesen, auch ohne straffe Struktur. Es bietet Wittmann Details zu Autoren und Büchern und Skandalen der Nachkriegszeit und arbeitet mit einer Menge Senkundärliteratur und Archivmaterial. Wenn Adam die Neuordnung der Bücherwelt nach '45 untersucht, schließt er damit laut Rezensent an sein Buch "Lesen unter Hitler" an. Neugierig wird Wittmann, wenn der Autor einstige Bucherfolge von Annemarie Selinko, Hans Hellmut Kirst und Margaret Mitchell systemtisch ordnet. Und auch wenn die Titelauswahl subjektiv bleiben muss und Adams Kriterien im Dunkeln bleiben, anerkennt Wittmann doch die angemessenen Befassung mit der Entwicklung in der Sowjetzone und der DDR oder Adams Suche nach antisemitischen Spuren in der Nachkriegsliteratur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2016Wer einmal Unterhaltung frisst
Lesend vom Täter- zum Opfervolk: Christian Adam untersucht die Neuordnung der Bücherwelt nach 1945 in West- und Ostdeutschland. Und erklärt, was die damaligen Bestseller über das Publikum verraten.
Für sein Buch "Lesen unter Hitler" (2010) hat Christian Adam verdientes Lob erhalten. Nun legt er einen Folgeband zur Nachkriegszeit vor. Während sein Zugriff auf die Bücherwelt der NS-Diktatur teilweise Neuland betrat, sind die Jahre nach 1945 weitaus häufiger beackert worden, die Legenden von Neubeginn und Kahlschlag längst abgetan, die Lebens- und Schreibenslügen ("Persilscheine") der einstigen Mitläufer entlarvt. Eine systematische Durchmusterung der einstigen Bucherfolge allerdings kann mit Neugier rechnen.
An der Spitze von Adams Bestsellerliste steht mit 1,8 Millionen Exemplaren der historische Schmöker "Desirée" (1951) der Emigrantin Annemarie Selinko, die drei Bände von Hans Hellmut Kirsts Wehrmachtswälzer "08/15" folgen mit zusammen gut 1,6 Millionen, Cerams Sachbuch "Götter, Gräber und Gelehrte" mit 1,3 Millionen und Margaret Mitchells "Vom Winde verweht" mit einer Nachkriegsauflage von 1,2 Millionen. Ebenso gut verkaufte sich Ferdinand Sauerbruchs höchst phantasievolle Autobiographie "Mein Leben".
Nach Hugo Hartung ("Ich denke oft an Piroschka") und Josef Martin Bauer ("Soweit die Füße tragen") mit einer Million rangieren der erste DDR-Bestseller ("Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz) und das Tagebuch der Anne Frank mit 800 000 Exemplaren, auf jeweils 600 000 brachten es Wolfgang Borchert, Theodor Plivier, K. A. Schenzinger und Anna Seghers, es folgten mit 500 000 Werner Keller, Christine Brückner, Dieter Noll und Günter Grass. Konsaliks "Arzt von Stalingrad" brachte es auf 415 000.
Adams Interesse an diesen Erfolgstiteln konzentriert sich ausschließlich auf die schon vielfach gestellte Frage nach Brüchen und Kontinuitäten in der Literatur der Nachkriegszeit: Wie wurde das gemeinsame schlimme Erbe in Ost und West übernommen oder ausgeschlagen? Wie wurde über Schuld und Verantwortung an Krieg und Holocaust geschrieben oder geschwiegen? Da es damals noch keine Ranking-Listen gab, trifft Adam eine subjektive Auswahl. Leider schweigt das Verzeichnis der siebenunddreißig "ausgewählten" Titel über seine Kriterien.
Die puren Auflagenziffern sind es offenbar nicht, auch wird zwischen Taschen- und gebundenen Büchern nicht unterschieden. Die Hunderttausende der ersten rororo-Zeitungsausgaben bleiben unberücksichtigt. Warum aber taucht etwa die von Kurt Tucholskys Witwe 1952 bei Rowohlt herausgegebene Anthologie "Zwischen Gestern und Morgen" nicht auf, die es bis April 1959 auf 275 000 Exemplare brachte, eine zweite vom Dezember 1954 bis September 1958 auf weitere 175 000 Exemplare? Wie repräsentativ die Auswahl ist, erschließt sich nicht. Bekanntlich verlief die Neuordnung der Bücherwelt durch die vier Besatzungsmächte in ihren Zonen sehr unterschiedlich entsprechend den ideologischen Vorgaben. Überall unterlagen sämtliche Publikationen scharfen Kontrollen und Lizenzierungen, zugleich wurde das NS-Schrifttum systematisch ausgesondert. Sehr bald trennten sich die Wege in Ost und West gänzlich. Der Westen trat das personelle, der Osten das strukturelle Erbe des Dritten Reiches an. Erfreulicherweise gibt Adam der sehr abweichenden Entwicklung in Sowjetzone und DDR angemessenen Raum.
Die Bestsellerparade führt größtenteils halb vergessene Titel auf, viel Strandgut heutiger Bücherflohmärkte (etwa die "Angélique"-Romane der Anne Golon ab 1956), nichts davon spielt, ausgenommen Anne Franks Tagebuch, heute noch eine Rolle. Die meisten Werke finden wenig Gnade vor Adams Augen, außer jene der Anna Seghers ("Das siebte Kreuz") oder Theodor Plivier ("Stalingrad"). Hans Hellmut Kirsts Bestseller "08/15" (der Autor war wie die meisten anderen Parteimitglied gewesen) oder Josef Martin Bauers "Soweit die Füße tragen" werden gewertet als "Kriegsbücher, in denen der Krieg nicht vorkam"; Heinz G. Konsaliks "Arzt von Stalingrad" erscheint als "völlig ungebrochene Fortsetzung der nationalsozialistischen Kriegsprosa".
Bei allen West-Erfolgen mutierten die Deutschen "in fast einem Waschgang von Tätern zu Opfern". Auch in Hugo Hartungs "Ich denke oft an Piroschka" (1954) und den Buchclub-Romanen von Christine Brückner erkennt Adam nur selbstmitleidige Mitläuferprosa. Harry Thürk dagegen ("Konsalik des Ostens") unterscheide sich positiv vom "unterhaltungsliterarischen Mainstream des Westens", weil er die deutsche Schuld thematisiere. Ähnlich problematisch findet Adam die Sachbucherfolge der frühen Bundesrepublik. Des Rowohlt-Lektors Ceram/Marek Pharaonenschmöker, der den Verlag für Jahre sanierte, nenne Hitler nur an einer einzigen Stelle, der Band biete dem Leser "eine ungeheure Entlastungsfunktion (...) immer unter dem Motto: wo Weltgeschichte geschrieben wird, müssen bisweilen Opfer gebracht werden".
Die "Mutter aller deutschen Tatsachenromane", Karl A. Schenzingers "Anilin", das Erfolgsbuch schlechthin des Dritten Reichs, brachte sein bräunlicher Verleger Andermann ungeniert, nur leicht purgiert nach 1945 wieder auf den Markt. Antisemitische Spuren findet Adam auch in des Econ-Verlegers Erwin Barth von Wehrenalp erstem Bestseller von 1955, Werner Kellers "Und die Bibel hat doch recht" (auch dieser Autor war Parteigenosse). Und Adam befindet: "Die tiefe Wunde, zum Volk der Täter zu gehören, war zumindest bei dieser Lektüre geheilt und verschwunden."
In einem weiteren Kapitel geht es um belastete Literaturhistoriker und -vermittler wie das Ehepaar Frenzel mit seinen "Daten deutscher Dichtung", allerdings fehlt der Paradefall Schneider-Schwerte. Dazu kommen interessante Schlaglichter zum kalten, aber heftigen Literaturkrieg der Systeme auf dem Buchmarkt oder zu Landserheften in Ost und West. Nicht die Rede ist dagegen vom Kampf gegen "unzüchtige" Bestseller wie Nabokovs "Lolita" (1959) oder "Fanny Hill".
Sehr wenig erfährt der Leser über den Buchmarkt der frühen Nachkriegsjahre. Der wirklich erste Bestsellerautor nach Kriegsende, mit dem sein Verleger Desch bis zur Währungsreform zehn Prozent seines Gesamtumsatzes erzielte, wird nur flüchtig erwähnt: Ernst Wiechert. Er hat, wenn auch von der jungen Gruppe 47 weidlich verspottet, die von Adam vermisste Rechenschaft versucht. Kaum Interesse zeigt Adam am unerhörten Bücherhunger, der sich von den letzten Kriegsjahren bis zur Währungsreform stetig steigerte. Unbeachtet bleibt auch ein legendärer Verleger wie Peter Suhrkamp, bleibt der schnelle Wandel des Kriegsgewinnlers Bertelsmann zum Widerstandsverlag, bleibt das exemplarische Scheitern des Newcomers Willi Weismann mit dem Versuch, aus dem Profit eines zahmen Herrenmagazins die Bücher von Broch, Canetti und Jahnn zu finanzieren.
Diesem hatte Weismann im Januar 1948 geschrieben: "Hier herrscht Hausse im Geschäftemachen und Baisse in allem, was man sich unter Menschlichkeit und Ordnung vorstellen könnte (...) es ist heute völlig gleichgültig, in welcher Höhe man ein Buch auflegt; man kann jeden Mist in vielen zig-tausend Exemplaren absetzen, falls es dem Verleger gelingt, irgendwo auf dem Schwarzen Markt die entsprechenden Papiermengen aufzutreiben." Doch die Währungsreform in den Westzonen war eine radikale Zäsur: aus dem risikolosen Absatzmarkt wurde ein heikler Käufermarkt, eine "Reinigungskrise" fegte bis 1955 rund ein Drittel der Verlage wieder hinweg. Adam rügt "die Fülle der Vermeidungsstrategien in der jungen Bundesrepublik" und lobt, dass Texte aus dem Osten zur deutschen Schuld, zu Kriegsverbrechen und Holocaust klarere Worte finden. Die selbstmitleidige Stilisierung der Deutschen als Opfer sei zentrales Anliegen westlicher Bestseller gewesen. Der pauschale Vorwurf systematischer Weißwäscherei, hartnäckigen Beschweigens und Leugnens bringt allerdings wenig Erkenntnisgewinn; im Osten wurde alle eingeräumte Schuld nur dem Westen zugeschoben, man selbst glänzte als antifaschistische Tugendherberge. Dass Bestseller im Unterschied zur Hochliteratur Stereotype nicht hinterfragen, sondern ausmalen, hat gleichfalls geringen Neuigkeitswert. Hier hätte es gegolten, tiefer zu schürfen, zu differenzieren. Die bekannte, im Verlauf des Buches mehrfach konstatierte Geschmackskonstanz des Lesepublikums vom Beginn bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde weder durch die "Nazifizierung" noch die Entnazifizierung grundlegend erschüttert.
Adam zitiert dazu eine eindrucksvolle Umfrage unter Mitgliedern des Bertelsmann-Leserings anno 1957 nach ihren beliebtesten Autoren. Nur einer der einundzwanzig genannten Namen war erst nach 1945 dazugekommen: Giovanni Guareschi ("Don Camillo und Peppone"). Nur ein einziger der deutschen Favoriten gehörte nicht zum Kanon der Unterhaltungslektüre vor 1945: Thomas Mann. Das galt ähnlich für die DDR noch bis zur Mitte der sechziger Jahre, dann erst setzten sich die sozialistischen Lektürepräferenzen allmählich durch. Eine Statistik Adams legt nahe, dass unter den hundert meistverkauften Büchern (ohne Übersetzungen) in (Gesamt-)Nachkriegsdeutschland von 1945 bis 1961 achtzig Prozent Longseller sowie Werke der inneren Emigration und NS-belasteter Autoren waren, nur zwanzig Prozent "Gegenstimmen" aus dem Exil und neue Literatur (davon ein erheblicher Teil im Osten).
Adams Buch ist angenehm zu lesen, bringt ohne straffe Struktur eine Vielzahl interessanter Details zu Autoren und Büchern, Intrigen und Skandalen des Nachkriegs-Literaturbetriebs. Er kann auf eine beträchtliche Menge an Sekundärliteratur zurückgreifen, hat sich aber auch in Archiven umgetan. Manches wäre für eine zweite Auflage zu korrigieren. Bestätigt wird erneut der Befund, dass der breite Strom der vermeintlich ideologiefreien, unterhaltsamen Massenliteratur vom Kaiserreich bis zur Adenauerzeit träge und unbeirrt weiterfloss - im Osten wie im Westen.
REINHARD WITTMANN
Christian Adam: "Der Traum vom Jahre Null". Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945.
Galiani Verlag, Berlin 2016. 441 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lesend vom Täter- zum Opfervolk: Christian Adam untersucht die Neuordnung der Bücherwelt nach 1945 in West- und Ostdeutschland. Und erklärt, was die damaligen Bestseller über das Publikum verraten.
Für sein Buch "Lesen unter Hitler" (2010) hat Christian Adam verdientes Lob erhalten. Nun legt er einen Folgeband zur Nachkriegszeit vor. Während sein Zugriff auf die Bücherwelt der NS-Diktatur teilweise Neuland betrat, sind die Jahre nach 1945 weitaus häufiger beackert worden, die Legenden von Neubeginn und Kahlschlag längst abgetan, die Lebens- und Schreibenslügen ("Persilscheine") der einstigen Mitläufer entlarvt. Eine systematische Durchmusterung der einstigen Bucherfolge allerdings kann mit Neugier rechnen.
An der Spitze von Adams Bestsellerliste steht mit 1,8 Millionen Exemplaren der historische Schmöker "Desirée" (1951) der Emigrantin Annemarie Selinko, die drei Bände von Hans Hellmut Kirsts Wehrmachtswälzer "08/15" folgen mit zusammen gut 1,6 Millionen, Cerams Sachbuch "Götter, Gräber und Gelehrte" mit 1,3 Millionen und Margaret Mitchells "Vom Winde verweht" mit einer Nachkriegsauflage von 1,2 Millionen. Ebenso gut verkaufte sich Ferdinand Sauerbruchs höchst phantasievolle Autobiographie "Mein Leben".
Nach Hugo Hartung ("Ich denke oft an Piroschka") und Josef Martin Bauer ("Soweit die Füße tragen") mit einer Million rangieren der erste DDR-Bestseller ("Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz) und das Tagebuch der Anne Frank mit 800 000 Exemplaren, auf jeweils 600 000 brachten es Wolfgang Borchert, Theodor Plivier, K. A. Schenzinger und Anna Seghers, es folgten mit 500 000 Werner Keller, Christine Brückner, Dieter Noll und Günter Grass. Konsaliks "Arzt von Stalingrad" brachte es auf 415 000.
Adams Interesse an diesen Erfolgstiteln konzentriert sich ausschließlich auf die schon vielfach gestellte Frage nach Brüchen und Kontinuitäten in der Literatur der Nachkriegszeit: Wie wurde das gemeinsame schlimme Erbe in Ost und West übernommen oder ausgeschlagen? Wie wurde über Schuld und Verantwortung an Krieg und Holocaust geschrieben oder geschwiegen? Da es damals noch keine Ranking-Listen gab, trifft Adam eine subjektive Auswahl. Leider schweigt das Verzeichnis der siebenunddreißig "ausgewählten" Titel über seine Kriterien.
Die puren Auflagenziffern sind es offenbar nicht, auch wird zwischen Taschen- und gebundenen Büchern nicht unterschieden. Die Hunderttausende der ersten rororo-Zeitungsausgaben bleiben unberücksichtigt. Warum aber taucht etwa die von Kurt Tucholskys Witwe 1952 bei Rowohlt herausgegebene Anthologie "Zwischen Gestern und Morgen" nicht auf, die es bis April 1959 auf 275 000 Exemplare brachte, eine zweite vom Dezember 1954 bis September 1958 auf weitere 175 000 Exemplare? Wie repräsentativ die Auswahl ist, erschließt sich nicht. Bekanntlich verlief die Neuordnung der Bücherwelt durch die vier Besatzungsmächte in ihren Zonen sehr unterschiedlich entsprechend den ideologischen Vorgaben. Überall unterlagen sämtliche Publikationen scharfen Kontrollen und Lizenzierungen, zugleich wurde das NS-Schrifttum systematisch ausgesondert. Sehr bald trennten sich die Wege in Ost und West gänzlich. Der Westen trat das personelle, der Osten das strukturelle Erbe des Dritten Reiches an. Erfreulicherweise gibt Adam der sehr abweichenden Entwicklung in Sowjetzone und DDR angemessenen Raum.
Die Bestsellerparade führt größtenteils halb vergessene Titel auf, viel Strandgut heutiger Bücherflohmärkte (etwa die "Angélique"-Romane der Anne Golon ab 1956), nichts davon spielt, ausgenommen Anne Franks Tagebuch, heute noch eine Rolle. Die meisten Werke finden wenig Gnade vor Adams Augen, außer jene der Anna Seghers ("Das siebte Kreuz") oder Theodor Plivier ("Stalingrad"). Hans Hellmut Kirsts Bestseller "08/15" (der Autor war wie die meisten anderen Parteimitglied gewesen) oder Josef Martin Bauers "Soweit die Füße tragen" werden gewertet als "Kriegsbücher, in denen der Krieg nicht vorkam"; Heinz G. Konsaliks "Arzt von Stalingrad" erscheint als "völlig ungebrochene Fortsetzung der nationalsozialistischen Kriegsprosa".
Bei allen West-Erfolgen mutierten die Deutschen "in fast einem Waschgang von Tätern zu Opfern". Auch in Hugo Hartungs "Ich denke oft an Piroschka" (1954) und den Buchclub-Romanen von Christine Brückner erkennt Adam nur selbstmitleidige Mitläuferprosa. Harry Thürk dagegen ("Konsalik des Ostens") unterscheide sich positiv vom "unterhaltungsliterarischen Mainstream des Westens", weil er die deutsche Schuld thematisiere. Ähnlich problematisch findet Adam die Sachbucherfolge der frühen Bundesrepublik. Des Rowohlt-Lektors Ceram/Marek Pharaonenschmöker, der den Verlag für Jahre sanierte, nenne Hitler nur an einer einzigen Stelle, der Band biete dem Leser "eine ungeheure Entlastungsfunktion (...) immer unter dem Motto: wo Weltgeschichte geschrieben wird, müssen bisweilen Opfer gebracht werden".
Die "Mutter aller deutschen Tatsachenromane", Karl A. Schenzingers "Anilin", das Erfolgsbuch schlechthin des Dritten Reichs, brachte sein bräunlicher Verleger Andermann ungeniert, nur leicht purgiert nach 1945 wieder auf den Markt. Antisemitische Spuren findet Adam auch in des Econ-Verlegers Erwin Barth von Wehrenalp erstem Bestseller von 1955, Werner Kellers "Und die Bibel hat doch recht" (auch dieser Autor war Parteigenosse). Und Adam befindet: "Die tiefe Wunde, zum Volk der Täter zu gehören, war zumindest bei dieser Lektüre geheilt und verschwunden."
In einem weiteren Kapitel geht es um belastete Literaturhistoriker und -vermittler wie das Ehepaar Frenzel mit seinen "Daten deutscher Dichtung", allerdings fehlt der Paradefall Schneider-Schwerte. Dazu kommen interessante Schlaglichter zum kalten, aber heftigen Literaturkrieg der Systeme auf dem Buchmarkt oder zu Landserheften in Ost und West. Nicht die Rede ist dagegen vom Kampf gegen "unzüchtige" Bestseller wie Nabokovs "Lolita" (1959) oder "Fanny Hill".
Sehr wenig erfährt der Leser über den Buchmarkt der frühen Nachkriegsjahre. Der wirklich erste Bestsellerautor nach Kriegsende, mit dem sein Verleger Desch bis zur Währungsreform zehn Prozent seines Gesamtumsatzes erzielte, wird nur flüchtig erwähnt: Ernst Wiechert. Er hat, wenn auch von der jungen Gruppe 47 weidlich verspottet, die von Adam vermisste Rechenschaft versucht. Kaum Interesse zeigt Adam am unerhörten Bücherhunger, der sich von den letzten Kriegsjahren bis zur Währungsreform stetig steigerte. Unbeachtet bleibt auch ein legendärer Verleger wie Peter Suhrkamp, bleibt der schnelle Wandel des Kriegsgewinnlers Bertelsmann zum Widerstandsverlag, bleibt das exemplarische Scheitern des Newcomers Willi Weismann mit dem Versuch, aus dem Profit eines zahmen Herrenmagazins die Bücher von Broch, Canetti und Jahnn zu finanzieren.
Diesem hatte Weismann im Januar 1948 geschrieben: "Hier herrscht Hausse im Geschäftemachen und Baisse in allem, was man sich unter Menschlichkeit und Ordnung vorstellen könnte (...) es ist heute völlig gleichgültig, in welcher Höhe man ein Buch auflegt; man kann jeden Mist in vielen zig-tausend Exemplaren absetzen, falls es dem Verleger gelingt, irgendwo auf dem Schwarzen Markt die entsprechenden Papiermengen aufzutreiben." Doch die Währungsreform in den Westzonen war eine radikale Zäsur: aus dem risikolosen Absatzmarkt wurde ein heikler Käufermarkt, eine "Reinigungskrise" fegte bis 1955 rund ein Drittel der Verlage wieder hinweg. Adam rügt "die Fülle der Vermeidungsstrategien in der jungen Bundesrepublik" und lobt, dass Texte aus dem Osten zur deutschen Schuld, zu Kriegsverbrechen und Holocaust klarere Worte finden. Die selbstmitleidige Stilisierung der Deutschen als Opfer sei zentrales Anliegen westlicher Bestseller gewesen. Der pauschale Vorwurf systematischer Weißwäscherei, hartnäckigen Beschweigens und Leugnens bringt allerdings wenig Erkenntnisgewinn; im Osten wurde alle eingeräumte Schuld nur dem Westen zugeschoben, man selbst glänzte als antifaschistische Tugendherberge. Dass Bestseller im Unterschied zur Hochliteratur Stereotype nicht hinterfragen, sondern ausmalen, hat gleichfalls geringen Neuigkeitswert. Hier hätte es gegolten, tiefer zu schürfen, zu differenzieren. Die bekannte, im Verlauf des Buches mehrfach konstatierte Geschmackskonstanz des Lesepublikums vom Beginn bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde weder durch die "Nazifizierung" noch die Entnazifizierung grundlegend erschüttert.
Adam zitiert dazu eine eindrucksvolle Umfrage unter Mitgliedern des Bertelsmann-Leserings anno 1957 nach ihren beliebtesten Autoren. Nur einer der einundzwanzig genannten Namen war erst nach 1945 dazugekommen: Giovanni Guareschi ("Don Camillo und Peppone"). Nur ein einziger der deutschen Favoriten gehörte nicht zum Kanon der Unterhaltungslektüre vor 1945: Thomas Mann. Das galt ähnlich für die DDR noch bis zur Mitte der sechziger Jahre, dann erst setzten sich die sozialistischen Lektürepräferenzen allmählich durch. Eine Statistik Adams legt nahe, dass unter den hundert meistverkauften Büchern (ohne Übersetzungen) in (Gesamt-)Nachkriegsdeutschland von 1945 bis 1961 achtzig Prozent Longseller sowie Werke der inneren Emigration und NS-belasteter Autoren waren, nur zwanzig Prozent "Gegenstimmen" aus dem Exil und neue Literatur (davon ein erheblicher Teil im Osten).
Adams Buch ist angenehm zu lesen, bringt ohne straffe Struktur eine Vielzahl interessanter Details zu Autoren und Büchern, Intrigen und Skandalen des Nachkriegs-Literaturbetriebs. Er kann auf eine beträchtliche Menge an Sekundärliteratur zurückgreifen, hat sich aber auch in Archiven umgetan. Manches wäre für eine zweite Auflage zu korrigieren. Bestätigt wird erneut der Befund, dass der breite Strom der vermeintlich ideologiefreien, unterhaltsamen Massenliteratur vom Kaiserreich bis zur Adenauerzeit träge und unbeirrt weiterfloss - im Osten wie im Westen.
REINHARD WITTMANN
Christian Adam: "Der Traum vom Jahre Null". Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945.
Galiani Verlag, Berlin 2016. 441 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2016Geschichten, die das
Publikum wollte
Wie die Deutschen vom Jahre Null träumten
1945 gabelte sich die deutsche Literaturgeschichte. Eine kulturpolitische Grenze durchzog von nun an das Land. Im Westen kassierten vor allem jene Autoren Literaturpreise, die geblieben waren, allen voran die ‚Inneren Emigranten‘ sowie einige eifrig engagierte Nazis. In Ostdeutschland hingegen ging beinahe die Hälfte aller Auszeichnungen an Autoren, die während des Dritten Reichs emigrieren mussten oder deren Schriften verboten worden waren. Ideologisch divergierten die Teilstaaten offenbar. Genau in dieser Differenz lag jedoch zugleich die große Gemeinsamkeit nicht nur zwischen Ost und West, sondern vor allem auch zwischen der Zeit vor und nach 1945: Alle Akteure betrieben Politik mit Mitteln der Literatur.
Noch deutlicher werden die Parallelen und Kontinuitäten, wenn man den Blick statt auf den literarischen Höhenkamm auf die Bücher lenkt, die tatsächlich gelesen wurden, und zwar massenhaft: So waren von sechzehn Werken, die nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre im Westen eine Millionenauflage erlebten, zehn bereits vor 1945 auf dem Markt, sechs von ihnen sogar schon vor 1933. Karl Aloys Schenzinger, der 1932 auch den „Hitlerjungen Quex“ verbrochen hatte, brachte es mit seinem Rohstoffroman „Anilin“ (1937) bis 1945 auf eine Auflage von einer Million; bis 1951 kamen weitere 600 000 Exemplare dazu – nun allerdings ohne vorangestellte Empfehlung des „Reichsministers Dr. Frick“. Der Germanist Christian Adam hat solchen Phänomenen seine neue Studie gewidmet: eine Parade von Büchern, Autoren und Verlegern mit Hintergrundreportagen zu den politischen Verstrickungen.
Die Alliierten sahen in Büchern das entscheidende Medium zur langfristig wirksamen Umerziehung der Deutschen, und eben diese Auffassung teilten sie mit dem Regime, das sie besiegt hatten. Goebbels dokumentierte gerade durch Zensur, Verbot und Verfolgung, welche Macht er der Literatur im Guten wie im Schlechten zuerkannte. 1948 bestätigte eine statistische Untersuchung die Einschätzung des Propagandaministers, freilich unter umgekehrten Vorzeichen: „Ehemalige Nazis waren mit Sicherheit als Buchleser viel unersättlicher als Nicht-Nazis, und diese Erkenntnis unterstreicht, wie wünschenswert es ist, diese Leute mit Literatur, die für Zwecke der Umerziehung geeignet scheint, zu erreichen“. Tatsächlich war der Bücherhunger während des zweiten Weltkriegs und kurz danach geradezu unstillbar. In beiden Phasen kannten Verleger eine Sorge nicht: Absatzschwäche. Was gedruckt wurde, wurde auch verkauft.
Das triviale Reiz-Reaktion-Schema der kulturpolitischen Erziehungsmaßnahmen führte zunächst zu „Aussonderungen“ sowie zu sehr unterschiedlichen Kontrollbestimmungen in den jeweiligen Besatzungszonen. Wurde etwa die Vorzensur unter amerikanischer Aufsicht bereits im Oktober 1945 aufgehoben, so liberalisierten die britische und französische Verwaltung erst zwei bzw. drei Jahre später ihre Vorschriften. In der Sowjetzone blieb die Vorzensur bis 1989 erhalten. Auch die Genehmigungsverfahren für Verlagsgründungen waren unterschiedlich. Am Ende der DDR existierten 78 staatlich lizensierte Verlage, im Westen versuchten allein bis zur Währungsreform 850 Verlage ihr Glück.
Die zugrundliegenden Deutungsmuster spiegelten sich in der Einschätzung von Bestsellern: Im Westen galten sie als Produkt des freien Markts, im Osten hingegen fürchtete man den kapitalistischen Trend zum Kunstgewerblichen und plante die massenhafte Verbreitung wertvoller Literatur. Hier, so Johannes R. Becher, befand man sich in guter „Literaturgesellschaft“, dort in den Fängen eines „Literaturbetriebs“. Zwischen den Systemen gab es jedoch viel Austausch, und so nutzte man die „Grenzgänger“ aus der Literaturbranche gern auch für geheimdienstliche Zwecke.
Natürlich wurde geschwiegen und verschwiegen – im Westen mehr, im Osten weniger. Die braune Gedanken- und Vokabelbrühe suppte in die Nachkriegszeit, nicht zuletzt in den beliebten Heimatromanen. „Das Publikum der Nachkriegszeit“, so Adams wiederholtes Fazit, „bekam die Geschichten, die es wollte, verdiente und verstand – nicht zuletzt, weil es die Sprache, in der sie erzählt wurden“, bereits gut kannte“. Es wurde fleißig retuschiert, etwa in Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ all jene Passagen, die „ehemalige deutsche Soldaten kränken würden“, wie der „Spiegel“ 1954 bemerkte. Selbst in dieser bereinigten Fassung blieb der Roman noch eine Ausnahme, weil er das Schweigen über die Konzentrationslager brach. Subtile Andeutungen kamen in diesem Umfeld nicht an: Als sich die Literaturkritik mit Annemarie Selinkos „Desirée“, dem „erfolgreichsten Nachkriegsbuch überhaupt“, befasste, überlas sie einfach, dass die ehemals im Widerstand aktive Autorin darin zwischen den Zeilen die Menschenrechte feierte und verteidigte.
Angesichts von Geschichtsklitterungen und unheilvollen Kontinuitäten gab es jedoch auch erstaunlich Erfolge: Theodor Pliviers „Stalingrad“-Roman (600 000 Exemplare) dokumentierte auf moderne Weise das Grauen des Kriegs; Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (260 000 Exemplare) breitete die Verbrechen der Vernichtungslager aus; Hans Scholz‘ „Am grünen Strand der Spree“ (250 000 Exemplare) quasselte in eigentümlicher Unbekümmertheit über Kriegsverbrechen; und das „Tagebuch der Anne Frank“ kam bis 1962 auf eine Auflage von 800 000 Exemplaren. Freilich verblassen diese Zahlen gegenüber dem Umsatz eines ehemaligen „Ostfront-Berichterstatters“: Heinz G. Konsalik erzielte bis zu seinem Lebensende eine Weltauflage von 83 Millionen Büchern. Er verdankte diesen unglaublichen Erfolg auch Werken wie „Der Arzt von Stalingrad“ (415.000 Exemplare), das „als Fortsetzung der Landser-Sprache mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur“ arbeitete und von den Deutschen als Opfer erzählte – wie sie in ihre missliche Lage geraten waren, spielte dabei keine Rolle.
Christian Adam addiert solche Miniaturen zu einer Literaturgeschichte der Nachkriegszeit von unten. Besonders erhellend wird es immer dann, wenn er übergreifende Ordnungen beschreibt. Dass etwa „der Westen das personelle Erbe des ‚Dritten Reichs‘ annahm, der Osten das strukturelle“, ist doch eine recht steile These. Auch die Kontinuitäten über 1933 hinaus bleiben bemerkenswert. So erwiesen sich bereits nach der Machtergreifung der Nazis die Lesegewohnheiten als relativ stabil. Diskreditierte und verfolgte Bücher wurden weiter gelesen. Was einmal in den privaten Buchregalen lagerte, blieb dort ungeachtet der politischen Wende stehen. Etwa ein Viertel der meistverkauften Bücher der Nachkriegszeit waren Longseller. Und in den Bildungsnormen überdauerten ohnehin die antimodernistischen Frontstellungen des späten 19. Jahrhunderts. Für eine „Mentalitätsgeschichte“ des Lesens sind solche Befunde zur „longue durée“, zum robusten Eigensinn von Literatur und ihrer Vertriebsformen ebenso wichtig wie die Bereitschaft der Akteure, ihre Fähnlein in den Wind zu hängen.
STEFFEN MARTUS
Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2016. 448 Seiten, 28 Euro.
Die in der Sowjetzone
eingeführte Vorzensur blieb
noch bis 1989 erhalten
Heinz G. Konsalik erzielte
eine Weltauflage
von 83 Millionen Büchern
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Publikum wollte
Wie die Deutschen vom Jahre Null träumten
1945 gabelte sich die deutsche Literaturgeschichte. Eine kulturpolitische Grenze durchzog von nun an das Land. Im Westen kassierten vor allem jene Autoren Literaturpreise, die geblieben waren, allen voran die ‚Inneren Emigranten‘ sowie einige eifrig engagierte Nazis. In Ostdeutschland hingegen ging beinahe die Hälfte aller Auszeichnungen an Autoren, die während des Dritten Reichs emigrieren mussten oder deren Schriften verboten worden waren. Ideologisch divergierten die Teilstaaten offenbar. Genau in dieser Differenz lag jedoch zugleich die große Gemeinsamkeit nicht nur zwischen Ost und West, sondern vor allem auch zwischen der Zeit vor und nach 1945: Alle Akteure betrieben Politik mit Mitteln der Literatur.
Noch deutlicher werden die Parallelen und Kontinuitäten, wenn man den Blick statt auf den literarischen Höhenkamm auf die Bücher lenkt, die tatsächlich gelesen wurden, und zwar massenhaft: So waren von sechzehn Werken, die nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre im Westen eine Millionenauflage erlebten, zehn bereits vor 1945 auf dem Markt, sechs von ihnen sogar schon vor 1933. Karl Aloys Schenzinger, der 1932 auch den „Hitlerjungen Quex“ verbrochen hatte, brachte es mit seinem Rohstoffroman „Anilin“ (1937) bis 1945 auf eine Auflage von einer Million; bis 1951 kamen weitere 600 000 Exemplare dazu – nun allerdings ohne vorangestellte Empfehlung des „Reichsministers Dr. Frick“. Der Germanist Christian Adam hat solchen Phänomenen seine neue Studie gewidmet: eine Parade von Büchern, Autoren und Verlegern mit Hintergrundreportagen zu den politischen Verstrickungen.
Die Alliierten sahen in Büchern das entscheidende Medium zur langfristig wirksamen Umerziehung der Deutschen, und eben diese Auffassung teilten sie mit dem Regime, das sie besiegt hatten. Goebbels dokumentierte gerade durch Zensur, Verbot und Verfolgung, welche Macht er der Literatur im Guten wie im Schlechten zuerkannte. 1948 bestätigte eine statistische Untersuchung die Einschätzung des Propagandaministers, freilich unter umgekehrten Vorzeichen: „Ehemalige Nazis waren mit Sicherheit als Buchleser viel unersättlicher als Nicht-Nazis, und diese Erkenntnis unterstreicht, wie wünschenswert es ist, diese Leute mit Literatur, die für Zwecke der Umerziehung geeignet scheint, zu erreichen“. Tatsächlich war der Bücherhunger während des zweiten Weltkriegs und kurz danach geradezu unstillbar. In beiden Phasen kannten Verleger eine Sorge nicht: Absatzschwäche. Was gedruckt wurde, wurde auch verkauft.
Das triviale Reiz-Reaktion-Schema der kulturpolitischen Erziehungsmaßnahmen führte zunächst zu „Aussonderungen“ sowie zu sehr unterschiedlichen Kontrollbestimmungen in den jeweiligen Besatzungszonen. Wurde etwa die Vorzensur unter amerikanischer Aufsicht bereits im Oktober 1945 aufgehoben, so liberalisierten die britische und französische Verwaltung erst zwei bzw. drei Jahre später ihre Vorschriften. In der Sowjetzone blieb die Vorzensur bis 1989 erhalten. Auch die Genehmigungsverfahren für Verlagsgründungen waren unterschiedlich. Am Ende der DDR existierten 78 staatlich lizensierte Verlage, im Westen versuchten allein bis zur Währungsreform 850 Verlage ihr Glück.
Die zugrundliegenden Deutungsmuster spiegelten sich in der Einschätzung von Bestsellern: Im Westen galten sie als Produkt des freien Markts, im Osten hingegen fürchtete man den kapitalistischen Trend zum Kunstgewerblichen und plante die massenhafte Verbreitung wertvoller Literatur. Hier, so Johannes R. Becher, befand man sich in guter „Literaturgesellschaft“, dort in den Fängen eines „Literaturbetriebs“. Zwischen den Systemen gab es jedoch viel Austausch, und so nutzte man die „Grenzgänger“ aus der Literaturbranche gern auch für geheimdienstliche Zwecke.
Natürlich wurde geschwiegen und verschwiegen – im Westen mehr, im Osten weniger. Die braune Gedanken- und Vokabelbrühe suppte in die Nachkriegszeit, nicht zuletzt in den beliebten Heimatromanen. „Das Publikum der Nachkriegszeit“, so Adams wiederholtes Fazit, „bekam die Geschichten, die es wollte, verdiente und verstand – nicht zuletzt, weil es die Sprache, in der sie erzählt wurden“, bereits gut kannte“. Es wurde fleißig retuschiert, etwa in Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ all jene Passagen, die „ehemalige deutsche Soldaten kränken würden“, wie der „Spiegel“ 1954 bemerkte. Selbst in dieser bereinigten Fassung blieb der Roman noch eine Ausnahme, weil er das Schweigen über die Konzentrationslager brach. Subtile Andeutungen kamen in diesem Umfeld nicht an: Als sich die Literaturkritik mit Annemarie Selinkos „Desirée“, dem „erfolgreichsten Nachkriegsbuch überhaupt“, befasste, überlas sie einfach, dass die ehemals im Widerstand aktive Autorin darin zwischen den Zeilen die Menschenrechte feierte und verteidigte.
Angesichts von Geschichtsklitterungen und unheilvollen Kontinuitäten gab es jedoch auch erstaunlich Erfolge: Theodor Pliviers „Stalingrad“-Roman (600 000 Exemplare) dokumentierte auf moderne Weise das Grauen des Kriegs; Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (260 000 Exemplare) breitete die Verbrechen der Vernichtungslager aus; Hans Scholz‘ „Am grünen Strand der Spree“ (250 000 Exemplare) quasselte in eigentümlicher Unbekümmertheit über Kriegsverbrechen; und das „Tagebuch der Anne Frank“ kam bis 1962 auf eine Auflage von 800 000 Exemplaren. Freilich verblassen diese Zahlen gegenüber dem Umsatz eines ehemaligen „Ostfront-Berichterstatters“: Heinz G. Konsalik erzielte bis zu seinem Lebensende eine Weltauflage von 83 Millionen Büchern. Er verdankte diesen unglaublichen Erfolg auch Werken wie „Der Arzt von Stalingrad“ (415.000 Exemplare), das „als Fortsetzung der Landser-Sprache mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur“ arbeitete und von den Deutschen als Opfer erzählte – wie sie in ihre missliche Lage geraten waren, spielte dabei keine Rolle.
Christian Adam addiert solche Miniaturen zu einer Literaturgeschichte der Nachkriegszeit von unten. Besonders erhellend wird es immer dann, wenn er übergreifende Ordnungen beschreibt. Dass etwa „der Westen das personelle Erbe des ‚Dritten Reichs‘ annahm, der Osten das strukturelle“, ist doch eine recht steile These. Auch die Kontinuitäten über 1933 hinaus bleiben bemerkenswert. So erwiesen sich bereits nach der Machtergreifung der Nazis die Lesegewohnheiten als relativ stabil. Diskreditierte und verfolgte Bücher wurden weiter gelesen. Was einmal in den privaten Buchregalen lagerte, blieb dort ungeachtet der politischen Wende stehen. Etwa ein Viertel der meistverkauften Bücher der Nachkriegszeit waren Longseller. Und in den Bildungsnormen überdauerten ohnehin die antimodernistischen Frontstellungen des späten 19. Jahrhunderts. Für eine „Mentalitätsgeschichte“ des Lesens sind solche Befunde zur „longue durée“, zum robusten Eigensinn von Literatur und ihrer Vertriebsformen ebenso wichtig wie die Bereitschaft der Akteure, ihre Fähnlein in den Wind zu hängen.
STEFFEN MARTUS
Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2016. 448 Seiten, 28 Euro.
Die in der Sowjetzone
eingeführte Vorzensur blieb
noch bis 1989 erhalten
Heinz G. Konsalik erzielte
eine Weltauflage
von 83 Millionen Büchern
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Eine deprimierende Lektüre ist Adams Buch angesichts seiner niederschmetternden Ergebnisse keineswegs - vielmehr eine notwendige, spannend geschriebene Korrektur unserer Träume von einem neuen Deutschland. taz