Dass Reinhard Kleist in der Lage ist, schwierigste historische Themen in einer Graphic Novel umzusetzen, hat er mit "Der Boxer" bewiesen. Jetzt nimmt er ein aktuelles Thema anhand einer wahren Geschichte auf:Die Sprinterin Samia Yusuf Omar vertrat Somalia bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. In ihrer Heimat wurde sie jedoch von islamistischen Extremisten bedroht, die ablehnen, dass Frauen Sport treiben. In der Hoffnung, an der Olympiade in London teilnehmen zu können, versuchte sie die Flucht nach Europa. Samia Yusuf Omar ertrank 2012 im Alter von 21 Jahren vor der Küste Maltas im Mittelmeer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2014Leben, das nur als Fiktion zu greifen ist
Ein Roman von Giuseppe Catozzella und ein Comic von Reinhard Kleist erzählen dieselbe Geschichte zweimal anders: Das Schicksal der Samia Yusuf Omar.
Der Tag des Wettkampfs war für mich der wichtigste des Jahres. Freitags war Feiertag, und es galt Waffenruhe, man konnte also unbesorgt draußen sein und durch die Straßen der Stadt laufen." Das Mädchen, das da spricht, ist im August 1999 acht Jahre alt. Wir befinden uns in der somalischen Metropole Mogadischu. Samia Yusuf Omar ist eine begeisterte Läuferin, doch in ihrer Heimatstadt schießen Milizen aufeinander, und die islamisch-fundamentalistische unter ihnen, Al-Shabaab, duldet keine Frauen in kurzen Hosen und Trikots auf der Straße. Eine angehende Leichtathletin riskiert, angepöbelt, verschleppt, vielleicht sogar erschossen zu werden.
Alles an dieser Schilderung, die den Beginn der Handlung von Giuseppe Catozzellas Buch "Sag nicht, dass du Angst hast" wiedergibt, stimmt - bis auf das Eingangszitat. Samia Yusuf Omar kann nicht mehr sprechen, und sie konnte dem italienischen Journalisten Catozzella auch ihre Eindrücke vom August 1999 nicht mehr erzählen, denn bevor er auch nur ihren Namen kannte, war sie tot: am 2. April 2012 beim Versuch, illegal von Libyen nach Italien zu gelangen, ertrunken. Samia war gerade einmal 21 Jahre alt. Vier Monate später war die Tote berühmt, denn ihr Schicksal wurde erst während der Olympischen Spiele von London öffentlich. Dorthin hatte sie fahren wollen, um noch einmal ihre Heimat als olympische Läuferin zu vertreten. Bei ihrem ersten Start, in Peking, vier Jahre zuvor, war sie im Vorlauf des Zweihundertmeterlaufs der Frauen abgeschlagen ausgeschieden, doch die bloße Teilnahme einer dürren Siebzehnjährigen, einer von nur zwei Sportlern aus Somalia bei diesen Spielen, rührte die chinesischen Zuschauer im Stadion: Sie feierten die Letzte im Vorlauf wie eine Siegerin. Das war am 19. August 2008.
Fast auf den Tag genau sechs Jahre später erscheint heute bei Knaus die deutsche Übersetzung von Catozzellas Buch, nur wenige Monate nach dem italienischen Original. Während Catozzella daran schrieb, saß ein Deutscher an der gleichen Geschichte: Reinhard Kleist zeichnete einen Fortsetzungscomic über Samia, "Der Traum von Olympia", der seit Juli im Feuilleton dieser Zeitung abgedruckt wird. Catozzella und er wussten nichts voneinander, aber sie haben dieselben Auskunftgeber befragt: vor allem Samias fünf Jahre ältere Schwester Hodan, der es 2007 gelungen war, sich nach Europa durchzuschlagen, und die heute in Helsinki lebt. Dank ihrer Unterstützung konnten beide Autoren die E-Mails und Facebook-Einträge von Samia einsehen, die immer dann Auskunft über den Werdegang der jungen Sportlerin gaben, wenn sie irgendwo Zugang zu einem Computer bekam. Es gibt auch überlebende Flüchtlinge der Überfahrt, auf der Samia ertrank, die erzählten, was vorher geschehen war. Und doch erzählen weder Kleist noch Catozzella einfach nach, was geschehen ist. Beide sind über diese Geschichte selbst zu Flüchtigen geworden: zu Flüchtigen in die Fiktion.
Es ist bemerkenswert: Obwohl so viele Quellen zu Samias Leben zur Verfügung stehen, wurde es bislang nicht zum Stoff für Dokumentationen. Bereits 2013 hatte die spanische Choreographin Carla Gulmaraes daraus ein Tantztheaterstück gemacht: "Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde", auch in Deutschland aufgeführt. Man könnte meinen, dieses Schicksal sperrte sich gegen jede Dokumentation, es wäre nur in fiktionalisierter Fassung erträglich. Das Gegenteil ist der Fall.
Dadurch, dass Catozzella und Kleist nicht nur über Samia erzählen, sondern sie selbst sprechen lassen - im Roman als Ich-Erzählerin, im Comic dagegen durch Facebook-Einträge, die aber nicht den tatsächlich von ihr hinterlassenen Nachrichten entsprechen - und konsequent nur das in Text und Bild setzen, was sie auch selbst gesehen haben könnte, sind ihr Erfolgs- wie Leidensweg erst richtig packend. Catozzella gelingt es zwar nicht, seiner Protagonistin, die im Laufe des Romans immerhin vom achtjährigen Kind zur einundzwanzigjährigen Frau wird, jeweils altersgemäße Stimmen zu geben, aber seine Absicht liegt auch nicht in einem realistischen Erzählen. Samia tritt vielmehr als Träumerin vor uns, die vom unvermeidlichen Erfolg in Sport und Leben überzeugt ist. Dadurch entsteht die Fallhöhe bei der Schilderung ihres Todes, den Samia selbst im Buch als eine Apotheose auffasst.
Reinhard Kleist wiederum zeigt Samia als Realistin, die an ihrer Lage in Somalia verzweifelt und deshalb zunächst in die Leichtathletik und dann aus dem Land flieht. Schon, dass seine Protagonistin Facebook nutzt, von dem in Catozzellas Buch nie die Rede ist, dient der Charakterisierung einer jungen Frau, die uns im Comic nähersteht als im Roman, weil sie westliche Werte anstrebt. Dafür schweigt Kleist über die tiefe persönliche, ja beinahe archaische Bindung Samias an ihren Vater, die wiederum für Catozzella ein zentrales Element ist (vom Vater stammt auch der Satz, der dem Roman den Titel gibt). Selbst den Tod des Vaters erzählen die beiden Geschichten anders: Im Roman wird er erschossen, im Comic fällt er einem Bombenanschlag zum Opfer. Beide Fiktionen aber lassen nicht den Selbstbetrug zu, man bewegte sich im Reich der Phantasie. Mit ästhetischen Mitteln wollen sie aufrütteln, und dass beide Autoren sonst durchaus dokumentarisch arbeiten - Catozzella als Journalist ohnehin, Kleist auf dem Feld der Comicreportage -, belegt nur, dass die Anverwandlung dieses Stoffs für sie eine ungewöhnlich persönlich wurde.
Und auch die Menschen in Mogadischu nicht, wo morgen anlässlich des World Humanitarian Day am Flughafen ein bis zur letzten Minute geheim gehaltener "Mogadischu Mini-Marathon" ausgetragen wird. Veranstalter ist das Hilfswerk UNHCR, und im Mittelpunkt des Ereignisses wird die Geschichte von Samia Yusuf Omar stehen, inklusive einer posthumen Ehrung der Läuferin. Teilnehmen wird daran auch Giuseppe Catozzella, dessen Roman an die Teilnehmer verschenkt wird, und Samias Schwester Hodan, die eine Ehrenmedaille in Empfang nehmen wird. In Mogadischu wird wieder gelaufen. So hat Samia doch gesiegt.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman von Giuseppe Catozzella und ein Comic von Reinhard Kleist erzählen dieselbe Geschichte zweimal anders: Das Schicksal der Samia Yusuf Omar.
Der Tag des Wettkampfs war für mich der wichtigste des Jahres. Freitags war Feiertag, und es galt Waffenruhe, man konnte also unbesorgt draußen sein und durch die Straßen der Stadt laufen." Das Mädchen, das da spricht, ist im August 1999 acht Jahre alt. Wir befinden uns in der somalischen Metropole Mogadischu. Samia Yusuf Omar ist eine begeisterte Läuferin, doch in ihrer Heimatstadt schießen Milizen aufeinander, und die islamisch-fundamentalistische unter ihnen, Al-Shabaab, duldet keine Frauen in kurzen Hosen und Trikots auf der Straße. Eine angehende Leichtathletin riskiert, angepöbelt, verschleppt, vielleicht sogar erschossen zu werden.
Alles an dieser Schilderung, die den Beginn der Handlung von Giuseppe Catozzellas Buch "Sag nicht, dass du Angst hast" wiedergibt, stimmt - bis auf das Eingangszitat. Samia Yusuf Omar kann nicht mehr sprechen, und sie konnte dem italienischen Journalisten Catozzella auch ihre Eindrücke vom August 1999 nicht mehr erzählen, denn bevor er auch nur ihren Namen kannte, war sie tot: am 2. April 2012 beim Versuch, illegal von Libyen nach Italien zu gelangen, ertrunken. Samia war gerade einmal 21 Jahre alt. Vier Monate später war die Tote berühmt, denn ihr Schicksal wurde erst während der Olympischen Spiele von London öffentlich. Dorthin hatte sie fahren wollen, um noch einmal ihre Heimat als olympische Läuferin zu vertreten. Bei ihrem ersten Start, in Peking, vier Jahre zuvor, war sie im Vorlauf des Zweihundertmeterlaufs der Frauen abgeschlagen ausgeschieden, doch die bloße Teilnahme einer dürren Siebzehnjährigen, einer von nur zwei Sportlern aus Somalia bei diesen Spielen, rührte die chinesischen Zuschauer im Stadion: Sie feierten die Letzte im Vorlauf wie eine Siegerin. Das war am 19. August 2008.
Fast auf den Tag genau sechs Jahre später erscheint heute bei Knaus die deutsche Übersetzung von Catozzellas Buch, nur wenige Monate nach dem italienischen Original. Während Catozzella daran schrieb, saß ein Deutscher an der gleichen Geschichte: Reinhard Kleist zeichnete einen Fortsetzungscomic über Samia, "Der Traum von Olympia", der seit Juli im Feuilleton dieser Zeitung abgedruckt wird. Catozzella und er wussten nichts voneinander, aber sie haben dieselben Auskunftgeber befragt: vor allem Samias fünf Jahre ältere Schwester Hodan, der es 2007 gelungen war, sich nach Europa durchzuschlagen, und die heute in Helsinki lebt. Dank ihrer Unterstützung konnten beide Autoren die E-Mails und Facebook-Einträge von Samia einsehen, die immer dann Auskunft über den Werdegang der jungen Sportlerin gaben, wenn sie irgendwo Zugang zu einem Computer bekam. Es gibt auch überlebende Flüchtlinge der Überfahrt, auf der Samia ertrank, die erzählten, was vorher geschehen war. Und doch erzählen weder Kleist noch Catozzella einfach nach, was geschehen ist. Beide sind über diese Geschichte selbst zu Flüchtigen geworden: zu Flüchtigen in die Fiktion.
Es ist bemerkenswert: Obwohl so viele Quellen zu Samias Leben zur Verfügung stehen, wurde es bislang nicht zum Stoff für Dokumentationen. Bereits 2013 hatte die spanische Choreographin Carla Gulmaraes daraus ein Tantztheaterstück gemacht: "Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde", auch in Deutschland aufgeführt. Man könnte meinen, dieses Schicksal sperrte sich gegen jede Dokumentation, es wäre nur in fiktionalisierter Fassung erträglich. Das Gegenteil ist der Fall.
Dadurch, dass Catozzella und Kleist nicht nur über Samia erzählen, sondern sie selbst sprechen lassen - im Roman als Ich-Erzählerin, im Comic dagegen durch Facebook-Einträge, die aber nicht den tatsächlich von ihr hinterlassenen Nachrichten entsprechen - und konsequent nur das in Text und Bild setzen, was sie auch selbst gesehen haben könnte, sind ihr Erfolgs- wie Leidensweg erst richtig packend. Catozzella gelingt es zwar nicht, seiner Protagonistin, die im Laufe des Romans immerhin vom achtjährigen Kind zur einundzwanzigjährigen Frau wird, jeweils altersgemäße Stimmen zu geben, aber seine Absicht liegt auch nicht in einem realistischen Erzählen. Samia tritt vielmehr als Träumerin vor uns, die vom unvermeidlichen Erfolg in Sport und Leben überzeugt ist. Dadurch entsteht die Fallhöhe bei der Schilderung ihres Todes, den Samia selbst im Buch als eine Apotheose auffasst.
Reinhard Kleist wiederum zeigt Samia als Realistin, die an ihrer Lage in Somalia verzweifelt und deshalb zunächst in die Leichtathletik und dann aus dem Land flieht. Schon, dass seine Protagonistin Facebook nutzt, von dem in Catozzellas Buch nie die Rede ist, dient der Charakterisierung einer jungen Frau, die uns im Comic nähersteht als im Roman, weil sie westliche Werte anstrebt. Dafür schweigt Kleist über die tiefe persönliche, ja beinahe archaische Bindung Samias an ihren Vater, die wiederum für Catozzella ein zentrales Element ist (vom Vater stammt auch der Satz, der dem Roman den Titel gibt). Selbst den Tod des Vaters erzählen die beiden Geschichten anders: Im Roman wird er erschossen, im Comic fällt er einem Bombenanschlag zum Opfer. Beide Fiktionen aber lassen nicht den Selbstbetrug zu, man bewegte sich im Reich der Phantasie. Mit ästhetischen Mitteln wollen sie aufrütteln, und dass beide Autoren sonst durchaus dokumentarisch arbeiten - Catozzella als Journalist ohnehin, Kleist auf dem Feld der Comicreportage -, belegt nur, dass die Anverwandlung dieses Stoffs für sie eine ungewöhnlich persönlich wurde.
Und auch die Menschen in Mogadischu nicht, wo morgen anlässlich des World Humanitarian Day am Flughafen ein bis zur letzten Minute geheim gehaltener "Mogadischu Mini-Marathon" ausgetragen wird. Veranstalter ist das Hilfswerk UNHCR, und im Mittelpunkt des Ereignisses wird die Geschichte von Samia Yusuf Omar stehen, inklusive einer posthumen Ehrung der Läuferin. Teilnehmen wird daran auch Giuseppe Catozzella, dessen Roman an die Teilnehmer verschenkt wird, und Samias Schwester Hodan, die eine Ehrenmedaille in Empfang nehmen wird. In Mogadischu wird wieder gelaufen. So hat Samia doch gesiegt.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Als Schullektüre kann sich Katja Lüthge Reinhard Kleists Comic über die somalische Olympionikin Samia Yusuf Omar, die 2012 bei dem Versuch mit Hilfe einer Schlepperbande nach Europa zu gelangen, starb, gut vorstellen. Sie selbst zeigt sich beeindruckt von Kleists Fähigkeit, die Lebensgeschichte, die Hoffnungen und Ängste, den Lebenswillen und schließlich die strapaziöse und erniedrigende Reise der Athletin mit großer Klarheit und Empathie und ohne kitschig zu werden darzustellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein wichtiges Buch, gerade in unseren Tagen" Alfons Huckebrink autor-des-eigenen-lebens.de 20190205