Lars Leese hat das erlebt, wovon zehntausende Freizeitfußballer auf deutschen Aschenplätzen oder Schwimmbadwiesen heimlich träumen: Plötzlich kommt einer und macht dich zum Profi. Mit 22 spielte Leese für die Sportfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Mit 28 sicherte er mit seinen Paraden dem englischen Erstligisten Barnsley vor 40.000 Zuschauern einen 1:0-Sieg über den sechsmaligen Europacupsieger FC Liverpool. Und mit 32 ist er wieder da, wo er herkam - in der Anonymität. Eine der kuriosesten Sportlerkarrieren der Gegenwart - "Mister Cinderella" nannte ihn die Frankfurter Rundschau. Drei Jahre lang hat Leese in der Fußball-Profiwelt gelebt und dabei nie den Blick des Fans verloren. Die Verehrung, die ihm, dem deutschen Hünen, in der nordenglischen Kleinstadt entgegenschlug, hat er ebenso dankbar genossen wie im Jahr zuvor das Training mit den Profis von Bayer Leverkusen. So einmalig wie Leeses Aufstieg war auch sein Abstieg: Als Barnsley seinen Vertrag nicht verlängert, landet er in der Arbeitslosigkeit. Alle Versuche, einen Profiverein zu finden, scheitern, heute hat er in Köln einen Vertrieb für Büroartikel und spielt abends zum Spaß in der Amateurelf von Borussia Mönchengladbach. Erzählt wird diese Geschichte vom Sportjournalisten Ronald Reng, der Leese aber immer wieder selbst berichten lässt. "Der Traumhüter" ist ein ungemein witziges, anekdotenreiches Buch, das in seinem Mix aus Fußballstory und ganz persönlicher Lebensgeschichte selbst dem sportuninteressiertesten Leser die Faszination des Fußballs nahe bringt. So anrührend und kenntnisreich zugleich ist seit "Fever Pitch" nicht mehr über Fußball geschrieben worden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2002Ticket für die Traumwelt - letzte Station Arbeitsamt
Warum soll man ein Buch lesen über einen, der mit 22 Torwart bei den Sportfreunden Neitersen war und mit 32 Büroartikel in Köln-Hürth verkauft? Weil in den zehn Jahren dazwischen eine gute Geschichte liegt; davon gibt es nie genug. "Der Traumhüter" ist nur vordergründig die Geschichte des Lars Leese, der drei Jahre Profi war und einen Tag lang der Held der Anfield Road; es ist eine über Fußball als Leidenschaft, als saftiges Stück Leben. Der Journalist Ronald Reng, der fünf Jahre lang über Englands Fußball berichtete, hat aus diesem Rohstoff eines der wenigen Bücher gemacht, die einen unverstellten Blick auf den Fußball werfen. Während die Biographien der Millionärskicker meist Banalitäten aus dem großen Big-Brother-Container der Medienwelt bieten, sind hier frisch und farbig Erlebnisse und Einblicke eines Grenzgängers zu lesen.
Eher durch Zufall wurde Lars Leese mit 27 Jahren noch Fußballprofi. Als Amateurtorwart war er 1996 Spähern von Bayer Leverkusen aufgefallen; Erich Ribbeck wollte ihn als dritten Torwart. Innerlich aufgewühlt von der einmaligen Chance, die Leidenschaft zum Beruf zu machen, saß Leese im Büro von Manager Reiner Calmund, und beide schrieben ihre Idee vom Gehalt des Neulings verdeckt auf einen Zettel. Leese pokerte nicht zu hoch - 14 000 Mark pro Monat. Er hatte den Vertrag, sein Ticket für die Traumwelt. "Leese fuhr 200 Meter vom Haberland-Stadion weg, hielt seinen Escort Cabrio an, stellte den Motor aus und brüllte: Jaaaaaaaaaaaaa! Jaaaaaaaaa!" Ein Jahr später war er zweiter Torhüter beim FC Barnsley, einem Kleinstadtklub, der gerade zum ersten Mal in 110 Jahren in die höchste englische Liga aufgestiegen war. Am vierten Spieltag erlitt Stammtorwart David Watson einen Niereneinriß, Leese kam ins Tor und hielt den Sieg gegen Bolton fest. Es folgten zwanzig Partien als Profi, darunter sein größtes Spiel, als er bei Rekordmeister FC Liverpool mit überragenden Paraden dem Aufsteiger einen 1:0-Sieg sicherte. Sechs Jahre nach der Kreisliga Westerwald war Lars Leese der Held des Tages in der Premier League, vor 40 000 Zuschauern an der Anfield Road, der vielleicht gewaltigsten Bühne, die der Fußball hat.
Ein Jahr später war Barnsley wieder in der zweiten Liga. Der Trainer ging, der neue wollte weniger Ausländer im Team, kein Platz mehr für den Deutschen. Neuer Chef, falsche Chemie, ein verdorbenes Hühnchen, ein großspuriger Manager, dumme Zufälle - Kleinigkeiten entscheiden im Fußball zwischen Erfolg und Mißerfolg. Im Falle des Grenzgängers Leese entschieden sie zwischen dem Platz in der Traumwelt und dem im Wartezimmer des Arbeitsamtes. Manager Tony Woodcock vermasselte ihm mit überhöhten Forderungen einen Wechsel nach Schottland. So kehrte Leese nach zwei Jahren auf der Insel zurück und fand sich vom deutschen Arbeitsamt eingeteilt in die Kategorie "künstlerische und ähnliche Tätigkeiten". Die Alternativjobs: Bauchredner, Clown, Fahnenschwenker.
Mit 30 war er wieder Zaungast der Traumwelt, als deren Teil er sich drei Jahre lang fühlen konnte. Mit großen Augen hatte er sie von innen erlebt, und weil man so mehr sieht als mit dem Tunnelblick des gelernten Profis, hat er mehr zu erzählen als andere nach zwanzig Jahren. Zum Beispiel vom ganz eigenartigen Konkurrenzkampf unter Torhütern, die eine Solidarität der Außenseiter im Team pflegen (derjenigen, die früher die Längsten waren und deshalb ins Tor mußten); die zugleich einander bekämpfen, so wie es der zweite mit dem ersten Torwart tut, wenn er beim Warmschießen vor dem Spiel immer auch ein paar "Unhaltbare" einstreut, um dann zu sagen: "Ich habe nicht daran gedacht, daß du nicht gut genug für solche Schüsse bist." Oder von der sentimentalen Beziehung zu den Handschuhen, die unter der Dusche penibel mit Shampoo gereinigt werden: "Allein das Geräusch, wenn die bespuckten Handschuhe den trockenen Ball greifen, macht den Torwart glücklich; das dumpfe Plopp! bringt ihn auf den Gedanken, unschlagbar zu sein."
Wie aufmerksame Völkerkundler berichten Reng und Leese auch von den Eigentümlichkeiten des englischen Fußballs, von dessen Ritualen kindischer Männlichkeit: dem Gruppenzwang, sich schlecht zu benehmen, mit Essen zu werfen, um die Wette zu furzen, endlos Bier zu trinken, unter den Kneipentisch zu pinkeln. Sozialer Höhepunkt von Barnsleys Jahr in der Premier League war die hemmungslose Weihnachtsfeier, auf der Profis sich als Hitler-Double oder BDM-Mädel verkleideten und aus der Mannschaftskasse bezahlte Strip-Tänzerinnen vernaschten.
Auch wenn der Verlag sich in der Liga vertut, wenn er das Buch mit einem anderen aus seinem Programm vergleicht, mit Nick Hornbys "Fever Pitch" - "Der Traumhüter" verdient seinen unerwarteten Erfolg. Eine ungewöhnliche Geschichte, die irgendwie jedem so oder ähnlich hätte passieren können, unprätentiös erzählt und vor allem: von Anfang bis Ende, nicht nur in den Schlaglichtern des Medien-Stroboskops, das jeden Tag eine andere Flüchtigkeit beleuchtet - das klingt nach nichts Besonderem, ist es aber in der deutschen Fußball-Literatur. Denn der Fußball hat eine epische Kraft, die durch seine dramatische Überhöhung in Bild und Wort immer mehr verschüttet wird. Er hat viele gute Geschichten. Er braucht nur gute Erzähler.
CHRISTIAN EICHLER
Besprochenes Buch: Ronald Reng: "Der Traumhüter. Die unglaubliche Geschichte eines Torwarts". Kiepenheuer & Witsch, Köln. 256 Seiten, 8,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum soll man ein Buch lesen über einen, der mit 22 Torwart bei den Sportfreunden Neitersen war und mit 32 Büroartikel in Köln-Hürth verkauft? Weil in den zehn Jahren dazwischen eine gute Geschichte liegt; davon gibt es nie genug. "Der Traumhüter" ist nur vordergründig die Geschichte des Lars Leese, der drei Jahre Profi war und einen Tag lang der Held der Anfield Road; es ist eine über Fußball als Leidenschaft, als saftiges Stück Leben. Der Journalist Ronald Reng, der fünf Jahre lang über Englands Fußball berichtete, hat aus diesem Rohstoff eines der wenigen Bücher gemacht, die einen unverstellten Blick auf den Fußball werfen. Während die Biographien der Millionärskicker meist Banalitäten aus dem großen Big-Brother-Container der Medienwelt bieten, sind hier frisch und farbig Erlebnisse und Einblicke eines Grenzgängers zu lesen.
Eher durch Zufall wurde Lars Leese mit 27 Jahren noch Fußballprofi. Als Amateurtorwart war er 1996 Spähern von Bayer Leverkusen aufgefallen; Erich Ribbeck wollte ihn als dritten Torwart. Innerlich aufgewühlt von der einmaligen Chance, die Leidenschaft zum Beruf zu machen, saß Leese im Büro von Manager Reiner Calmund, und beide schrieben ihre Idee vom Gehalt des Neulings verdeckt auf einen Zettel. Leese pokerte nicht zu hoch - 14 000 Mark pro Monat. Er hatte den Vertrag, sein Ticket für die Traumwelt. "Leese fuhr 200 Meter vom Haberland-Stadion weg, hielt seinen Escort Cabrio an, stellte den Motor aus und brüllte: Jaaaaaaaaaaaaa! Jaaaaaaaaa!" Ein Jahr später war er zweiter Torhüter beim FC Barnsley, einem Kleinstadtklub, der gerade zum ersten Mal in 110 Jahren in die höchste englische Liga aufgestiegen war. Am vierten Spieltag erlitt Stammtorwart David Watson einen Niereneinriß, Leese kam ins Tor und hielt den Sieg gegen Bolton fest. Es folgten zwanzig Partien als Profi, darunter sein größtes Spiel, als er bei Rekordmeister FC Liverpool mit überragenden Paraden dem Aufsteiger einen 1:0-Sieg sicherte. Sechs Jahre nach der Kreisliga Westerwald war Lars Leese der Held des Tages in der Premier League, vor 40 000 Zuschauern an der Anfield Road, der vielleicht gewaltigsten Bühne, die der Fußball hat.
Ein Jahr später war Barnsley wieder in der zweiten Liga. Der Trainer ging, der neue wollte weniger Ausländer im Team, kein Platz mehr für den Deutschen. Neuer Chef, falsche Chemie, ein verdorbenes Hühnchen, ein großspuriger Manager, dumme Zufälle - Kleinigkeiten entscheiden im Fußball zwischen Erfolg und Mißerfolg. Im Falle des Grenzgängers Leese entschieden sie zwischen dem Platz in der Traumwelt und dem im Wartezimmer des Arbeitsamtes. Manager Tony Woodcock vermasselte ihm mit überhöhten Forderungen einen Wechsel nach Schottland. So kehrte Leese nach zwei Jahren auf der Insel zurück und fand sich vom deutschen Arbeitsamt eingeteilt in die Kategorie "künstlerische und ähnliche Tätigkeiten". Die Alternativjobs: Bauchredner, Clown, Fahnenschwenker.
Mit 30 war er wieder Zaungast der Traumwelt, als deren Teil er sich drei Jahre lang fühlen konnte. Mit großen Augen hatte er sie von innen erlebt, und weil man so mehr sieht als mit dem Tunnelblick des gelernten Profis, hat er mehr zu erzählen als andere nach zwanzig Jahren. Zum Beispiel vom ganz eigenartigen Konkurrenzkampf unter Torhütern, die eine Solidarität der Außenseiter im Team pflegen (derjenigen, die früher die Längsten waren und deshalb ins Tor mußten); die zugleich einander bekämpfen, so wie es der zweite mit dem ersten Torwart tut, wenn er beim Warmschießen vor dem Spiel immer auch ein paar "Unhaltbare" einstreut, um dann zu sagen: "Ich habe nicht daran gedacht, daß du nicht gut genug für solche Schüsse bist." Oder von der sentimentalen Beziehung zu den Handschuhen, die unter der Dusche penibel mit Shampoo gereinigt werden: "Allein das Geräusch, wenn die bespuckten Handschuhe den trockenen Ball greifen, macht den Torwart glücklich; das dumpfe Plopp! bringt ihn auf den Gedanken, unschlagbar zu sein."
Wie aufmerksame Völkerkundler berichten Reng und Leese auch von den Eigentümlichkeiten des englischen Fußballs, von dessen Ritualen kindischer Männlichkeit: dem Gruppenzwang, sich schlecht zu benehmen, mit Essen zu werfen, um die Wette zu furzen, endlos Bier zu trinken, unter den Kneipentisch zu pinkeln. Sozialer Höhepunkt von Barnsleys Jahr in der Premier League war die hemmungslose Weihnachtsfeier, auf der Profis sich als Hitler-Double oder BDM-Mädel verkleideten und aus der Mannschaftskasse bezahlte Strip-Tänzerinnen vernaschten.
Auch wenn der Verlag sich in der Liga vertut, wenn er das Buch mit einem anderen aus seinem Programm vergleicht, mit Nick Hornbys "Fever Pitch" - "Der Traumhüter" verdient seinen unerwarteten Erfolg. Eine ungewöhnliche Geschichte, die irgendwie jedem so oder ähnlich hätte passieren können, unprätentiös erzählt und vor allem: von Anfang bis Ende, nicht nur in den Schlaglichtern des Medien-Stroboskops, das jeden Tag eine andere Flüchtigkeit beleuchtet - das klingt nach nichts Besonderem, ist es aber in der deutschen Fußball-Literatur. Denn der Fußball hat eine epische Kraft, die durch seine dramatische Überhöhung in Bild und Wort immer mehr verschüttet wird. Er hat viele gute Geschichten. Er braucht nur gute Erzähler.
CHRISTIAN EICHLER
Besprochenes Buch: Ronald Reng: "Der Traumhüter. Die unglaubliche Geschichte eines Torwarts". Kiepenheuer & Witsch, Köln. 256 Seiten, 8,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wat willste denn verdienen, Jung?" fragte Leverkusens Manager Calmund den naiven Lars Leese, bevor er das Torwart-Talent 1995 verpflichtete. Da hoffte der Keeper noch auf die große Karriere. Doch alles kam ganz anders...Reng lässt den heute 32-jährigen Leese überwiegend selbst erzählen, beschränkt sich auf sachkundige, amüsante Kommentare zur Odysee des Fußballers: Kreisliga, Bundesliga, Held an Liverpools "Anfield Road", Arbeitsamt. Ein unterhaltsamer, entlarvender Blick hinter die Kulissen des Traumberufs Fußballprofi. (Hörzu)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2002Das bin ja ich
Nachspielzeit: Die Angst des Tormanns vor dem Aus
Wie ist das, wenn man im Büro sitzt, einem alltagsgrauen Büro für Baustoffhandel, und plötzlich kommt ein Anruf vom anderen Stern: „Rettig hier, Bayer Leverkusen, Herr Calmund möchte Sie kennen lernen.” Was sagt man Rainer Calmund, wenn der einem ein paar Tage später einen Vertrag vorlegt und fragt, wie viel man haben will? Lars Leese sagte damals: „Ich hab doch keine Ahnung, was so ein Profi verdient.” Und was denkt man, wenn man zwei Jahre später mit dem FC Barnsley in der Premier League spielt und in einem der Tempel steht, im Liverpooler Stadion? „Ein erfahrenerer Torwart hätte die Zuschauer wohl einfach ignoriert. Aber ich war noch zu sehr selbst Fan. Ich lauschte ihren Gesängen und überlegte mir mitten im Spiel: Was reden die Fans jetzt über dich?”
Lars Leese hat geschafft, wovon sie alle träumen. Und er hat sofort danach erlebt, wovor sich alle fürchten: Mit 22 spielte er für die Sportsfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Sechs Jahre später sicherte er seinem Verein, dem kleinen Aufsteiger Barnsley, mit seinen Paraden einen 1:0-Sieg gegen den sechsmaligen Europacupsieger Liverpool. Kurz darauf war er arbeitslos: Der Trainer hatte was gegen die Spieler vom Kontinent. Und Tony Woodcock, Leeses Agent, hatte irgendwie Besseres zu tun, als sich um ihn zu kümmern. In Ronald Rengs Worten: „Lars Leese hatte Glück, Profi zu werden, und Pech, es nur so kurz zu sein.” Wir Büroexistenzen und Schrebergartenfußballträumer haben nun das Glück, dass Ronald Reng diese Geschichte aufgeschrieben hat. „Der Traumhüter” heißt das Buch, in dem der Sportjournalist Leeses merkwürdige Karriere nacherzählt.
In Hollywood gilt: Lass den Helden so durchschnittlich sein wie die Zuschauer, und sie werden ihn lieben. Lars Leese ist ein Typ, der am besten von Hugh Grant oder Tobey Maguire, den Meistern des tölpelhaften Charmes, dargestellt würde. Reng erzählt von einem, der selbst, als er in der Premier League spielte, wie ein kleiner Junge in der Südkurve wirkte. In Barnsley liebten sie ihn: Ein baumlanger Torwart aus dem Land des Europameisters beim Aufsteiger, da konnte nichts mehr schiefgehen. Ian McMillan, der offizielle „Fußballpoet” des FC Barnsley, dichtete: „Lars Leese, tall as trees / that grow in Wombwell Wood, / Lars Leese, listen please: / We think, you’re very good.” Leese wie Lies.
In einer Liga, in der sich Vereine eigene Hofpoeten halten, darf man sich über nichts wundern. Wie wärmen sich englische Fußballer vor einem Spiel auf? Sie legen sich in eine heiße Badewanne. Reng erzählt nebenher von den Gepflogenheiten auf der Insel: dass sich die Millionäre noch heute ihr Geld am Wochenende in einem Briefumschlag abholen; von den exzessiven Trink- und Rüpelritualen und davon, dass es in England Gegenden gibt, in denen Training immer noch ein Synonym ist für dreistündige Waldläufe.
Heute arbeitet Leese wieder als Bürokaufmann. Nebenher kickt er in Mönchengladbachs Reserve-Elf. „Und wenn ich manchmal die alten Videos aus Barnsley sehe, dann verblüfft mich das jedes Mal wieder: Das bin ja ich! Es kommt mir vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen.”
ALEX RÜHLE
RONALD RENG: Der Traumhüter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 256 Seiten, 8,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Nachspielzeit: Die Angst des Tormanns vor dem Aus
Wie ist das, wenn man im Büro sitzt, einem alltagsgrauen Büro für Baustoffhandel, und plötzlich kommt ein Anruf vom anderen Stern: „Rettig hier, Bayer Leverkusen, Herr Calmund möchte Sie kennen lernen.” Was sagt man Rainer Calmund, wenn der einem ein paar Tage später einen Vertrag vorlegt und fragt, wie viel man haben will? Lars Leese sagte damals: „Ich hab doch keine Ahnung, was so ein Profi verdient.” Und was denkt man, wenn man zwei Jahre später mit dem FC Barnsley in der Premier League spielt und in einem der Tempel steht, im Liverpooler Stadion? „Ein erfahrenerer Torwart hätte die Zuschauer wohl einfach ignoriert. Aber ich war noch zu sehr selbst Fan. Ich lauschte ihren Gesängen und überlegte mir mitten im Spiel: Was reden die Fans jetzt über dich?”
Lars Leese hat geschafft, wovon sie alle träumen. Und er hat sofort danach erlebt, wovor sich alle fürchten: Mit 22 spielte er für die Sportsfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Sechs Jahre später sicherte er seinem Verein, dem kleinen Aufsteiger Barnsley, mit seinen Paraden einen 1:0-Sieg gegen den sechsmaligen Europacupsieger Liverpool. Kurz darauf war er arbeitslos: Der Trainer hatte was gegen die Spieler vom Kontinent. Und Tony Woodcock, Leeses Agent, hatte irgendwie Besseres zu tun, als sich um ihn zu kümmern. In Ronald Rengs Worten: „Lars Leese hatte Glück, Profi zu werden, und Pech, es nur so kurz zu sein.” Wir Büroexistenzen und Schrebergartenfußballträumer haben nun das Glück, dass Ronald Reng diese Geschichte aufgeschrieben hat. „Der Traumhüter” heißt das Buch, in dem der Sportjournalist Leeses merkwürdige Karriere nacherzählt.
In Hollywood gilt: Lass den Helden so durchschnittlich sein wie die Zuschauer, und sie werden ihn lieben. Lars Leese ist ein Typ, der am besten von Hugh Grant oder Tobey Maguire, den Meistern des tölpelhaften Charmes, dargestellt würde. Reng erzählt von einem, der selbst, als er in der Premier League spielte, wie ein kleiner Junge in der Südkurve wirkte. In Barnsley liebten sie ihn: Ein baumlanger Torwart aus dem Land des Europameisters beim Aufsteiger, da konnte nichts mehr schiefgehen. Ian McMillan, der offizielle „Fußballpoet” des FC Barnsley, dichtete: „Lars Leese, tall as trees / that grow in Wombwell Wood, / Lars Leese, listen please: / We think, you’re very good.” Leese wie Lies.
In einer Liga, in der sich Vereine eigene Hofpoeten halten, darf man sich über nichts wundern. Wie wärmen sich englische Fußballer vor einem Spiel auf? Sie legen sich in eine heiße Badewanne. Reng erzählt nebenher von den Gepflogenheiten auf der Insel: dass sich die Millionäre noch heute ihr Geld am Wochenende in einem Briefumschlag abholen; von den exzessiven Trink- und Rüpelritualen und davon, dass es in England Gegenden gibt, in denen Training immer noch ein Synonym ist für dreistündige Waldläufe.
Heute arbeitet Leese wieder als Bürokaufmann. Nebenher kickt er in Mönchengladbachs Reserve-Elf. „Und wenn ich manchmal die alten Videos aus Barnsley sehe, dann verblüfft mich das jedes Mal wieder: Das bin ja ich! Es kommt mir vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen.”
ALEX RÜHLE
RONALD RENG: Der Traumhüter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 256 Seiten, 8,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Etwas elliptisch berichtet Alex Rühle über das Buch des Sportjournalisten Ronald Reng. Der hat sich der Geschichte des Fußballers Lars Leese angenommen. Leese verkörpert für den Rezensenten den Traum aller Durchschnittsmenschen mit einer ausgeprägten Affinität für Fußball. Ein unerwarteter Anruf leitet die kurze Karriere zum Fußballprofi ein, die ihn nach England führt, wo er aber wegen Zwistigkeiten mit dem Trainer nicht weiter aufsteigen kann und nach Deutschland zurückkehrt. Hier arbeitet er wieder wie zu Beginn dieser kurzen Karriere als Bürokaufmann und sitzt nun für Mönchengladbach auf der Reservebank. Rühle findet diesen Band recht informativ, seine Besprechung ist es wegen ihrer im Sportmoderatorenjargon gehalten Sprache allerdings weniger.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine wunderschöne Parabel auf den modernen Fußball, auf seine Schnelllebigkeit, seine Oberflächlichkeit und seine Träume. Lars Leese ist die Sternschnuppe des Fußballs.« Die Welt