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Über die moderne Welt sind viele diagnostische Mythen im Umlauf: Sie sei homogenisiert, individualisiert, und die isolierten Individuen gäben sich hemmungslos dem Konsum hin. Der englische Anthropologe Daniel Miller hat diese Mythen hinterfragt - genauer: Er hat die Bewohner einer Londoner Straße befragt. Und da die Menschen nun einmal nicht gerne über ihr Leben Auskunft geben, hat er mit ihnen über die Dinge in ihren Wohnungen gesprochen: über Simons 15000 Schallplatten, die für ihn alle emotionalen Schattierungen zum Ausdruck bringen; über den Laptop, auf dem Malcolm Unmengen von Briefen und…mehr

Produktbeschreibung
Über die moderne Welt sind viele diagnostische Mythen im Umlauf: Sie sei homogenisiert, individualisiert, und die isolierten Individuen gäben sich hemmungslos dem Konsum hin. Der englische Anthropologe Daniel Miller hat diese Mythen hinterfragt - genauer: Er hat die Bewohner einer Londoner Straße befragt. Und da die Menschen nun einmal nicht gerne über ihr Leben Auskunft geben, hat er mit ihnen über die Dinge in ihren Wohnungen gesprochen: über Simons 15000 Schallplatten, die für ihn alle emotionalen Schattierungen zum Ausdruck bringen; über den Laptop, auf dem Malcolm Unmengen von Briefen und Fotos speichert, um die Erinnerungskultur seiner Aborigines-Vorfahren aufrechtzuerhalten; über die billigen Spielfiguren aus dem Fast-food-Restaurant, mit denen Marina ihren Kindern ihre Liebe zeigt.
Autorenporträt
Daniel Miller (geboren 1954) hat in den letzten Jahren eine Reihe vielbeachteter Studien zum globalen Konsumverhalten vorgelegt. Er lehrt Ethnologie am University College in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2010

Wie tröstlich, dass der Vogelkäfig klemmt und das Bierglas so widerspenstig schaut

Gegen Grübeln und Reflexionsüberschuss hilft die harte Kontur der Haushaltsgegenstände. Daniel Miller erzählt, wie die Dinge, die uns umgeben, unser Denken prägen.

In seinen "Lehrjahren des Gefühls" lässt Gustave Flaubert seinen Helden wiederholt auf die eigentümliche Wirkungsmacht der Dinge treffen. "Ihr Kamm, ihre Handschuhe und Ringe waren für ihn bedeutungsvolle Dinge; sie hatten ihren Eigenwert wie Kunstwerke, ihr Eigenleben wie beseelte Wesen." Das Wissen, dass die Dinge keine bloßen Requisiten sind, sondern das Handeln der Subjekte mitbestimmen, ist längst auch in den Wissenschaften vom Menschen angekommen. Im Zuge dieses Trends hat der englische Anthropologe Daniel Miller unter dem Titel "Der Trost der Dinge" eine Studie über die Bewohner einer Straße im Süden Londons veröffentlicht.

In fünfzehn Einzelporträts berichtet Miller von den Wohnungseinrichtungen seiner Interviewpartner, erzählt, was sie sammeln, wie sie Ordnung halten oder mit ihrem Körper umgehen. Man erfährt von einer jungen Mutter, die Spielfiguren von McDonald's zum festen Bestandteil der Kindererziehung macht, von einer halb erblindeten Frau, die das Staubwischen zum Ritual werden lässt oder einen ruhelosen Geschäftsreisenden, der alles Dingliche so schnell wie möglich entsorgt und seine gesamte Existenz vornehmlich im Laptop verwaltet. Miller setzt bewusst auf eine literarische Form der Darstellung und vermeidet jegliches empirische Design. Die so entstandenen Porträts sind nicht nur lesbarer, sondern letztlich auch informativer als es eine statistische Expertise über das durchschnittliche Konsumverhalten der englischen Mittelklasse am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts gewesen wäre. Ob seine Beschreibungen repräsentativ sind oder nicht, ist für Miller zweitrangig. Ihm geht es darum, die Befragten als Bewohner eines spezifischen Kosmos zu beschreiben, in dem der Umgang mit Dingen eine entscheidende Rolle spielt.

Allerdings taucht bei der Lektüre rasch die Frage auf, ob "Trost" tatsächlich die angemessene Kategorie ist, um die vielgestaltige Wirkungsweise der Dinge zu beschreiben. Neben ihrer Dienstbereitschaft stellt sich im täglichen Umgang mit ihnen ja immer wieder auch der Eindruck radikaler Indifferenz, Widerspenstigkeit oder gar Feindseligkeit ein. Regelmäßig versagen sie den Dienst, stehen im Weg, beanspruchen Zeit und Geld oder verharren ungerührt an ihrem Platz, auch wenn gerade das Ungeheuerlichste geschieht.

Die Literatur kennt zahllose Beschreibungen dieser Art, und wie Roland Barthes zu Recht bemerkt hat, erhalten die Objekte darin den Anschein einer "Sache, die eigensinnig ist und ein wenig gegen den Menschen existiert". So gibt es in Flauberts Erzählung eben nicht nur die auratischen Besitztümer der geliebten Person, sondern auch Gegenstände, die zu "höhnischen Zuschauern" werden oder den Helden, "wie er meinte, mitleidlos anstarrten". Bei Miller bleibt diese Unheimlichkeit ausgespart. Die Dinge erscheinen hier eher wie gutmütige Haustiere, die in Zeiten der Krise für Ausgeglichenheit und Harmonie sorgen. Bezeichnenderweise kommt im Porträt des heroinabhängigen Dave auch nur seine trostreiche CD-Sammlung als Ding in Betracht, nicht hingegen das Heroin, dessen Konsum ihn regelmäßig aus der Bahn wirft.

Auch muss man dem Autor widersprechen, wenn er die Aufmerksamkeit auf Dinge als eine "außergewöhnliche Perspektive" vorstellt. In den Geistes- und Kulturwissenschaften hat sich diese Perspektive längst etabliert, und spätestens seit den Arbeiten Bruno Latours ist es auch in der Soziologie nicht ungewöhnlich, das eigenartige Verhalten von Sicherheitsgurten oder automatischen Türöffnern in die Darstellung der Gesellschaft einzubeziehen. Insofern löst Miller sein Versprechen nur ansatzweise ein. Im Zentrum steht letztlich nicht die spezifische Funktionsweise der Dinge, sondern die Absichten, Ängste und Wünsche ihrer Besitzer. Der Begriff des Dings wird auch eigentümlich ausgeweitet, wenn beispielsweise auch die Ausübung von Wrestling oder ein treuherziger, brauner Labrador als "Ding" angesprochen wird.

Das Verdienst des Buches liegt woanders. Miller selbst formuliert es im Nachwort. Es ist die "Erkenntnis, dass man heute auch in sehr kleinen sozialen Einheiten eine Vielheit von Lebensformen vorfindet, die der in den traditionell von Anthropologen untersuchten Gesellschaften in nichts nachsteht". Eine Straße im Süden Londons ist bei genauerer Betrachtung eben nicht weniger exotisch als die Schauplätze einer fremden Kultur. Ähnlich wie es Wissenschaftssoziologen mit dem Innenleben moderner Labore getan haben, richtet Miller den ethnologischen Beobachterblick auf Phänomene der eigenen Kultur. Eine Sammlung gestohlener Biergläser steht dem Gebrauch von Tonkrügen in einer indischen Dorfgemeinschaft dann in nichts nach.

Für die Fachkollegen des Autors ist das vermutlich keine neue Erkenntnis, aber diese Perspektive trägt über den fachwissenschaftlichen Rahmen hinaus. Der verfremdende Blick auf englischen Weihnachtsschmuck oder die Praxis des Staubwischens lässt scheinbar Unwesentliches plötzlich beschreibungswürdig erscheinen. Leider hält Miller die dazu notwendige Distanz nicht immer durch und unterbricht seine Beschreibungen mitunter durch überflüssige Selbstauskünfte. In den gelungenen Passagen jedoch erhalten die Bewohner Londons das Potential literarischer Figuren - wie etwa Elia, die in ihrer Küche mit der toten Großmutter spricht und wenn es besonders gute Nachrichten gibt, Lippenstift auflegt und sich auf den Weg zum Friedhof macht, um ihr die Neuigkeiten dort persönlich zu erzählen. In diesen Details blitzt ein geradezu ethisches Anliegen der Studie auf, und die Porträts erzeugen eine Ahnung davon, dass bei genauerer Betrachtung niemand uninteressant ist.

PETER GEIMER

Daniel Miller: "Der Trost der Dinge". Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 227 S., br., 15,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wahrlich tröstend ist diese Buch für Peter Geimer durch die sich einstellende Ahnung davon, dass niemand uninteressant ist. Es gilt bloß, genauer hinzuschauen. In seinen besten Momenten gelingt das dem Autor auch, erklärt uns Geimer, der den enthnologischen Blick auf Alltagsphänomene auf engstem Raum (hier einer Londoner Straße) für unterhaltsam und lehrreich hält. Staubwischen, eine Bierglassammlung, ein Hund, auch wenn es sich dabei nicht immer um Dinge handelt, wie Geimer kritisiert, soziologisch ist das fruchtbar, wenn auch nicht neu. Schade findet er, dass die "Dinge" bei Daniel Miller ihrer unheimlichen, widerspenstigen Seite beraubt werden. Roland Barthes etwa habe diese gesehen.

© Perlentaucher Medien GmbH