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Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • Seitenzahl: 207
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 258g
  • ISBN-13: 9783250103936
  • ISBN-10: 3250103934
  • Artikelnr.: 25022367
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.1999

Rede gegen die Pflicht
Kantgedanken unter der Pelzmütze: E. Y. Meyer in Trubschachen

Ein junger Mann bricht aus seinem Alltag auf. Im schweizerischen Biel besteigt er den Zug, in der einen Hand einen Koffer, in der anderen eine Reisetasche. Sein Ziel ist nicht die weite Welt, sondern das Dorf Trubschachen, ein reizloser Ort mitten im Emmental. In dieser Abgeschiedenheit will der Reisende in den Tagen zwischen Weihnachten und Epiphanias - von alters her eine verwunschene Zeit - eine Abhandlung über Immanuel Kant schreiben.

Aber statt sich in die Philosophie zu vertiefen, gerät der Student unter das Diktat eines fremden Zeitplans. Sein Tageslauf wird zunehmend von den üppigen Mahlzeiten im Dorfgasthaus bestimmt, deren Speisefolge er mit großer Präzision protokolliert: Ochsenschwanzsuppe, Rahmschnitzel, Nouilles chinoises, Endiviensalat, Dessert - Tag für Tag eine schier endlose Reihe schwerer Köstlichkeiten. Erholung von den ungewohnten Genüssen sucht der Reisende auf ausgedehnten Spaziergängen durch das verschneite Dorf. Er stößt dabei auf Spuren von Verfall und Verwesung und widersteht am Ende nur mühevoll der Versuchung, in einer tiefen Schneewehe oder der warmen Badewanne sein Leben aufzugeben.

Als der Roman "In Trubschachen" im Jahr 1973 zum ersten Mal erschien, machte er den damals siebenundzwanzigjährigen Autor über die Grenzen der Schweiz hinaus berühmt. Bis heute ist es Meyers bekanntestes Buch geblieben, obwohl ihm noch zwei Romane, verschiedene Essays und Theaterstücke folgten. Verstörend neu war die artifizielle Sprache des Romans; denn Meyer erzählt die Erlebnisse seines Winterreisenden in einer waghalsigen Kombination aus hyperrealistischer Detailgenauigkeit und anhaltender Unbestimmtheit.

Seinen Helden nennt er kein einziges Mal beim Namen, sondern beläßt es bei einem allgemeinen "man". Das ist ein Kunstgriff, den jeder Deutschlehrer tadeln würde. Meyer schert sich jedoch wenig um stilistische Regularien und krönt seine langen Sätze mit komplizierten Prädikatsreihen. Die Verbform, der er den Vorzug gibt, ist der Konjunktiv. Das Vorbild solcher Manierismen wird ausdrücklich genannt, denn der junge Mann liest nicht allein Immanuel Kant, dies freilich mit wachsendem Widerwillen, sondern neben Kriminalromanen aus der Bahnhofsbuchhandlung auch Thomas Bernhard.

Rhetorischer Höhepunkt des Romans ist die große "Rede gegen die Pflicht", die der widerstrebende Kant-Forscher am Neujahrstag im Wirtshaussaal hält. Die harsche Abrechnung mit Kants kategorischem Imperativ und seiner Pflichtethik - für den Redner die Ursache allen gesellschaftlichen Unglücks - hat unappetitliche Folgen. Viel Wein war nötig, damit der junge Mann seine Gedanken öffentlich vortragen konnte, und all diesen Wein gibt er zusammen mit dem reichlichen Abendessen anschließend wieder von sich: Kant als Brechmittel.

Übelgenommen hat man E. Y. Meyer diese rüde Behandlung des berühmten Philosophen kaum - zu sehr stimmte sie mit dem Zeitgeist der Achtundsechziger überein, der bis in die Schweiz hinein wehte. Und doch erhob sich nach der Veröffentlichung des Romans großer Protest, denn die Bewohner des realen Trubschachen sahen ihr schmuckes Dorf durch den Roman verunglimpft, fühlten sich durch Berichte über stinkende Abfallhalden und blutschänderische Familiengeheimnisse in ihrer Emmentaler Ehre tief gekränkt. Selbst die Touristen, die mit Meyers Buch in der Hand die Köstlichkeiten der einheimischen Gastronomie entdecken wollten, stießen auf Ablehnung: Von solch literarischem Ruhm wollte man in Trubschachen nicht profitieren.

Der Roman wurde sogar ein Fall für die Behörden, denn beiläufig hatte Meyer von einer abgeschirmten Baustelle berichtet, was das helvetische Militär mißtrauisch registrierte. Verdächtigungen dieser Art blieben in der Schweiz kein Einzelfall. Wie man seit der unrühmlichen Fichen-Affäre weiß, standen nicht allein verschiedene Künstler jahrelang unter offizieller Beobachtung; vermeintlich staatsgefährdende Unternehmungen wurden sorgfältig notiert.

Auf die Verwechslung von Wirklichkeit und Fiktion, die seinem Roman unerwartete Popularität verschaffte, antwortete Meyer wiederum im Medium der Literatur: Seine Erzählung "Die Erhebung der Romanfiguren" (1975) vermischt virtuos verschiedene Realitätsebenen: Trubschachener Einwohner beschweren sich über den Autor, der nun selbst zu einer literarischen Figur geworden ist. Doch wenn dieser erfundene Schriftsteller versichert, daß der Trubschachen-Roman keinesfalls als unmittelbares Protokoll seines Aufenthaltes im Emmental verstanden werden darf, ist das ein ernstgemeinter Kommentar des realen Verfassers.

Roman und Erzählung sind jetzt, fünfundzwanzig Jahre nach der ersten Veröffentlichung neu erschienen. Ein Foto auf dem Umschlag des Buches zeigt den Autor in dicker Winterkleidung vor einer verschneiten Landschaft. Dieses Bild, so Meyers Erklärung, gab überhaupt erst den Anstoß zu seinem Roman. Nach der Lektüre fällt es schwer, in den ernsten Zügen unter der Pelzmütze nicht zugleich auch ein Porträt des pflichtverdrossenen Kantforschers im Emmental zu sehen - ein fast schon romantisches Vexierspiel. SABINE DOERING

E. Y. Meyer: "Der Trubschachen Komplex". Ein Roman und eine Erzählung. Amman Verlag, Zürich 1998. 208 Seiten, br., 19,80 DM.

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