Der Erste Weltkrieg war ein industrialisierter Massenkrieg. Je länger er dauerte, desto mehr veränderte er die Gesellschaften, die ihn führten, und desto rasanter entwertete er das Wissen der Politiker. Wie sollte man ihn beenden? Meisterhaft und mit dem Blick für die globalen Zusammenhänge erzählt Jörn Leonhard, wie die Welt zwischen 1918 und 1923 um eine neue Friedensordnung rang und was diese Zeitenwende für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bedeutete. Dabei werden die hochfliegenden Erwartungen und die teils widersprüchlichen Versprechen ebenso deutlich wie die erdrückenden Probleme bei der Umsetzung und die Unterschiede zwischen den Annahmen in Paris und den Realitäten vor Ort. Ob im Blick auf untergehende Reiche und neue Staaten, ethnische Minderheiten oder das neue Massenphänomen von Flucht und Vertreibung: Die Art und Weise, wie der Krieg zu Ende ging, schuf Enttäuschungen und Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen sollten und deren Ausläufer bis in unsere Gegenwart reichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2019WELT OHNE ORDNUNG
Versailles und das Jahr 1919: eine notwendige Erinnerung
Am 24. Juli 2008, einem Donnerstag, kam der Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Demokraten, Barack Obama, nach Berlin. Schlank und locker stand er auf einem Podest zu Füßen der Siegessäule und verkündete mit einer Coolness, die hiesigen Politikern heute noch fremd ist, das Programm zur Weltverbesserung, das er nach seinem Amtsantritt umsetzen würde. Die Netzwerke des Terrors würden zerschlagen, die nuklearen Arsenale der Großmächte abgebaut werden. Afghanistan und der Irak würden sich mit Unterstützung von Nato-Truppen zu Demokratien weiterentwickeln. Die Nationen der Welt würden dem Beispiel Deutschlands folgen und ihre Emissionen von Treibhausgas auf ein tragbares Maß reduzieren. Kooperation und Partnerschaft würden alte Feindschaften ersetzen. Und bei all diesen Aufgaben könne sich Amerika keinen besseren Freund als Europa vorstellen, die Europäische Union.
Inzwischen ist es gut zehn Jahre her, seit die zweihunderttausend Zuhörer im Berliner Tiergarten Obama bejubelten und "Yes, we can!" skandierten. Vor zwei Jahren hat Obama sein Präsidentenamt an Donald Trump übergeben. Von seinen politischen Plänen ist nichts geblieben: In Afghanistan stehen immer noch Nato-Truppen, die Taliban sind auf dem Vormarsch, der Irak hat den Angriff des "Islamischen Staats" abgewehrt, ohne der Demokratie näher zu kommen, die nuklearen Arsenale sind durch die Aufrüstung Chinas und Nordkoreas größer als zuvor, die Treibhausgasemissionen steigen stärker denn je. Unterdessen ist der Arabische Frühling gescheitert und hat Libyen als failed state hinterlassen, in Syrien kämpfen Russland, die Türkei, Saudi-Arabien und Iran um ihre Einflusszone im östlichen Mittelmeer, und aus Afrika und Südamerika drängen ständig neue Flüchtlingswellen in die Länder des Nordens. Vor vierzehn Tagen hat der russische Präsident Putin eine neue Interkontinentalrakete getestet, die mit zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit fliegt. Und Donald Trump hat nach dem knapp vermiedenen Eklat im Zollstreit mit der Europäischen Union einen Handelskrieg mit China begonnen, der die Weltwirtschaft an den Rand einer Rezession bringen dürfte.
An all das musste ich denken, als ich Jörn Leonhards Buch über den "überforderten Frieden" las ("Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923". C. H. Beck, 1531 Seiten, 39,95 Euro).
Damals, im Frühjahr 1919, ging es um die Neuordnung der Kontinente nach dem Ersten Weltkrieg. An erster Stelle stand natürlich Europa, aber durch den Kriegseintritt Japans und Amerikas auf Seiten der Westmächte, durch die Kämpfe in den deutschen Kolonien, die Kontingente britischer und französischer Kolonialtruppen an den europäischen Fronten und die Folgen der russischen Revolution war letztlich die ganze Welt Gegenstand der Verhandlungen. Aus Vietnam war Nguyen Ai Quoc, der sich später Ho Tschi Minh nannte, als Beobachter angereist, aus Arabien nahm Scheich Faisal mit seinem Freund T. E. Lawrence an der Konferenz teil, und in seinem Ashram in Indien verfolgte Mahatma Gandhi aufmerksam deren Fortgang.
Die Erwartungen der Siegermächte England und Frankreich und ihrer Verbündeten waren, wie Leonhard zeigt, auf Rache an ihren Kriegsgegnern Deutschland und Österreich-Ungarn und Entschädigung für ihre Verluste an Menschen und Gütern gerichtet. Die Hoffnungen der gesamten übrigen Welt aber, einschließlich der kriegsentscheidenden Großmacht Amerika, galten der Umsetzung jener "Vierzehn Punkte", die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 als Vorbedingung für Friedensgespräche verkündet hatte. Zu ihnen gehörten die Freiheit der Meere, das Ende der Geheimdiplomatie, die Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaats und des Osmanischen Reiches, der Abbau von Handelsschranken und allgemeine Abrüstung. Am wichtigsten und folgenreichsten aber war ein Begriff, der in Wilsons Punkteliste nur verklausuliert ("autonome Entwicklung", "Selbständigkeit") auftaucht, von ihm selbst jedoch in zahllosen Reden beschworen wurde: das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Dieses Recht, das heute als Axiom in der Charta der Vereinten Nationen steht, besagt nichts anderes, als dass jede Gemeinschaft, die sich durch Sprache, Herkunft und kulturelle Traditionen von anderen Gemeinschaften unterscheidet, zu politischer Eigenständigkeit ermächtigt ist. In der Welt von 1919, in der ganz Afrika und halb Asien aus Kolonialgebieten unter europäischer oder amerikanischer Herrschaft bestanden, war das ein revolutionärer Gedanke. Wie man sich denken kann, wurde er in Versailles auch nicht annähernd umgesetzt. Aber die Art, wie seine Umsetzung an den politischen Realitäten scheiterte, prägt die Geschichte unseres Planeten bis heute, bis hin zu Obama und Trump, zu Putin und Erdogan.
Zuerst bekamen die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich-Ungarn den Widerspruch zwischen Ideal und Machtinteresse zu spüren. Anders als bis dahin üblich, saßen sie nicht mit am Konferenztisch, sondern wurden nur zur Übergabe der Vertragsbedingungen einbestellt, die sie nach kurzer Frist unter Androhung militärischer Zwangsmittel annehmen mussten. Die junge deutsche Republik verlor Elsass-Lothringen, Nordschleswig und Westpreußen, aber auch das Memelland um Tilsit (1923 an Litauen) und das mehrheitlich deutschsprachige Danzig (das vom Völkerbund verwaltet wurde). Das Rheinland kam bis 1930 unter alliierte, das Saarland bis 1936 unter französische Verwaltung. Die von Polen beanspruchten Teile Ostpreußens blieben nach Volksabstimmungen bei Deutschland, während das südliche oberschlesische Industrierevier trotz deutscher Abstimmungsmehrheit an Polen ging. Österreich musste Südtirol an Italien abtreten, dem es 1915 als Belohnung für seinen Kriegseintritt versprochen worden war, und Ungarn verlor zwei Drittel seines früheren Territoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung an Rumänien, die Tschechoslowakei und das neu entstandene Jugoslawien. Überall in Ost- und Mitteleuropa bildeten sich nationale Minderheiten, die sich auf jenes Selbstbestimmungsrecht berufen konnten, das ihnen in Versailles gerade verweigert worden war.
Als Nächstes kamen die Araber dran. Der Nationalstaat unter Faisals Führung, den England den Herrschern von Mekka für ihren Einsatz im Krieg gegen die Osmanen versprochen hatte, war schon mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hinfällig geworden. In Versailles schrieben Briten und Franzosen ihre Einflusszonen fest, Letztere sicherten sich Syrien und den Libanon, Erstere Jordanien, Palästina und den heutigen Irak. Faisal, der sich vergeblich in Damaskus zu halten versuchte, wurde 1920 als Puppenkönig in dem aus sunnitischen, schiitischen und kurdischen Gebieten zusammengeklebten irakischen Kunststaat eingesetzt, während der Süden der arabischen Halbinsel unter die Herrschaft der wahhabitischen Dynastie von Ibn Saud geriet, dem Gründer von Saudi-Arabien.
Blieben die Kolonien. In Wilsons "Vierzehn Punkten" hieß es ominös, ein "Ausgleich aller kolonialen Ansprüche" müsse erzielt werden, bei dem "die Interessen der betreffenden Bevölkerungen" ebenso ins Gewicht fielen wie die Interessen jener Regierung, "deren Rechtstitel zu entscheiden ist". Die Inder und Afrikaner, die in französischen und britischen Uniformen in Flandern und bei Gallipoli gekämpft hatten, verstanden dass so, dass ihre Länder von ihren Besatzern stufenweise in die Unabhängigkeit entlassen würden. Aber Wilson, ein weißer Suprematist und Verehrer des Ku-Klux-Clans, und die Führer der europäischen Kolonialmächte dachten gar nicht daran, die "betreffenden Bevölkerungen" nach ihrem Willen zu fragen. Die ehemaligen deutschen Kolonien wurden unter britische und französische Verwaltung gestellt, die Kolonialsoldaten entlassen, ansonsten ging alles so weiter wie bisher. Nguyen Ai Quoc alias Onkel Ho zog daraus seine persönliche Konsequenz: Er ging nach Moskau und wurde Kommunist.
Jörn Leonhard, der das Ringen um den Versailler Vertrag, dessen Nebenverträge, deren Ratifizierung und Umsetzung auf gut zwölfhundert Textseiten in allen Einzelheiten schildert, gibt sich Mühe, den Realpolitiker Wilson gegen seine idealpolitischen Verehrer in Schutz zu nehmen: Die "Vierzehn Punkte" seien vor allem als Statement gegen die Gewaltdiplomatie des Deutschen Reiches bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk entstanden, man dürfe ihnen nicht "jenen Grad an Eindeutigkeit" unterstellen, der nach Kriegsende in sie hineingelesen wurde. Aber das bedeutet, mit der Geschichte gegen die Geschichte zu argumentieren. Auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde an einem bestimmten Punkt in der Französischen Revolution verkündet, und dennoch hat sie ihre Gültigkeit behalten. Wilsons Idee der Selbstbestimmung der Völker wirkte über das Trauerspiel von Versailles hinaus fort, weil sie ein elementares Rechtsempfinden auf die Ebene der Staaten und ihrer Beziehungen untereinander übertrug - auch wenn im Konfliktfall immer neu geklärt werden muss, was ein "Volk" ausmacht und wie viele Grade der Selbstregierung möglich sind. Es bedurfte eines weiteren Weltkriegs, um die Kolonialmächte Europas zu der Einsicht zu zwingen, dass auch Kenianer und Inder das Recht auf Selbstbestimmung haben, und weitere vierzig Jahre Kalter Krieg, um dieses Recht auch im sowjetischen Imperium durchzusetzen.
Womit wir wieder bei der Gegenwart wären, bei Trump und Putin und Erdogan und bei dem Gefühl der Leere, das Obamas Präsidentschaft hinterlassen hat. Jede Epoche hat ihren utopischen Augenblick, und seit Europa im Kolonialismus seinen weltanschaulichen Kredit verspielt hat, ist er jedes Mal mit Amerika verbunden. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Wahl Kennedys, und in der Periode nach dem Ende des Kalten Krieges kam dieser Moment mit der "Yes, we can"-Kampagne Obamas, weil sie das Versprechen des Westens - Demokratie, Gleichberechtigung, Wohlstand für alle - noch einmal in einer Formel und einer Person zusammenzog. In Berlin, im Juli 2008, schien der Aufbruch in ein globales Friedenszeitalter zum Greifen nahe. Drei Jahre später war er verpufft. Damals entstand das Foto, das in der kollektiven Erinnerung von Obama bleiben wird. Es zeigt den Präsidenten, wie er im Situation Room des Weißen Hauses mit ernster Miene bei der Tötung Usama bin Ladins zusieht. Diese Exekution ist neben der Healthcare-Reform das greifbarste Ergebnis von Obamas Amtszeit. Der Böse ist tot, die Bösen sind geblieben, und Al Qaida lebt jetzt unter vielen Namen.
Auch Woodrow Wilson hatte seinen Moment der Utopie, als er vor gut hundert Jahren an Bord der "George Washington" unter dem Jubel der Menge in Brest anlegte, und dann bei seinen triumphalen Auftritten in Paris, London und Rom. Als er ein halbes Jahr später nach Amerika zurückkehrte, war er ein gebrochener Mann. Sein Friedenswerk war gescheitert, in den Ländern der Kriegsverlierer tobten Bürgerkriege, Polen und Russland holten zum Schlag gegeneinander aus, und in Kleinasien kämpften Türken und Griechen um die Konkursmasse des Osmanischen Reichs. Schon in Versailles war Wilson schwer erkrankt, im Oktober erlitt er einen Schlaganfall, den Rest seiner Präsidentschaft verbrachte er meist im Rollstuhl oder im Bett. Im November lehnte der Senat mit seiner republikanischen Mehrheit den Versailler Vertrag ab. Der Völkerbund, Wilsons großes Projekt, blieb ein Torso, weil die Vereinigten Staaten ihm nicht beitraten.
Ein Jahr nach dem Ende der Friedenskonferenz konstatiert der Ökonom John Maynard Keynes, der als Mitglied der britischen Delegation in Versailles dabei gewesen und aus Protest gegen die harten Vertragsbedingungen für Deutschland vorzeitig abgereist war, eine akute "Universalismusmüdigkeit" in Europa. Noch niemals im Leben des heutigen Menschen, so Keynes, habe "das Gefühl der Weltzusammengehörigkeit in seiner Seele so trübe gebrannt". Während Telegrafenkabel und Radiowellen die entferntesten Ecken der Erde miteinander verbanden, erlosch in den Industriegesellschaften der Sinn für Globalität. Das nationale Interesse und der Kampf gegen den Bolschewismus traten in den Vordergrund, die Zeit der starken Männer begann: Horthy in Ungarn, Mussolini in Italien, Pilsudski in Polen, Franco in Spanien, Hitler in Deutschland. Die Weimarer Republik, dem schlechten Ruf zum Trotz, der ihr heute anhaftet, hatte unter den jungen Demokratien fast am längsten durchgehalten. Als die Nazis sie 1933 liquidierten, waren die Reparationen, die ihr ökonomisch die Luft abgedrückt hatten, seit einem Jahr gestrichen. Aber die Kredite, mit denen sie ihre Zahlungen an die Alliierten finanziert hatte, wurden erst im wiedervereinigten Deutschland endgültig getilgt. Die letzte Rate in Höhe von 56 Millionen Euro überwies die Bundesrepublik am 3. Oktober 2010. So lang fiel der Schatten von Versailles.
Universalismusmüdigkeit: Das ist vielleicht nicht das allererste Schlagwort, das einem zum Vormarsch der neuen Rechten, zum Brexit und zur Flüchtlingskrise, zu Trump, Orbán und Konsorten einfällt. Aber es beschreibt ziemlich treffend jenes Grundgefühl der Enttäuschung, das die Gegenwart mit der Welt nach Versailles verbindet. Damals hatten die siegreichen Westmächte "die größte moralische Möglichkeit der Geschichte", wie Stefan Zweig rückblickend schrieb: die Chance, die Welt vernünftig zu ordnen. Sie haben sie nicht genutzt. Insofern war nicht der Große Krieg, sondern Versailles die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, der Anfang von allem, was heute noch auf der Agenda der Weltpolitik steht. Das ist kein Grund, das Feld abermals den Populisten und Isolationisten zu überlassen. Stattdessen sollte der Westen endlich anfangen, die Rechte, die er beansprucht, auch allen anderen zuzugestehen.
ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Versailles und das Jahr 1919: eine notwendige Erinnerung
Am 24. Juli 2008, einem Donnerstag, kam der Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Demokraten, Barack Obama, nach Berlin. Schlank und locker stand er auf einem Podest zu Füßen der Siegessäule und verkündete mit einer Coolness, die hiesigen Politikern heute noch fremd ist, das Programm zur Weltverbesserung, das er nach seinem Amtsantritt umsetzen würde. Die Netzwerke des Terrors würden zerschlagen, die nuklearen Arsenale der Großmächte abgebaut werden. Afghanistan und der Irak würden sich mit Unterstützung von Nato-Truppen zu Demokratien weiterentwickeln. Die Nationen der Welt würden dem Beispiel Deutschlands folgen und ihre Emissionen von Treibhausgas auf ein tragbares Maß reduzieren. Kooperation und Partnerschaft würden alte Feindschaften ersetzen. Und bei all diesen Aufgaben könne sich Amerika keinen besseren Freund als Europa vorstellen, die Europäische Union.
Inzwischen ist es gut zehn Jahre her, seit die zweihunderttausend Zuhörer im Berliner Tiergarten Obama bejubelten und "Yes, we can!" skandierten. Vor zwei Jahren hat Obama sein Präsidentenamt an Donald Trump übergeben. Von seinen politischen Plänen ist nichts geblieben: In Afghanistan stehen immer noch Nato-Truppen, die Taliban sind auf dem Vormarsch, der Irak hat den Angriff des "Islamischen Staats" abgewehrt, ohne der Demokratie näher zu kommen, die nuklearen Arsenale sind durch die Aufrüstung Chinas und Nordkoreas größer als zuvor, die Treibhausgasemissionen steigen stärker denn je. Unterdessen ist der Arabische Frühling gescheitert und hat Libyen als failed state hinterlassen, in Syrien kämpfen Russland, die Türkei, Saudi-Arabien und Iran um ihre Einflusszone im östlichen Mittelmeer, und aus Afrika und Südamerika drängen ständig neue Flüchtlingswellen in die Länder des Nordens. Vor vierzehn Tagen hat der russische Präsident Putin eine neue Interkontinentalrakete getestet, die mit zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit fliegt. Und Donald Trump hat nach dem knapp vermiedenen Eklat im Zollstreit mit der Europäischen Union einen Handelskrieg mit China begonnen, der die Weltwirtschaft an den Rand einer Rezession bringen dürfte.
An all das musste ich denken, als ich Jörn Leonhards Buch über den "überforderten Frieden" las ("Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923". C. H. Beck, 1531 Seiten, 39,95 Euro).
Damals, im Frühjahr 1919, ging es um die Neuordnung der Kontinente nach dem Ersten Weltkrieg. An erster Stelle stand natürlich Europa, aber durch den Kriegseintritt Japans und Amerikas auf Seiten der Westmächte, durch die Kämpfe in den deutschen Kolonien, die Kontingente britischer und französischer Kolonialtruppen an den europäischen Fronten und die Folgen der russischen Revolution war letztlich die ganze Welt Gegenstand der Verhandlungen. Aus Vietnam war Nguyen Ai Quoc, der sich später Ho Tschi Minh nannte, als Beobachter angereist, aus Arabien nahm Scheich Faisal mit seinem Freund T. E. Lawrence an der Konferenz teil, und in seinem Ashram in Indien verfolgte Mahatma Gandhi aufmerksam deren Fortgang.
Die Erwartungen der Siegermächte England und Frankreich und ihrer Verbündeten waren, wie Leonhard zeigt, auf Rache an ihren Kriegsgegnern Deutschland und Österreich-Ungarn und Entschädigung für ihre Verluste an Menschen und Gütern gerichtet. Die Hoffnungen der gesamten übrigen Welt aber, einschließlich der kriegsentscheidenden Großmacht Amerika, galten der Umsetzung jener "Vierzehn Punkte", die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 als Vorbedingung für Friedensgespräche verkündet hatte. Zu ihnen gehörten die Freiheit der Meere, das Ende der Geheimdiplomatie, die Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaats und des Osmanischen Reiches, der Abbau von Handelsschranken und allgemeine Abrüstung. Am wichtigsten und folgenreichsten aber war ein Begriff, der in Wilsons Punkteliste nur verklausuliert ("autonome Entwicklung", "Selbständigkeit") auftaucht, von ihm selbst jedoch in zahllosen Reden beschworen wurde: das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Dieses Recht, das heute als Axiom in der Charta der Vereinten Nationen steht, besagt nichts anderes, als dass jede Gemeinschaft, die sich durch Sprache, Herkunft und kulturelle Traditionen von anderen Gemeinschaften unterscheidet, zu politischer Eigenständigkeit ermächtigt ist. In der Welt von 1919, in der ganz Afrika und halb Asien aus Kolonialgebieten unter europäischer oder amerikanischer Herrschaft bestanden, war das ein revolutionärer Gedanke. Wie man sich denken kann, wurde er in Versailles auch nicht annähernd umgesetzt. Aber die Art, wie seine Umsetzung an den politischen Realitäten scheiterte, prägt die Geschichte unseres Planeten bis heute, bis hin zu Obama und Trump, zu Putin und Erdogan.
Zuerst bekamen die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich-Ungarn den Widerspruch zwischen Ideal und Machtinteresse zu spüren. Anders als bis dahin üblich, saßen sie nicht mit am Konferenztisch, sondern wurden nur zur Übergabe der Vertragsbedingungen einbestellt, die sie nach kurzer Frist unter Androhung militärischer Zwangsmittel annehmen mussten. Die junge deutsche Republik verlor Elsass-Lothringen, Nordschleswig und Westpreußen, aber auch das Memelland um Tilsit (1923 an Litauen) und das mehrheitlich deutschsprachige Danzig (das vom Völkerbund verwaltet wurde). Das Rheinland kam bis 1930 unter alliierte, das Saarland bis 1936 unter französische Verwaltung. Die von Polen beanspruchten Teile Ostpreußens blieben nach Volksabstimmungen bei Deutschland, während das südliche oberschlesische Industrierevier trotz deutscher Abstimmungsmehrheit an Polen ging. Österreich musste Südtirol an Italien abtreten, dem es 1915 als Belohnung für seinen Kriegseintritt versprochen worden war, und Ungarn verlor zwei Drittel seines früheren Territoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung an Rumänien, die Tschechoslowakei und das neu entstandene Jugoslawien. Überall in Ost- und Mitteleuropa bildeten sich nationale Minderheiten, die sich auf jenes Selbstbestimmungsrecht berufen konnten, das ihnen in Versailles gerade verweigert worden war.
Als Nächstes kamen die Araber dran. Der Nationalstaat unter Faisals Führung, den England den Herrschern von Mekka für ihren Einsatz im Krieg gegen die Osmanen versprochen hatte, war schon mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hinfällig geworden. In Versailles schrieben Briten und Franzosen ihre Einflusszonen fest, Letztere sicherten sich Syrien und den Libanon, Erstere Jordanien, Palästina und den heutigen Irak. Faisal, der sich vergeblich in Damaskus zu halten versuchte, wurde 1920 als Puppenkönig in dem aus sunnitischen, schiitischen und kurdischen Gebieten zusammengeklebten irakischen Kunststaat eingesetzt, während der Süden der arabischen Halbinsel unter die Herrschaft der wahhabitischen Dynastie von Ibn Saud geriet, dem Gründer von Saudi-Arabien.
Blieben die Kolonien. In Wilsons "Vierzehn Punkten" hieß es ominös, ein "Ausgleich aller kolonialen Ansprüche" müsse erzielt werden, bei dem "die Interessen der betreffenden Bevölkerungen" ebenso ins Gewicht fielen wie die Interessen jener Regierung, "deren Rechtstitel zu entscheiden ist". Die Inder und Afrikaner, die in französischen und britischen Uniformen in Flandern und bei Gallipoli gekämpft hatten, verstanden dass so, dass ihre Länder von ihren Besatzern stufenweise in die Unabhängigkeit entlassen würden. Aber Wilson, ein weißer Suprematist und Verehrer des Ku-Klux-Clans, und die Führer der europäischen Kolonialmächte dachten gar nicht daran, die "betreffenden Bevölkerungen" nach ihrem Willen zu fragen. Die ehemaligen deutschen Kolonien wurden unter britische und französische Verwaltung gestellt, die Kolonialsoldaten entlassen, ansonsten ging alles so weiter wie bisher. Nguyen Ai Quoc alias Onkel Ho zog daraus seine persönliche Konsequenz: Er ging nach Moskau und wurde Kommunist.
Jörn Leonhard, der das Ringen um den Versailler Vertrag, dessen Nebenverträge, deren Ratifizierung und Umsetzung auf gut zwölfhundert Textseiten in allen Einzelheiten schildert, gibt sich Mühe, den Realpolitiker Wilson gegen seine idealpolitischen Verehrer in Schutz zu nehmen: Die "Vierzehn Punkte" seien vor allem als Statement gegen die Gewaltdiplomatie des Deutschen Reiches bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk entstanden, man dürfe ihnen nicht "jenen Grad an Eindeutigkeit" unterstellen, der nach Kriegsende in sie hineingelesen wurde. Aber das bedeutet, mit der Geschichte gegen die Geschichte zu argumentieren. Auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde an einem bestimmten Punkt in der Französischen Revolution verkündet, und dennoch hat sie ihre Gültigkeit behalten. Wilsons Idee der Selbstbestimmung der Völker wirkte über das Trauerspiel von Versailles hinaus fort, weil sie ein elementares Rechtsempfinden auf die Ebene der Staaten und ihrer Beziehungen untereinander übertrug - auch wenn im Konfliktfall immer neu geklärt werden muss, was ein "Volk" ausmacht und wie viele Grade der Selbstregierung möglich sind. Es bedurfte eines weiteren Weltkriegs, um die Kolonialmächte Europas zu der Einsicht zu zwingen, dass auch Kenianer und Inder das Recht auf Selbstbestimmung haben, und weitere vierzig Jahre Kalter Krieg, um dieses Recht auch im sowjetischen Imperium durchzusetzen.
Womit wir wieder bei der Gegenwart wären, bei Trump und Putin und Erdogan und bei dem Gefühl der Leere, das Obamas Präsidentschaft hinterlassen hat. Jede Epoche hat ihren utopischen Augenblick, und seit Europa im Kolonialismus seinen weltanschaulichen Kredit verspielt hat, ist er jedes Mal mit Amerika verbunden. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Wahl Kennedys, und in der Periode nach dem Ende des Kalten Krieges kam dieser Moment mit der "Yes, we can"-Kampagne Obamas, weil sie das Versprechen des Westens - Demokratie, Gleichberechtigung, Wohlstand für alle - noch einmal in einer Formel und einer Person zusammenzog. In Berlin, im Juli 2008, schien der Aufbruch in ein globales Friedenszeitalter zum Greifen nahe. Drei Jahre später war er verpufft. Damals entstand das Foto, das in der kollektiven Erinnerung von Obama bleiben wird. Es zeigt den Präsidenten, wie er im Situation Room des Weißen Hauses mit ernster Miene bei der Tötung Usama bin Ladins zusieht. Diese Exekution ist neben der Healthcare-Reform das greifbarste Ergebnis von Obamas Amtszeit. Der Böse ist tot, die Bösen sind geblieben, und Al Qaida lebt jetzt unter vielen Namen.
Auch Woodrow Wilson hatte seinen Moment der Utopie, als er vor gut hundert Jahren an Bord der "George Washington" unter dem Jubel der Menge in Brest anlegte, und dann bei seinen triumphalen Auftritten in Paris, London und Rom. Als er ein halbes Jahr später nach Amerika zurückkehrte, war er ein gebrochener Mann. Sein Friedenswerk war gescheitert, in den Ländern der Kriegsverlierer tobten Bürgerkriege, Polen und Russland holten zum Schlag gegeneinander aus, und in Kleinasien kämpften Türken und Griechen um die Konkursmasse des Osmanischen Reichs. Schon in Versailles war Wilson schwer erkrankt, im Oktober erlitt er einen Schlaganfall, den Rest seiner Präsidentschaft verbrachte er meist im Rollstuhl oder im Bett. Im November lehnte der Senat mit seiner republikanischen Mehrheit den Versailler Vertrag ab. Der Völkerbund, Wilsons großes Projekt, blieb ein Torso, weil die Vereinigten Staaten ihm nicht beitraten.
Ein Jahr nach dem Ende der Friedenskonferenz konstatiert der Ökonom John Maynard Keynes, der als Mitglied der britischen Delegation in Versailles dabei gewesen und aus Protest gegen die harten Vertragsbedingungen für Deutschland vorzeitig abgereist war, eine akute "Universalismusmüdigkeit" in Europa. Noch niemals im Leben des heutigen Menschen, so Keynes, habe "das Gefühl der Weltzusammengehörigkeit in seiner Seele so trübe gebrannt". Während Telegrafenkabel und Radiowellen die entferntesten Ecken der Erde miteinander verbanden, erlosch in den Industriegesellschaften der Sinn für Globalität. Das nationale Interesse und der Kampf gegen den Bolschewismus traten in den Vordergrund, die Zeit der starken Männer begann: Horthy in Ungarn, Mussolini in Italien, Pilsudski in Polen, Franco in Spanien, Hitler in Deutschland. Die Weimarer Republik, dem schlechten Ruf zum Trotz, der ihr heute anhaftet, hatte unter den jungen Demokratien fast am längsten durchgehalten. Als die Nazis sie 1933 liquidierten, waren die Reparationen, die ihr ökonomisch die Luft abgedrückt hatten, seit einem Jahr gestrichen. Aber die Kredite, mit denen sie ihre Zahlungen an die Alliierten finanziert hatte, wurden erst im wiedervereinigten Deutschland endgültig getilgt. Die letzte Rate in Höhe von 56 Millionen Euro überwies die Bundesrepublik am 3. Oktober 2010. So lang fiel der Schatten von Versailles.
Universalismusmüdigkeit: Das ist vielleicht nicht das allererste Schlagwort, das einem zum Vormarsch der neuen Rechten, zum Brexit und zur Flüchtlingskrise, zu Trump, Orbán und Konsorten einfällt. Aber es beschreibt ziemlich treffend jenes Grundgefühl der Enttäuschung, das die Gegenwart mit der Welt nach Versailles verbindet. Damals hatten die siegreichen Westmächte "die größte moralische Möglichkeit der Geschichte", wie Stefan Zweig rückblickend schrieb: die Chance, die Welt vernünftig zu ordnen. Sie haben sie nicht genutzt. Insofern war nicht der Große Krieg, sondern Versailles die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, der Anfang von allem, was heute noch auf der Agenda der Weltpolitik steht. Das ist kein Grund, das Feld abermals den Populisten und Isolationisten zu überlassen. Stattdessen sollte der Westen endlich anfangen, die Rechte, die er beansprucht, auch allen anderen zuzugestehen.
ANDREAS KILB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sein Buch über Versailles und die Folgen ist das ganz große Geschichtswerk, das beim Verständnis der Gegenwart hilft (...) Gedanklich schwankt man ständig zwischen den Jahren 1918 bis 1923, die Leonhard behandelt, und der Zeit heute. Weil das so spannend und lehrreich ist: Leonhard lesen."
SPIEGEL, Dirk Kurbjuweit
"Wo immer man es aufschlägt, lässt sich etwas lernen."
Historische Zeitschrift, Marcus M. Payk
"Das eindringliche Plädoyer für die Offenheit von Geschichte gerade im multipolaren Zusammenhang wendet sich streng gegen jede monokausale, national verengte Geschichtsklitterung im Nachhinein und damit unausgesprochen gegen eine politische Instrumentalisierung von Geschichte überhaupt. Das ist die Essenz dieses Spitzenwerks deutscher Globalgeschichtsschreibung."
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Himmelreich
"Niemand erzählt und analysiert (...) detaillierter und klüger als Jörn Leonhard (...) Ein Meilenstein für Checker und Mehr-checken-Woller."
Sächsische Zeitung, Oliver Reinhard
"Leonhard schreibt einen klaren, gut lesbaren Stil, verzichtet auf alle Effekthascherei, überzeugt durch seinen multiperspektivischen Ansatz und differenzierte Analyse. Der Blick auf unsere Welt und ihre Geschichte im 20. Jahrhundert ist nach der Lektüre ein anderer."
Buchbesprechungstage des Börsenvereins, Wolfgang Niess
"Es gibt Standardwerke, um die man gut herumkommt. Um dieses nicht."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Andreas Kilb
"In dieses Zeitreise-Buch kann man sich versenken (...) Ein Standartwerk."
Die Literarische WELT, Marc Reichwein
"Anschaulich und perspektivenreich (...) In seinem großen, Maßstäbe setzenden Buch 'Der überforderte Frieden' erzählt Jörn Leonhard eine Globalgeschichte dieser Zeitenwende."
Süddeutsche Zeitung, Jens Bisky
"Wer Leonhards monumentales Buch liest, sieht schärfer, in welcher Welt wir zu leben haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stephan Speicher
SPIEGEL, Dirk Kurbjuweit
"Wo immer man es aufschlägt, lässt sich etwas lernen."
Historische Zeitschrift, Marcus M. Payk
"Das eindringliche Plädoyer für die Offenheit von Geschichte gerade im multipolaren Zusammenhang wendet sich streng gegen jede monokausale, national verengte Geschichtsklitterung im Nachhinein und damit unausgesprochen gegen eine politische Instrumentalisierung von Geschichte überhaupt. Das ist die Essenz dieses Spitzenwerks deutscher Globalgeschichtsschreibung."
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Himmelreich
"Niemand erzählt und analysiert (...) detaillierter und klüger als Jörn Leonhard (...) Ein Meilenstein für Checker und Mehr-checken-Woller."
Sächsische Zeitung, Oliver Reinhard
"Leonhard schreibt einen klaren, gut lesbaren Stil, verzichtet auf alle Effekthascherei, überzeugt durch seinen multiperspektivischen Ansatz und differenzierte Analyse. Der Blick auf unsere Welt und ihre Geschichte im 20. Jahrhundert ist nach der Lektüre ein anderer."
Buchbesprechungstage des Börsenvereins, Wolfgang Niess
"Es gibt Standardwerke, um die man gut herumkommt. Um dieses nicht."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Andreas Kilb
"In dieses Zeitreise-Buch kann man sich versenken (...) Ein Standartwerk."
Die Literarische WELT, Marc Reichwein
"Anschaulich und perspektivenreich (...) In seinem großen, Maßstäbe setzenden Buch 'Der überforderte Frieden' erzählt Jörn Leonhard eine Globalgeschichte dieser Zeitenwende."
Süddeutsche Zeitung, Jens Bisky
"Wer Leonhards monumentales Buch liest, sieht schärfer, in welcher Welt wir zu leben haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stephan Speicher