65 Jahre in der Schublade - heute ein Bestseller
'Der Überläufer' ist Siegfried Lenz' zweiter Roman, geschrieben 1951. Obgleich vollendet und vom Autor mehrfach überarbeitet, blieb er bis 2016 unveröffentlicht. Zur Zeit seiner Entstehung wurde er vom Verlag aus politischen Gründen abgelehnt. Ein Überläufer zu den Sowjets als Romanheld war im Kalten Krieg nicht opportun. Eine großartige Entdeckung, ein beeindruckender Roman über den ewigen Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen.
'Der Überläufer' ist Siegfried Lenz' zweiter Roman, geschrieben 1951. Obgleich vollendet und vom Autor mehrfach überarbeitet, blieb er bis 2016 unveröffentlicht. Zur Zeit seiner Entstehung wurde er vom Verlag aus politischen Gründen abgelehnt. Ein Überläufer zu den Sowjets als Romanheld war im Kalten Krieg nicht opportun. Eine großartige Entdeckung, ein beeindruckender Roman über den ewigen Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen.
buecher-magazin.deIm letzten Kriegssommer will Walter Proska aus dem Heimaturlaub in Masuren zum Dienst an der Ostfront zurückkehren, doch eine Gruppe von Partisanen jagt seinen Zug in die Luft. Proska überlebt und wird einer Einheit zugeteilt, die die Bahnstrecke sichern soll. Stationiert mitten im Sumpf und kommandiert von einem unberechenbaren Offizier fristen die Männer dieser Einheit ihr Dasein. Während der eine einen riesigen Hecht im nahen Fluss bekämpft, ringt ein anderer mit seinem Gewissen: Was bedeutet es dieser Tage eigentlich, seine Pflicht zu erfüllen? Proska beginnt, mit ihm über Moral und Sinnhaftigkeit zu diskutieren. Auf nächtlichen Patrouillen fragen sie, wer wirklich Freund und wer Feind ist. Vom Sumpfkoller bis hin zu kafkaesken Zügen der Handlung im zweiten Teil - der Roman hat nicht die federleichte Tonalität und Gemütlichkeit wie etwa aus "So zärtlich war Suleyken" bekannt. Er bringt dem Leser Lenz' eigene Heimat aber ebenso nah und wird an mancher Stelle unerwartet lyrisch, etwa beim Kriechgang über die feuchte Sumpferde. Der zweite Roman von Siegfried Lenz blieb bis dato unveröffentlicht. Grund war, nach anfänglicher Begeisterung, die ablehnende Haltung des Lektors, als das Überläufer-Sujet in der Erzählung an Bedeutung gewann.
© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Judith von Sternburg entdeckt mit dem Überläufer eine ganz neue literarische Figur, die hätte Geschichte machen sollen, in Siegfried Lenz' erst jetzt aus dem Nachlass erscheinendem zweiten Roman. Was für ein Text wäre das 1951 gewesen!, meint sie. Und heute? Wirkt der Text auf die Rezensentin entschlossen und treffsicher in seiner Darstellung einer disparaten Zeit. Die große Rückblende zurück an die Ostfront im Zweiten Weltkrieg macht Sternburg mit, staunt über das Geschick und die Ökonomie, mit der Lenz seine Figuren skizziert, und schwankt zwischen Grauen und der Wirkung furchtbarer Komik. Mitreißend scheint ihr Lenz über Verwahrlosung und Schuld im Krieg zu erzählen, perspektivisch experimentierfreudig, stark, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2016Triumph im Schmerz
Ein Eichhörnchen, ein Milchbrötchen und der Krieg: Siegfried Lenz’ früher, bisher unbekannter Roman „Der Überläufer“
ist das reife Werk eines jungen Mannes. Nun erscheint das Buch, das damals vom Verlag verhindert wurde, aus dem Nachlass
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen Siegfried Lenz wurde ein Schatz geborgen: „Der Überläufer“ ist ein großartiges Buch und ein Zeugnis davon, wie junge deutsche Veteranen sich nach dem Zweiten Weltkrieg fühlten. Das Buch, Siegfried Lenz’ zweiter Roman, war 1951 vom Verlag abgelehnt worden, mit höchst dubiosen Begründungen, von denen noch die Rede sein wird. Der 26 Jahre alte Autor hat die Kränkung hingenommen, das Manuskript beiseite gelegt und es dann vergessen.
Walter Proska ist dieser Überläufer, ein junger Soldat, der 1944 in Schlesien im Feld liegt. Mit seiner kleinen Einheit befindet er sich im sommerlich-heißen, sumpfigen Nirgendwo. Seine Feinde sind bissige Fliegen und Partisanen. Zur Wehrmachtsdienststelle im nächsten Ort gibt es keinen Kontakt. Die Handvoll Soldaten fühlt sich allein gelassen. Jeder wird, seiner jeweiligen Natur gemäß, ein wenig irre.
Der Anführer der kleinen Soldatenschar ist ein Korporal namens Stehauf, der vor allem „Wehrmachtseigentum“ schützen will: Ordnung muss schon sein, auch im Sumpf, die endgültige Niederlage lauernd im Gebüsch. Als ein Soldat beerdigt wird, legt Proska sein Taschentuch auf das blutig-entstellte Gesicht. Stehauf kommentiert das unweigerlich mit der herrischen Frage: „Wehrmachtseigentum?“ Im Übrigen ist der Korporal eine durchaus unterhaltsame Figur: Lenz legte ihm abgedroschenen Landserhumor in den Mund, an den Zivilisten nicht gewöhnt sind: „Halten Sie Ihr Maul, sonst erkältet sich Ihr Darm“, „Denken Sie nur nicht zuviel.“ Zynisch-kaltschnäuzig redet der Korporal Stehauf in der verloren Sumpfhitze, wie es viel später in amerikanischen Vietnamkriegsfilmen zu sehen war. Stehauf fackelt nicht lange, für ihn sind alle Fremden, die sich aus dem Unterholz nähern, Partisanen, die erschossen gehören: Sollte einer zufällig nicht mit Sprengstoff munitioniert sein, war er nur zu blöd, ihn einzustecken.
An einem aus Oberschlesien stammenden Soldaten hat Lenz ein für fremde Ohren poetisch-komisches, weil mundartliches Deutsch erprobt, das er wenige Jahre später in seinen Kurzgeschichten „So zärtlich war Suleyken“ vervollkommnete: Angesichts des Toten mit dem zerschossenen Gesicht, dessen Tod der Mann nicht wahrhaben will, sagt er hilflos: „Er hat auf Ehrenwort gestöhnt.“ Auch dieser grundgute Oberschlesier hat sich längst in einen ganz anderen Kampf geflüchtet: in einen ehrenhaften Zweikampf. Wie sein Urheber ist dieser Soldat ein leidenschaftlicher Angler. Einem alten, erfahrenen Hecht ist er auf der Spur – vergebens, so wie eigentlich alle Unterfangen der Mannschaft in dem Unterstand, den sie „Festung Waldeslust“ getauft haben, ins Leere gehen. Einer sieht Momente lang das Hauptziel seines Kriegseinsatzes darin, eine Ratte zu erschießen. Das immerhin gelingt. Bevor Proska zu diesem Haufen stößt, macht er die Erfahrung seines Lebens: Er sitzt in der Eisenbahn zusammen mit einer Polin. „Seine Knie waren wenige Zentimeter von den ihren entfernt“.
So leitet Lenz die Liebesgeschichte ein, die allerdings nicht gut anfängt, weil die liebreizende Wanda, von ihm Eichhörnchen genannt, in der Urne, die vorgeblich die Asche ihres Bruders enthält, Sprengstoff versteckt hat. Dass Proska später – der Zufall ist der Feind dieser Liebenden – einen nahen Verwandten von Eichhörnchen erschießt, verbessert seine Chancen bei ihr nicht. Proska muss einsehen: „Jede Entscheidung schickt ihre Rechnung.“
Siegfried Lenz’ Sprache ist an Hemingway geschult, dem Meister männlicher Lakonik, der jungen Autoren half, das verlogene, megalomane Kitsch-Geraune der NS-Zeit zu überwinden. Lenz vereinte Hemingways unsentimentale Prägnanz mit dem damals in Westdeutschland modischen Hang zur ausschweifenden Aufladung der Natur mit Empfindsamkeit. Viele deutsche Nachkriegsautoren fanden zur Romantik. Der Dichter Peter Rühmkorf hat sich seinerzeit in einem schmissigen Aufsatz darüber mokiert, wie oft das Blau von des Dichters Novalis phantasmagorischer „blauer Blume“ in Gedichten der Fünfzigerjahre auftaucht. Nein, gar so simpel hielt die Romantik bei Siegfried Lenz nicht Einzug. Was seinen Figuren an Selbstbewusstsein fehlt, verlagerte er in die Natur.
Die existentielle Ungewissheit der Soldaten in der Festung „Waldeslust“ macht die Natur zur Akteurin. Da blicken, auf der Bahnreise, einige alte Fichten „gleichmütig“ ins Abteilfenster hinein. Die Dämmerung „benimmt sich sehr ängstlich“. „Der Mond ist neugierig.“ Von „zuversichtlichen Haselnussgerten“ ist die Rede und vom „zähen eigenbrötlerischen Gestrüpp von wilden Brombeerranken“. Alle Freunde von Haselnusssträuchern und wilden Brombeeren wissen, dass diese sich nicht nur bei einer nahenden totalen Kriegsniederlage so benehmen. Es liegt im Auge der Beschauer, ob es ihnen auffällt.
Besonders eng ist Walter Proska mit einem jungen Soldaten, der mehr über Tod und Trost, Pflicht und Schuld herumphilosophiert, als ein gemäßigter Nachdenker wie Proska eigentlich ertragen könnte. Der Soldat wird Milchbrötchen genannt. Denn er hat einen bleichen Teint – offenbar sinniert er wirklich zu viel; und offenbar war der junge Autor Lenz nicht ganz immun gegenüber stereotypen Darstellungen. Angesichts der Vielzahl der Figuren in dem Roman, die so gewöhnliche Vornahmen tragen, dass man sie sich kaum merken kann, hat der Spitzname erfreulichen Wiedererkennungswert. Milchbrötchen bringt vieles mit rhetorischer Überlast auf den Punkt, was Proska empfindet: „Ich würde mich für keinen Winkel oder Weg abknallen lassen wie mein Vater. Er nämlich sprach von ,Pflicht‘, vom ,Bereitsein‘, und wie dieses rhetorische Sickergift sonst noch heißt.“ Dann macht Milchbrötchen eine Bemerkung, die 1989 in der DDR sinngemäß wieder aufkam: „Verstehst du, Walter: wir sind auch Deutschland und nicht nur die andern, und es wäre doch eine komplette Idiotie, wenn wir uns, die wir Deutschland sind, für Deutschland, also für uns selbst, opferten.“
Der stetigen Beschallung mit politisch-existentialistischen Bedenken entkommt Proska, indem er einen Entschluss fasst: zu den Partisanen überlaufen, und sei es zu den Sowjets, Schluss machen mit der „Klicke“, als welche er Hitler und seine Kamarilla nun bezeichnet. Das Partisanenleben aber, es ist „ebenso grau, um nichts besser“. Oder eben doch besser: Die Verwundeten, denen er begegnet, „triumphierten im Schmerz“. Anders als die Deutschen wähnen sie zu wissen, wofür sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Ohne zu ahnen, was Proska dann erleben muss: wie die Träume von Freiheit in der sowjetischen Einflusszone bald nach dem Krieg zunichte werden.
Aus eigener Erfahrung wusste Siegfried Lenz, was Proska durchmacht, was ihn zum Desertieren treibt: Er selbst war, eingezogen zur Kriegsmarine, eigentlich ein standhafter deutscher Soldat. Erst 1944, berichtet sein Biograf Erich Maletzke, kamen dem etwa Achtzehnjährigen Zweifel – ungefähr zur selben Zeit wie seinem Protagonisten Proska. Kurz vor Kriegsende desertierte Lenz. Von britischen Truppen wurde er in Norddeutschland für kurze Zeit in Gewahrsam genommen.
Der Existenzialismus, die Beschäftigung mit dem prekären Ich, war auch eine Reaktion auf das soldatische „Wir“ der Kriegszeit. Das „Wir“ hatte Lenz spätestens seit 1944 hinter sich, das werte Ich nahm er nicht zu wichtig. Schon in „Der Überläufer“ zeigt sich, was er später „Selbstversetzung“ nannte, sich einzufühlen in die Figuren seiner Geschichten. Aber Lenz’ Wahrhaftigkeit schmeckte 1951 den Sachwaltern des Verlages nicht, der immerhin sein Erstlingswerk „Es waren Habichte in der Luft“ gedruckt hatte. Sie ließen das Manuskript durchfallen.
Die Briefe, die Lenz damals vom Verlag Hoffmann und Campe erhielt, sind erschreckend. Zunächst wurde „nur das Technische, das Handwerkliche“ beklagt. Im zweiten Brief ging es dann zur Sache: die „pazifistischen, defaitistischen Gedankengänge“ schienen dem Lektor untragbar, das „Odium der handgreiflichen Treulosigkeit gegen die Heimat“. Der Lektor hielt es „für äusserst gefährlich, den Roman im bisherigen Zustande zu publizieren. Er würde, was seine Gesinnung betrifft, scharf unter die Lupe genommen werden“. Diese Worte verraten einen Mann, der sich von der Diktion der NS-Volksgemeinschaft offenbar noch nicht gelöst hatte. Lenzens inkriminierter Pazifismus, man kann auch sagen: seine Friedfertigkeit, kam dem Verlag dann allerdings zugute: Der Autor legte das Manuskript ad acta; neue Lektoren kamen; und Lenz blieb sein Leben lang Autor von Hoffmann und Campe.
So wird dieser in beispielhaft schönem Deutsch verfasste Roman, das reife Werk eines jungen Mannes, erst jetzt publiziert. Es ist anständig vom Verlag, aus der üblen Vorgeschichte kein Hehl zu machen.
Siegfried Lenz: Der Überläufer. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 368 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Verstehst du, Walter:
wir sind auch Deutschland,
und es wäre doch eine
komplette Idiotie, wenn wir
uns, die wir Deutschland sind,
für Deutschland, also für uns
selbst, opferten.“
Aus: „Der Überläufer“
Lenz an seinen Lektor
Der damalige Verlagsleiter des Verlags Hoffmann und Campe, Rudolf Soelter, und der hinzugezogene Germanist und Volkskundler Otto Görner, waren 1952 mit der von Görner angeregten Überarbeitung des Manuskripts immer noch nicht zufrieden. Dass andere Menschen anders urteilen als er: das wusste Lenz. Ihn kränkte freilich die Anschuldigung, er habe bei ersten Treffen „die Atmosphäre kameradschaftlichen Verstehens“ ausgenutzt und den Verlag „ein bisschen hereingelegt“. Der Roman, schrieb Görner, „hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein“. Mit diesem Buch würde Lenz „sich masslos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht“.
Diese beleidigenden Zeilen haben Lenz aufgebracht, davon zeugen seine Anstreichungen in dem Brief. Und wie reagierte er? Mit Wahrhaftigkeit, mit kaltschnäuziger ironischer Einsicht. Das Selbstbewusstsein des Autors Lenz war ungebrochen, als er schrieb: Er habe eingesehen, „daß ich der Intuition beim Schreiben selbst den ,Rücken kehren‘ muß; daß ich eine ständige Selbstkontrolle beim Schreiben brauche. . .“. Sein Antwortbrief zeigt, dass ihm die politischen Besorgnisse des Verlags egal waren und dass er zu seinem Roman stand, mit oder ohne Publikation. AUG
Der junge Autor
Siegfried Lenz, 1959.
Foto: akg-images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Eichhörnchen, ein Milchbrötchen und der Krieg: Siegfried Lenz’ früher, bisher unbekannter Roman „Der Überläufer“
ist das reife Werk eines jungen Mannes. Nun erscheint das Buch, das damals vom Verlag verhindert wurde, aus dem Nachlass
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen Siegfried Lenz wurde ein Schatz geborgen: „Der Überläufer“ ist ein großartiges Buch und ein Zeugnis davon, wie junge deutsche Veteranen sich nach dem Zweiten Weltkrieg fühlten. Das Buch, Siegfried Lenz’ zweiter Roman, war 1951 vom Verlag abgelehnt worden, mit höchst dubiosen Begründungen, von denen noch die Rede sein wird. Der 26 Jahre alte Autor hat die Kränkung hingenommen, das Manuskript beiseite gelegt und es dann vergessen.
Walter Proska ist dieser Überläufer, ein junger Soldat, der 1944 in Schlesien im Feld liegt. Mit seiner kleinen Einheit befindet er sich im sommerlich-heißen, sumpfigen Nirgendwo. Seine Feinde sind bissige Fliegen und Partisanen. Zur Wehrmachtsdienststelle im nächsten Ort gibt es keinen Kontakt. Die Handvoll Soldaten fühlt sich allein gelassen. Jeder wird, seiner jeweiligen Natur gemäß, ein wenig irre.
Der Anführer der kleinen Soldatenschar ist ein Korporal namens Stehauf, der vor allem „Wehrmachtseigentum“ schützen will: Ordnung muss schon sein, auch im Sumpf, die endgültige Niederlage lauernd im Gebüsch. Als ein Soldat beerdigt wird, legt Proska sein Taschentuch auf das blutig-entstellte Gesicht. Stehauf kommentiert das unweigerlich mit der herrischen Frage: „Wehrmachtseigentum?“ Im Übrigen ist der Korporal eine durchaus unterhaltsame Figur: Lenz legte ihm abgedroschenen Landserhumor in den Mund, an den Zivilisten nicht gewöhnt sind: „Halten Sie Ihr Maul, sonst erkältet sich Ihr Darm“, „Denken Sie nur nicht zuviel.“ Zynisch-kaltschnäuzig redet der Korporal Stehauf in der verloren Sumpfhitze, wie es viel später in amerikanischen Vietnamkriegsfilmen zu sehen war. Stehauf fackelt nicht lange, für ihn sind alle Fremden, die sich aus dem Unterholz nähern, Partisanen, die erschossen gehören: Sollte einer zufällig nicht mit Sprengstoff munitioniert sein, war er nur zu blöd, ihn einzustecken.
An einem aus Oberschlesien stammenden Soldaten hat Lenz ein für fremde Ohren poetisch-komisches, weil mundartliches Deutsch erprobt, das er wenige Jahre später in seinen Kurzgeschichten „So zärtlich war Suleyken“ vervollkommnete: Angesichts des Toten mit dem zerschossenen Gesicht, dessen Tod der Mann nicht wahrhaben will, sagt er hilflos: „Er hat auf Ehrenwort gestöhnt.“ Auch dieser grundgute Oberschlesier hat sich längst in einen ganz anderen Kampf geflüchtet: in einen ehrenhaften Zweikampf. Wie sein Urheber ist dieser Soldat ein leidenschaftlicher Angler. Einem alten, erfahrenen Hecht ist er auf der Spur – vergebens, so wie eigentlich alle Unterfangen der Mannschaft in dem Unterstand, den sie „Festung Waldeslust“ getauft haben, ins Leere gehen. Einer sieht Momente lang das Hauptziel seines Kriegseinsatzes darin, eine Ratte zu erschießen. Das immerhin gelingt. Bevor Proska zu diesem Haufen stößt, macht er die Erfahrung seines Lebens: Er sitzt in der Eisenbahn zusammen mit einer Polin. „Seine Knie waren wenige Zentimeter von den ihren entfernt“.
So leitet Lenz die Liebesgeschichte ein, die allerdings nicht gut anfängt, weil die liebreizende Wanda, von ihm Eichhörnchen genannt, in der Urne, die vorgeblich die Asche ihres Bruders enthält, Sprengstoff versteckt hat. Dass Proska später – der Zufall ist der Feind dieser Liebenden – einen nahen Verwandten von Eichhörnchen erschießt, verbessert seine Chancen bei ihr nicht. Proska muss einsehen: „Jede Entscheidung schickt ihre Rechnung.“
Siegfried Lenz’ Sprache ist an Hemingway geschult, dem Meister männlicher Lakonik, der jungen Autoren half, das verlogene, megalomane Kitsch-Geraune der NS-Zeit zu überwinden. Lenz vereinte Hemingways unsentimentale Prägnanz mit dem damals in Westdeutschland modischen Hang zur ausschweifenden Aufladung der Natur mit Empfindsamkeit. Viele deutsche Nachkriegsautoren fanden zur Romantik. Der Dichter Peter Rühmkorf hat sich seinerzeit in einem schmissigen Aufsatz darüber mokiert, wie oft das Blau von des Dichters Novalis phantasmagorischer „blauer Blume“ in Gedichten der Fünfzigerjahre auftaucht. Nein, gar so simpel hielt die Romantik bei Siegfried Lenz nicht Einzug. Was seinen Figuren an Selbstbewusstsein fehlt, verlagerte er in die Natur.
Die existentielle Ungewissheit der Soldaten in der Festung „Waldeslust“ macht die Natur zur Akteurin. Da blicken, auf der Bahnreise, einige alte Fichten „gleichmütig“ ins Abteilfenster hinein. Die Dämmerung „benimmt sich sehr ängstlich“. „Der Mond ist neugierig.“ Von „zuversichtlichen Haselnussgerten“ ist die Rede und vom „zähen eigenbrötlerischen Gestrüpp von wilden Brombeerranken“. Alle Freunde von Haselnusssträuchern und wilden Brombeeren wissen, dass diese sich nicht nur bei einer nahenden totalen Kriegsniederlage so benehmen. Es liegt im Auge der Beschauer, ob es ihnen auffällt.
Besonders eng ist Walter Proska mit einem jungen Soldaten, der mehr über Tod und Trost, Pflicht und Schuld herumphilosophiert, als ein gemäßigter Nachdenker wie Proska eigentlich ertragen könnte. Der Soldat wird Milchbrötchen genannt. Denn er hat einen bleichen Teint – offenbar sinniert er wirklich zu viel; und offenbar war der junge Autor Lenz nicht ganz immun gegenüber stereotypen Darstellungen. Angesichts der Vielzahl der Figuren in dem Roman, die so gewöhnliche Vornahmen tragen, dass man sie sich kaum merken kann, hat der Spitzname erfreulichen Wiedererkennungswert. Milchbrötchen bringt vieles mit rhetorischer Überlast auf den Punkt, was Proska empfindet: „Ich würde mich für keinen Winkel oder Weg abknallen lassen wie mein Vater. Er nämlich sprach von ,Pflicht‘, vom ,Bereitsein‘, und wie dieses rhetorische Sickergift sonst noch heißt.“ Dann macht Milchbrötchen eine Bemerkung, die 1989 in der DDR sinngemäß wieder aufkam: „Verstehst du, Walter: wir sind auch Deutschland und nicht nur die andern, und es wäre doch eine komplette Idiotie, wenn wir uns, die wir Deutschland sind, für Deutschland, also für uns selbst, opferten.“
Der stetigen Beschallung mit politisch-existentialistischen Bedenken entkommt Proska, indem er einen Entschluss fasst: zu den Partisanen überlaufen, und sei es zu den Sowjets, Schluss machen mit der „Klicke“, als welche er Hitler und seine Kamarilla nun bezeichnet. Das Partisanenleben aber, es ist „ebenso grau, um nichts besser“. Oder eben doch besser: Die Verwundeten, denen er begegnet, „triumphierten im Schmerz“. Anders als die Deutschen wähnen sie zu wissen, wofür sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Ohne zu ahnen, was Proska dann erleben muss: wie die Träume von Freiheit in der sowjetischen Einflusszone bald nach dem Krieg zunichte werden.
Aus eigener Erfahrung wusste Siegfried Lenz, was Proska durchmacht, was ihn zum Desertieren treibt: Er selbst war, eingezogen zur Kriegsmarine, eigentlich ein standhafter deutscher Soldat. Erst 1944, berichtet sein Biograf Erich Maletzke, kamen dem etwa Achtzehnjährigen Zweifel – ungefähr zur selben Zeit wie seinem Protagonisten Proska. Kurz vor Kriegsende desertierte Lenz. Von britischen Truppen wurde er in Norddeutschland für kurze Zeit in Gewahrsam genommen.
Der Existenzialismus, die Beschäftigung mit dem prekären Ich, war auch eine Reaktion auf das soldatische „Wir“ der Kriegszeit. Das „Wir“ hatte Lenz spätestens seit 1944 hinter sich, das werte Ich nahm er nicht zu wichtig. Schon in „Der Überläufer“ zeigt sich, was er später „Selbstversetzung“ nannte, sich einzufühlen in die Figuren seiner Geschichten. Aber Lenz’ Wahrhaftigkeit schmeckte 1951 den Sachwaltern des Verlages nicht, der immerhin sein Erstlingswerk „Es waren Habichte in der Luft“ gedruckt hatte. Sie ließen das Manuskript durchfallen.
Die Briefe, die Lenz damals vom Verlag Hoffmann und Campe erhielt, sind erschreckend. Zunächst wurde „nur das Technische, das Handwerkliche“ beklagt. Im zweiten Brief ging es dann zur Sache: die „pazifistischen, defaitistischen Gedankengänge“ schienen dem Lektor untragbar, das „Odium der handgreiflichen Treulosigkeit gegen die Heimat“. Der Lektor hielt es „für äusserst gefährlich, den Roman im bisherigen Zustande zu publizieren. Er würde, was seine Gesinnung betrifft, scharf unter die Lupe genommen werden“. Diese Worte verraten einen Mann, der sich von der Diktion der NS-Volksgemeinschaft offenbar noch nicht gelöst hatte. Lenzens inkriminierter Pazifismus, man kann auch sagen: seine Friedfertigkeit, kam dem Verlag dann allerdings zugute: Der Autor legte das Manuskript ad acta; neue Lektoren kamen; und Lenz blieb sein Leben lang Autor von Hoffmann und Campe.
So wird dieser in beispielhaft schönem Deutsch verfasste Roman, das reife Werk eines jungen Mannes, erst jetzt publiziert. Es ist anständig vom Verlag, aus der üblen Vorgeschichte kein Hehl zu machen.
Siegfried Lenz: Der Überläufer. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 368 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Verstehst du, Walter:
wir sind auch Deutschland,
und es wäre doch eine
komplette Idiotie, wenn wir
uns, die wir Deutschland sind,
für Deutschland, also für uns
selbst, opferten.“
Aus: „Der Überläufer“
Lenz an seinen Lektor
Der damalige Verlagsleiter des Verlags Hoffmann und Campe, Rudolf Soelter, und der hinzugezogene Germanist und Volkskundler Otto Görner, waren 1952 mit der von Görner angeregten Überarbeitung des Manuskripts immer noch nicht zufrieden. Dass andere Menschen anders urteilen als er: das wusste Lenz. Ihn kränkte freilich die Anschuldigung, er habe bei ersten Treffen „die Atmosphäre kameradschaftlichen Verstehens“ ausgenutzt und den Verlag „ein bisschen hereingelegt“. Der Roman, schrieb Görner, „hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein“. Mit diesem Buch würde Lenz „sich masslos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht“.
Diese beleidigenden Zeilen haben Lenz aufgebracht, davon zeugen seine Anstreichungen in dem Brief. Und wie reagierte er? Mit Wahrhaftigkeit, mit kaltschnäuziger ironischer Einsicht. Das Selbstbewusstsein des Autors Lenz war ungebrochen, als er schrieb: Er habe eingesehen, „daß ich der Intuition beim Schreiben selbst den ,Rücken kehren‘ muß; daß ich eine ständige Selbstkontrolle beim Schreiben brauche. . .“. Sein Antwortbrief zeigt, dass ihm die politischen Besorgnisse des Verlags egal waren und dass er zu seinem Roman stand, mit oder ohne Publikation. AUG
Der junge Autor
Siegfried Lenz, 1959.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2016Das grausam-lächerliche Abenteuer
Erinnerungen, schwer wie Zuckersäcke: Im meisterlichen Roman "Der Überläufer" schildert Siegfried Lenz den Krieg an der Ostfront. Erst jetzt erscheint das 1952 geschriebene Buch aus dem Nachlass.
Der Lektor hat immer recht, schrieb augenzwinkernd einmal Stephen King, wohl wissend, dass ein erfolgreicher Autor die Kritik seines ersten Lesers nicht nur souverän ertragen, sondern auch schadlos abweisen kann. Zu Beginn einer literarischen Karriere aber ist das Verhältnis zwischen Autor und Lektor heikel. Dem Ideal zufolge stellt der Lektor seine Fähigkeiten selbstlos in den Dienst der Absicht des Autors, in Wahrheit hat er mit dem Verlagsvertrag im Rücken genügend Macht, bewusst oder unbewusst eigene ästhetische oder gar weltanschauliche Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Nicht selten führt das zu Konflikten, manchmal zum Desaster.
So im Fall des jungen Siegfried Lenz. Nach der positiven Resonanz auf seinen Erstling "Es waren Habichte in der Luft" hatte Lenz 1951 bei Hoffmann und Campe einen Vertrag über einen weiteren Roman unterzeichnet, der zunächst den Titel "Da gibt's ein Wiedersehen" trug. Bereits im November wurde das Buch in einer Sammelbesprechung von Texten über den Ostkrieg von Paul Hühnerfeld lobend erwähnt. Als Lektor wurde Lenz der promovierte Germanist Otto Görner zugewiesen. Auch der zeigte sich zunächst beeindruckt von der Geschichte, die "den Leser im Genick packt". Nach einem Gespräch im Verlag übersandte er Änderungsvorschläge, "das Technische und Handwerkliche" betreffend. Lenz ging sogleich an die Überarbeitung und legte das Manuskript im Januar 1952 abermals vor, nun mit dem Titel "Der Überläufer".
In einem Gutachten für den Verlag, dessen Inhalt Görner dem Schriftsteller in Briefform mitteilte, änderte der Lektor seine Bewertung grundlegend. In einem unangenehm autoritären Ton und gespickt mit Vorwürfen stellte er das Erscheinen des Romans in der vorliegenden Form grundsätzlich in Frage. Ein Roman mit diesem Titel "hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein . . . Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht." Entsprechend forderte er substantielle Änderungen beim Stoff und bei der Figurenkonstellation, die auf eine Entschärfung der Überläufer-Problematik hinausliefen. Schließlich wird dem jungen Autor in einer merkwürdig linkischen Formulierung gar gedroht: "Erwägen Sie nicht etwa eine wütende Geste zu machen und ein neues Buch schreiben zu wollen."
Der Verlag wusste vermutlich damals und weiß es offenbar bis heute nicht, dass Otto Görner eine ziemlich dubiose Figur war. Er hatte in Leipzig bei dem Nazi-Volkskundler André Jolles studiert, seine akademische Karriere war aber an der Habilitation gescheitert. Görner trat der SS bei und diente dem Regime unter anderem im Heimatwerk. Nach dem Krieg setzte er sich in den Westen ab und schlug sich mit freier Tätigkeit für Verlage durch.
Der Antwortbrief zeigt den jungen Siegfried Lenz schon als den feinen Menschen, als der er zeitlebens wahrgenommen wurde. Er bedankt sich für die Bemühungen, weist aber die Unterstellungen Görners wie auch dessen Vorschläge zur Umarbeitung in sachlichem Ton entschieden zurück. An der Figur seines Helden habe er bereits zu viel geändert. Jedoch bezeichnet er den Text dann selbst als missglückt und schließt: "Vielleicht werde ich Ihnen in zwei oder drei Jahren ein neues Manuskript zeigen dürfen, ein Manuskript, das besser und ein wenig reifer ist." Das geschah nicht, jedoch hat Lenz den Text der überarbeiteten Fassung zeitlebens aufbewahrt. Er fand sich in den Materialien, die der Schriftsteller kurz vor seinem Tod 2014 dem Literaturarchiv in Marbach übergeben hatte.
Den Titel "Der Überläufer" hätte Lenz sicherlich nicht gewählt, wenn er gewusst hätte, dass der Romancier und Naturlyriker Wilhelm Lehmann, den Lenz später kennenlernte, 1927 einen Roman gleichen Titels geschrieben hatte, der freilich nie einen Verlag fand und erst 1962 in der Lehmann-Gesamtausgabe erschien. Es gibt allerdings jenseits der Thematik des Überlaufens keine Berührungspunkte. Bei Lehmann erscheint der Erste Weltkrieg in der Perspektive des Helden als ultimative Versündigung an einer mythisch überhöhten Natur. Solcher poetischen Remythisierung stand Lenz auch im Hinblick auf Lehmanns Lyrik bei aller Wertschätzung sehr skeptisch gegenüber. Bei Lenz erscheint dagegen die Landschaft als Schauplatz und immanenter Projektionsraum des Menschlichen im Guten wie im Bösen. Natur ist nicht als objektivierte da, sondern wird je in bestimmter Stimmung und Situation von Individuen wahrgenommen.
In "Der Überläufer" werden die Kriegserlebnisse des Soldaten Walter Proska erzählt, der wie sein Autor aus dem masurischen Lyck stammt. Sie spielen im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs. Auf der Reise vom Heimaturlaub zurück zu seiner Einheit an der Ostfront fährt der Zug im weißrussisch-ukrainischen Grenzgebiet auf eine von Partisanen gelegte Mine. Proska schließt sich zwangsweise einem von einem versoffenen Unteroffizier kujonierten Häuflein von Wehrmachtssoldaten an, das die Zuglinie sichern sollte. Zermürbt von den Angriffen der Partisanen, von Mückenschwärmen und der Sinnlosigkeit ihrer Streifengänge durch das Sumpfgebiet bei sengender Hitze, sind sie dem Wahnsinn nahe und neigen zu Übersprunghandlungen. Der eine kämpft mit einem riesigen alten Hecht, ein anderer liebt es, Bäume zu umarmen, um sie zu brechen, ein dritter schließt Freundschaft mit einem Huhn.
Hier zeigt sich bereits Lenz' Meisterschaft in der Erzeugung einer dichten Atmosphäre wie in der Figurenzeichnung. Der Krieg reduziert sich auf den engen Bezirk des Lagers, der Erzähler beobachtet die Menschen wie im Glaskasten einer Versuchsanordnung. Jeder der Männer hat eine eigene Charakteristik und Redeweise bis hinein in die Nachbildung des Dialekts, und jeder reagiert auf eigene Weise auf die sinnlose Belastung. Manche Dialoge könnten auch in einem absurden Drama stehen, wie überhaupt ein Anflug von Existentialismus durch die Erzählung weht: "Dort ist die Brücke. Kannst du jemanden sehen? / Man sieht sie nie. / Wollen wir weitergehen? fragte Proska. / Und dann? / Vielleicht erwischen wir sie. / Oder sie uns. / Was sollen wir machen? / Warten. / Worauf denn? / Bis etwas geschieht. / Und was soll geschehen? / Das kann man nicht vorher sagen."
Auch den äußersten Schrecken schildert der junge Lenz mit einer eigenartigen souveränen Distanz zum Geschehen, die aber nichts mit der Kühle eines Ernst Jünger gemein hat, viel mehr mit einem Hauch von Humor, der den Menschen noch in der widerwärtigsten Bedrängnis ihre Würde belässt. Krieg, sagt Proskas Kamerad aus Oberschlesien, ist "immer komisch. Keiner weiß, ob Leben ist Glick oder Unglick. Einer sucht Kugel und findet sie nicht, und anderer sucht keine Kugel und kriegt sie gebrannt auf Pelz. Krieg ist Iberraschung."
Lenz entfaltet die Thematik von vornherein im Bewusstsein der Zeitgenossenschaft. In einer beinahe komödiantischen Rahmenerzählung geht es um Erinnerung und Vergessen, Aufklärung und Verdrängung der Schuld. Bei einem schwerhörigen alten Apotheker will Proska sich eine Briefmarke leihen, vorher aber muss er sich, ohne selbst zu Worte zu kommen, einen Monolog des Weltkriegsveteranen zum Nutzen und Schaden der Erinnerung anhören: "Erinnerungen taugen nicht viel. Sie sind schwer wie Zuckersäcke. Wer sie ewig mit sich herumschleppt, muß eines Tages in die Knie gehen." Ausgelöst durch eine momentane Sinneserfahrung tauchen aber für ihn, ähnlich wie bei Marcel Proust, "aus dem Nebel der Zeit die Bilder seiner Erinnerung herauf".
Überhaupt verfügt der junge Lenz über das ganze Arsenal der Stilmittel des modernen Romans. In einigen Passagen werden Ereignisse geschildert, bei denen der Held nicht dabei ist, auch meldet sich gelegentlich eine übergeordnete Erzählinstanz mit sarkastisch pathetischen Kommentaren zu Wort. Der häufige Gebrauch des inneren Monologs und des Selbstgesprächs in Momenten, in denen der Held auf sich zurückgeworfen ist, kontrastiert mit einer Sicht von außen, in der Proska auch direkt angesprochen wird oder sich in der Erinnerung als "Assistent seines Gewissens" selbst zum Gegenüber wird.
Proska wird im Gegensatz zu seinem Kameraden Wolfgang, genannt Milchbrötchen, nicht als Kriegsgegner geschildert. Er erscheint als ein fähiger Soldat, der es nicht auf das Töten abgesehen hat, es aber im Notfall pflichtgemäß und ohne große Skrupel vollzieht. Sein Überlaufen zum Feind wird dennoch nicht als dramatische Gewissensentscheidung geschildert. Es vollzieht sich wie unwillkürlich als Bejahung des Lebens. Proska hatte schon im Zug die polnische Partisanin Wanda kennengelernt, die dann immer wieder in seiner Nähe auftaucht. An einem ruhigen schönen Abend, an dem der Frieden der Landschaft den Krieg vergessen ließ, hatte er sie geschwängert und ihr die Zukunft versprochen. Vordergründig aber ergibt er sich den Partisanen, weil er im Kämpfen keinen Sinn mehr sieht.
Sein unbedachter Versuch der Fraternisierung wird zunächst schroff abgewiesen, er muss sich die Verachtung derer gefallen lassen, die zu allem entschlossen den Tod nicht fürchteten. "Sobald ihr besiegt seid, wollt ihr Brüder sein. Das kennen wir. Erst wenn ihr Gnade braucht, wenn euch das schmutzige Leben teuer wird, wenn ihr Angst bekommt, dann redet ihr von Brüderlichkeit. Solange ihr die Herren seid, sch . . . ihr auf Demut und Barmherzigkeit." Proska empfindet Scham, was ihn aber schließlich zum Überlaufen bewegt, bleibt eigenartig diffus. Es scheint nicht nur die für den nächsten Tag erwartete Erschießung zu sein, die ihn an der Seite des pazifistischen Kameraden die Seite wechseln lässt.
Der letzte Teil des Romans spielt in der Sowjetischen Besatzungszone. Die Beschreibung eines Büros, aus dem immer wieder Menschen verschwinden, erinnert an Kafka: "Er hatte nicht die Macht, das zu ändern, er wusste nicht einmal, wer für diese Veränderungen verantwortlich war, aber sie geschahen und folglich musste es jemanden geben, der sie verfügte." In wenigen Strichen entwirft Lenz die Atmosphäre der Überwachung bei der Formierung des totalitären Systems der DDR.
Im Nachhinein ist schwer zu begreifen, warum Siegfried Lenz diesen fesselnden Roman, der schon alle Facetten seiner erzählerischen Meisterschaft und der Bildkraft der Sprache aufweist, lebenslang liegen ließ. Allenfalls legt sein Antwortbrief an den Lektor nahe, dass es sich um einen Akt des schönen Trotzes gegen ein Hineinreden aus unlauteren Motiven gehandelt hat. Dass er nun doch noch erscheint, ist ein postumer Triumph eines Autors, der Aufklärung und poetische Intensität unvergleichlich zu verbinden wusste - und ein großes Glück für passionierte Leser.
FRIEDMAR APEL
Siegfried Lenz: "Der Überläufer". Roman.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 368 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungen, schwer wie Zuckersäcke: Im meisterlichen Roman "Der Überläufer" schildert Siegfried Lenz den Krieg an der Ostfront. Erst jetzt erscheint das 1952 geschriebene Buch aus dem Nachlass.
Der Lektor hat immer recht, schrieb augenzwinkernd einmal Stephen King, wohl wissend, dass ein erfolgreicher Autor die Kritik seines ersten Lesers nicht nur souverän ertragen, sondern auch schadlos abweisen kann. Zu Beginn einer literarischen Karriere aber ist das Verhältnis zwischen Autor und Lektor heikel. Dem Ideal zufolge stellt der Lektor seine Fähigkeiten selbstlos in den Dienst der Absicht des Autors, in Wahrheit hat er mit dem Verlagsvertrag im Rücken genügend Macht, bewusst oder unbewusst eigene ästhetische oder gar weltanschauliche Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Nicht selten führt das zu Konflikten, manchmal zum Desaster.
So im Fall des jungen Siegfried Lenz. Nach der positiven Resonanz auf seinen Erstling "Es waren Habichte in der Luft" hatte Lenz 1951 bei Hoffmann und Campe einen Vertrag über einen weiteren Roman unterzeichnet, der zunächst den Titel "Da gibt's ein Wiedersehen" trug. Bereits im November wurde das Buch in einer Sammelbesprechung von Texten über den Ostkrieg von Paul Hühnerfeld lobend erwähnt. Als Lektor wurde Lenz der promovierte Germanist Otto Görner zugewiesen. Auch der zeigte sich zunächst beeindruckt von der Geschichte, die "den Leser im Genick packt". Nach einem Gespräch im Verlag übersandte er Änderungsvorschläge, "das Technische und Handwerkliche" betreffend. Lenz ging sogleich an die Überarbeitung und legte das Manuskript im Januar 1952 abermals vor, nun mit dem Titel "Der Überläufer".
In einem Gutachten für den Verlag, dessen Inhalt Görner dem Schriftsteller in Briefform mitteilte, änderte der Lektor seine Bewertung grundlegend. In einem unangenehm autoritären Ton und gespickt mit Vorwürfen stellte er das Erscheinen des Romans in der vorliegenden Form grundsätzlich in Frage. Ein Roman mit diesem Titel "hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein . . . Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht." Entsprechend forderte er substantielle Änderungen beim Stoff und bei der Figurenkonstellation, die auf eine Entschärfung der Überläufer-Problematik hinausliefen. Schließlich wird dem jungen Autor in einer merkwürdig linkischen Formulierung gar gedroht: "Erwägen Sie nicht etwa eine wütende Geste zu machen und ein neues Buch schreiben zu wollen."
Der Verlag wusste vermutlich damals und weiß es offenbar bis heute nicht, dass Otto Görner eine ziemlich dubiose Figur war. Er hatte in Leipzig bei dem Nazi-Volkskundler André Jolles studiert, seine akademische Karriere war aber an der Habilitation gescheitert. Görner trat der SS bei und diente dem Regime unter anderem im Heimatwerk. Nach dem Krieg setzte er sich in den Westen ab und schlug sich mit freier Tätigkeit für Verlage durch.
Der Antwortbrief zeigt den jungen Siegfried Lenz schon als den feinen Menschen, als der er zeitlebens wahrgenommen wurde. Er bedankt sich für die Bemühungen, weist aber die Unterstellungen Görners wie auch dessen Vorschläge zur Umarbeitung in sachlichem Ton entschieden zurück. An der Figur seines Helden habe er bereits zu viel geändert. Jedoch bezeichnet er den Text dann selbst als missglückt und schließt: "Vielleicht werde ich Ihnen in zwei oder drei Jahren ein neues Manuskript zeigen dürfen, ein Manuskript, das besser und ein wenig reifer ist." Das geschah nicht, jedoch hat Lenz den Text der überarbeiteten Fassung zeitlebens aufbewahrt. Er fand sich in den Materialien, die der Schriftsteller kurz vor seinem Tod 2014 dem Literaturarchiv in Marbach übergeben hatte.
Den Titel "Der Überläufer" hätte Lenz sicherlich nicht gewählt, wenn er gewusst hätte, dass der Romancier und Naturlyriker Wilhelm Lehmann, den Lenz später kennenlernte, 1927 einen Roman gleichen Titels geschrieben hatte, der freilich nie einen Verlag fand und erst 1962 in der Lehmann-Gesamtausgabe erschien. Es gibt allerdings jenseits der Thematik des Überlaufens keine Berührungspunkte. Bei Lehmann erscheint der Erste Weltkrieg in der Perspektive des Helden als ultimative Versündigung an einer mythisch überhöhten Natur. Solcher poetischen Remythisierung stand Lenz auch im Hinblick auf Lehmanns Lyrik bei aller Wertschätzung sehr skeptisch gegenüber. Bei Lenz erscheint dagegen die Landschaft als Schauplatz und immanenter Projektionsraum des Menschlichen im Guten wie im Bösen. Natur ist nicht als objektivierte da, sondern wird je in bestimmter Stimmung und Situation von Individuen wahrgenommen.
In "Der Überläufer" werden die Kriegserlebnisse des Soldaten Walter Proska erzählt, der wie sein Autor aus dem masurischen Lyck stammt. Sie spielen im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs. Auf der Reise vom Heimaturlaub zurück zu seiner Einheit an der Ostfront fährt der Zug im weißrussisch-ukrainischen Grenzgebiet auf eine von Partisanen gelegte Mine. Proska schließt sich zwangsweise einem von einem versoffenen Unteroffizier kujonierten Häuflein von Wehrmachtssoldaten an, das die Zuglinie sichern sollte. Zermürbt von den Angriffen der Partisanen, von Mückenschwärmen und der Sinnlosigkeit ihrer Streifengänge durch das Sumpfgebiet bei sengender Hitze, sind sie dem Wahnsinn nahe und neigen zu Übersprunghandlungen. Der eine kämpft mit einem riesigen alten Hecht, ein anderer liebt es, Bäume zu umarmen, um sie zu brechen, ein dritter schließt Freundschaft mit einem Huhn.
Hier zeigt sich bereits Lenz' Meisterschaft in der Erzeugung einer dichten Atmosphäre wie in der Figurenzeichnung. Der Krieg reduziert sich auf den engen Bezirk des Lagers, der Erzähler beobachtet die Menschen wie im Glaskasten einer Versuchsanordnung. Jeder der Männer hat eine eigene Charakteristik und Redeweise bis hinein in die Nachbildung des Dialekts, und jeder reagiert auf eigene Weise auf die sinnlose Belastung. Manche Dialoge könnten auch in einem absurden Drama stehen, wie überhaupt ein Anflug von Existentialismus durch die Erzählung weht: "Dort ist die Brücke. Kannst du jemanden sehen? / Man sieht sie nie. / Wollen wir weitergehen? fragte Proska. / Und dann? / Vielleicht erwischen wir sie. / Oder sie uns. / Was sollen wir machen? / Warten. / Worauf denn? / Bis etwas geschieht. / Und was soll geschehen? / Das kann man nicht vorher sagen."
Auch den äußersten Schrecken schildert der junge Lenz mit einer eigenartigen souveränen Distanz zum Geschehen, die aber nichts mit der Kühle eines Ernst Jünger gemein hat, viel mehr mit einem Hauch von Humor, der den Menschen noch in der widerwärtigsten Bedrängnis ihre Würde belässt. Krieg, sagt Proskas Kamerad aus Oberschlesien, ist "immer komisch. Keiner weiß, ob Leben ist Glick oder Unglick. Einer sucht Kugel und findet sie nicht, und anderer sucht keine Kugel und kriegt sie gebrannt auf Pelz. Krieg ist Iberraschung."
Lenz entfaltet die Thematik von vornherein im Bewusstsein der Zeitgenossenschaft. In einer beinahe komödiantischen Rahmenerzählung geht es um Erinnerung und Vergessen, Aufklärung und Verdrängung der Schuld. Bei einem schwerhörigen alten Apotheker will Proska sich eine Briefmarke leihen, vorher aber muss er sich, ohne selbst zu Worte zu kommen, einen Monolog des Weltkriegsveteranen zum Nutzen und Schaden der Erinnerung anhören: "Erinnerungen taugen nicht viel. Sie sind schwer wie Zuckersäcke. Wer sie ewig mit sich herumschleppt, muß eines Tages in die Knie gehen." Ausgelöst durch eine momentane Sinneserfahrung tauchen aber für ihn, ähnlich wie bei Marcel Proust, "aus dem Nebel der Zeit die Bilder seiner Erinnerung herauf".
Überhaupt verfügt der junge Lenz über das ganze Arsenal der Stilmittel des modernen Romans. In einigen Passagen werden Ereignisse geschildert, bei denen der Held nicht dabei ist, auch meldet sich gelegentlich eine übergeordnete Erzählinstanz mit sarkastisch pathetischen Kommentaren zu Wort. Der häufige Gebrauch des inneren Monologs und des Selbstgesprächs in Momenten, in denen der Held auf sich zurückgeworfen ist, kontrastiert mit einer Sicht von außen, in der Proska auch direkt angesprochen wird oder sich in der Erinnerung als "Assistent seines Gewissens" selbst zum Gegenüber wird.
Proska wird im Gegensatz zu seinem Kameraden Wolfgang, genannt Milchbrötchen, nicht als Kriegsgegner geschildert. Er erscheint als ein fähiger Soldat, der es nicht auf das Töten abgesehen hat, es aber im Notfall pflichtgemäß und ohne große Skrupel vollzieht. Sein Überlaufen zum Feind wird dennoch nicht als dramatische Gewissensentscheidung geschildert. Es vollzieht sich wie unwillkürlich als Bejahung des Lebens. Proska hatte schon im Zug die polnische Partisanin Wanda kennengelernt, die dann immer wieder in seiner Nähe auftaucht. An einem ruhigen schönen Abend, an dem der Frieden der Landschaft den Krieg vergessen ließ, hatte er sie geschwängert und ihr die Zukunft versprochen. Vordergründig aber ergibt er sich den Partisanen, weil er im Kämpfen keinen Sinn mehr sieht.
Sein unbedachter Versuch der Fraternisierung wird zunächst schroff abgewiesen, er muss sich die Verachtung derer gefallen lassen, die zu allem entschlossen den Tod nicht fürchteten. "Sobald ihr besiegt seid, wollt ihr Brüder sein. Das kennen wir. Erst wenn ihr Gnade braucht, wenn euch das schmutzige Leben teuer wird, wenn ihr Angst bekommt, dann redet ihr von Brüderlichkeit. Solange ihr die Herren seid, sch . . . ihr auf Demut und Barmherzigkeit." Proska empfindet Scham, was ihn aber schließlich zum Überlaufen bewegt, bleibt eigenartig diffus. Es scheint nicht nur die für den nächsten Tag erwartete Erschießung zu sein, die ihn an der Seite des pazifistischen Kameraden die Seite wechseln lässt.
Der letzte Teil des Romans spielt in der Sowjetischen Besatzungszone. Die Beschreibung eines Büros, aus dem immer wieder Menschen verschwinden, erinnert an Kafka: "Er hatte nicht die Macht, das zu ändern, er wusste nicht einmal, wer für diese Veränderungen verantwortlich war, aber sie geschahen und folglich musste es jemanden geben, der sie verfügte." In wenigen Strichen entwirft Lenz die Atmosphäre der Überwachung bei der Formierung des totalitären Systems der DDR.
Im Nachhinein ist schwer zu begreifen, warum Siegfried Lenz diesen fesselnden Roman, der schon alle Facetten seiner erzählerischen Meisterschaft und der Bildkraft der Sprache aufweist, lebenslang liegen ließ. Allenfalls legt sein Antwortbrief an den Lektor nahe, dass es sich um einen Akt des schönen Trotzes gegen ein Hineinreden aus unlauteren Motiven gehandelt hat. Dass er nun doch noch erscheint, ist ein postumer Triumph eines Autors, der Aufklärung und poetische Intensität unvergleichlich zu verbinden wusste - und ein großes Glück für passionierte Leser.
FRIEDMAR APEL
Siegfried Lenz: "Der Überläufer". Roman.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 368 S., geb., 25,- [Euro].
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»So wird dieser in beispielhaft schönem Deutsch verfasste Roman, das reife Werk eines jungen Mannes, erst jetzt publiziert.« Franziska Augstein Süddeutsche Zeitung, 27./28.02.2016