Wo Überlebenskunst angesagt ist, muß auch Not sein, die es zu überwinden, zu überleben gilt. Diese Not, ein Trauma, kann aus den unterschiedlichsten Erlebnissen und Erfahrungen resultieren, wie Krieg und Verlassenheit bei einem Kind, erzwungenes Exil wie bei Tobie Nathan, die schwere Depression der Mutter bei Käthe Kollwitz, Traumata erzeugen reale und gefühlsmäßige Konfliktsituationen, die den Einzeln einer Zerreißprobe aussetzen. Um diese erfolgreich zu bewältigen, müssen die Betroffenen häufig die verwandelnde Kraft erneuter traumatisierender Situation einsetzen. Mißlingt dies, kommt es zur fortgesetzten Inszenierung immer neuer Traumata. Gelingt aber die Verwandlung, entsteht die Chance zu neuer, ungeahnter schöpferischer Leistung, von der alle drei Überlebenskünstler eindrücklich Zeugnis ablegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.1997Wer über die eigene Leiche geht
Andreas Benz entdeckt eine gefährliche Art des Überlebens
Die achtzehnjährige Petra lebt in der Krisenwohnung eines Zentrums für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche. Sie ist Diabetikerin von Kindheit an, muß täglich Insulin spritzen. Mal hungert sie, mal frißt sie ohne Erbarmen. Der Blutzuckerspiegel schwankt ständig in lebensbedrohender Weise. Petra weiß, wieviel sie spritzen muß, um ihn für einige Stunden wieder einzuregulieren. Auf Diät pfeift sie. Ihre Kindheit stellt sich als ein einziges Grauen dar. Von der Mutter, Epileptikerin, als Kleinkind in schwerer Form vernachlässigt und mißhandelt, seit dem neunten Lebensjahr von ihr sexuell mißbraucht, vom Vater ab dem dreizehnten Jahr regelmäßig vergewaltigt, wandert sie in den letzten Jahren von Klinik zu Klinik, von Heim zu Heim, fügt sich an Armen, Beinen und der Brust tiefe Schnittwunden zu, drückt Zigaretten auf ihren Oberschenkeln aus, Bügeleisen, Herdplatten. Sie fühlt sich von allen verlassen, will nicht mehr leben. Warum hat sie sich nicht längst umgebracht?
Diese Frage drängt sich bei vielen Patienten mit ähnlichem Schicksal auf, die Beratungsstellen, Krisenstationen, psychiatrische Abteilungen und therapeutische Wohngemeinschaften in stetem Wechsel durchlaufen, wie andere die Ferienorte entlang der Jahreszeiten - Drogensüchtige, Alkoholiker, schwer Persönlichkeitsgestörte jeden Alters. Ihre Zahl nimmt ständig zu. Immer leben sie am Rande, aber nur vergleichsweise wenige überspringen ihn freiwillig, so häufig sie auch mit Selbstmordversuchen ihre Umwelt in Atem halten. Was hält sie in dieser Welt, die sich für sie in eine Hölle verwandelt hat?
Andreas Benz, Arzt und Psychoanalytiker in Zürich, entschlüsselt das Rätsel auf eine nicht nur für die Fachwelt überraschende Weise. In seinem so schmalen wie gewichtigen Band verfolgt er das Schicksal dreier Menschen, eines deutschen Arztes, der in den Elendsregionen Zentralafrikas arbeitet, der Käthe Kollwitz, die im schöpferischen Akt das Kindheitstrauma einer schwer depressiven Mutter und den Tod ihres achtzehnjährigen Sohnes wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkrieges überwindet, und des Emigranten Tobie Nathan, eines im deutschsprachigen Raum noch unbekannten französischen Ethnopsychoanalytikers.
Aus den drei Biographien leitet der Autor seine These ab, daß "Überlebenskunst" dort angezeigt ist, wo es gilt, einschneidende Traumata der Kindheit und Jugend zu bewältigen. Durch die Reinszenierung traumatischer Situationen könnten die Betroffenen als Erwachsene die Sicherheit gewinnen, aus eigener Kraft Bedrohungen zu überleben, und, im günstigen Fall, das frühe Trauma produktiv verarbeiten. Nur so sei verständlich, warum viele Menschen dazu neigten, Katastrophen in ihrem Leben selbst zu produzieren.
Benz geht in der Analyse dieses Verhaltens noch einen Schritt weiter, wenn er die unbewußte Absicht der Katastrophensucht als "Überlebenstriumph" deutet, des Triumphes, stärker zu sein als das schlimmste Schicksal. Psychologisch ist der Überlebenstriumph das Produkt einer Abwehr- und Anpassungsorganisation, mit der das eigentlich Unerträgliche gemildert und in einen, wenn auch noch so makabren Erfolg umgemünzt werden kann. Diese "Überlebenskunst" sei "ein wesentlicher Stabilisator der psychischen Ökonomie". Der Überlebenskünstler zieht also seinen heimlichen Lustgewinn aus dem Spiel mit traumatischen Situationen, die er immer wieder, wenn oft auch nur um Haaresbreite, meistert. In diesem Sieg bewahrt er sich einen Rest eigener Stärke und kann sich seines noch so geschwächten Selbst sicher sein.
Benz zeigt an den drei genannten Lebensläufen, wie sich dieser Kreislauf aus früher Traumatisierung und ihrer Reinszenierung langsam in eine produktive "Überlebenspotenz" verwandeln läßt. Dieser Ausgang dürfte jedoch die Ausnahme sein. Wichtiger erscheint mir das Konzept für den klinischen Bereich, den Benz nur streift. Erst nach der Lektüre des Buches habe ich Petras Strategie verstanden. Bisher geläufige Begriffe wie "Wiederholungszwang", "masochistischer" oder "narzißtischer Triumph" werden durch die Neudefinition "Überlebenstriumph" in ihrer existentiellen Bedeutung besser begreifbar. Sie vertiefen das Verständnis für die oft absurden und die Umgebung in Panik versetzenden Inszenierungen der verzweifelten Dennochlebenden. HORST PETRI
Andreas Benz: "Der Überlebenskünstler". Drei Inszenierungen zur Überwindung eines Traumas. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997. 115 S., br., 22,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andreas Benz entdeckt eine gefährliche Art des Überlebens
Die achtzehnjährige Petra lebt in der Krisenwohnung eines Zentrums für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche. Sie ist Diabetikerin von Kindheit an, muß täglich Insulin spritzen. Mal hungert sie, mal frißt sie ohne Erbarmen. Der Blutzuckerspiegel schwankt ständig in lebensbedrohender Weise. Petra weiß, wieviel sie spritzen muß, um ihn für einige Stunden wieder einzuregulieren. Auf Diät pfeift sie. Ihre Kindheit stellt sich als ein einziges Grauen dar. Von der Mutter, Epileptikerin, als Kleinkind in schwerer Form vernachlässigt und mißhandelt, seit dem neunten Lebensjahr von ihr sexuell mißbraucht, vom Vater ab dem dreizehnten Jahr regelmäßig vergewaltigt, wandert sie in den letzten Jahren von Klinik zu Klinik, von Heim zu Heim, fügt sich an Armen, Beinen und der Brust tiefe Schnittwunden zu, drückt Zigaretten auf ihren Oberschenkeln aus, Bügeleisen, Herdplatten. Sie fühlt sich von allen verlassen, will nicht mehr leben. Warum hat sie sich nicht längst umgebracht?
Diese Frage drängt sich bei vielen Patienten mit ähnlichem Schicksal auf, die Beratungsstellen, Krisenstationen, psychiatrische Abteilungen und therapeutische Wohngemeinschaften in stetem Wechsel durchlaufen, wie andere die Ferienorte entlang der Jahreszeiten - Drogensüchtige, Alkoholiker, schwer Persönlichkeitsgestörte jeden Alters. Ihre Zahl nimmt ständig zu. Immer leben sie am Rande, aber nur vergleichsweise wenige überspringen ihn freiwillig, so häufig sie auch mit Selbstmordversuchen ihre Umwelt in Atem halten. Was hält sie in dieser Welt, die sich für sie in eine Hölle verwandelt hat?
Andreas Benz, Arzt und Psychoanalytiker in Zürich, entschlüsselt das Rätsel auf eine nicht nur für die Fachwelt überraschende Weise. In seinem so schmalen wie gewichtigen Band verfolgt er das Schicksal dreier Menschen, eines deutschen Arztes, der in den Elendsregionen Zentralafrikas arbeitet, der Käthe Kollwitz, die im schöpferischen Akt das Kindheitstrauma einer schwer depressiven Mutter und den Tod ihres achtzehnjährigen Sohnes wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkrieges überwindet, und des Emigranten Tobie Nathan, eines im deutschsprachigen Raum noch unbekannten französischen Ethnopsychoanalytikers.
Aus den drei Biographien leitet der Autor seine These ab, daß "Überlebenskunst" dort angezeigt ist, wo es gilt, einschneidende Traumata der Kindheit und Jugend zu bewältigen. Durch die Reinszenierung traumatischer Situationen könnten die Betroffenen als Erwachsene die Sicherheit gewinnen, aus eigener Kraft Bedrohungen zu überleben, und, im günstigen Fall, das frühe Trauma produktiv verarbeiten. Nur so sei verständlich, warum viele Menschen dazu neigten, Katastrophen in ihrem Leben selbst zu produzieren.
Benz geht in der Analyse dieses Verhaltens noch einen Schritt weiter, wenn er die unbewußte Absicht der Katastrophensucht als "Überlebenstriumph" deutet, des Triumphes, stärker zu sein als das schlimmste Schicksal. Psychologisch ist der Überlebenstriumph das Produkt einer Abwehr- und Anpassungsorganisation, mit der das eigentlich Unerträgliche gemildert und in einen, wenn auch noch so makabren Erfolg umgemünzt werden kann. Diese "Überlebenskunst" sei "ein wesentlicher Stabilisator der psychischen Ökonomie". Der Überlebenskünstler zieht also seinen heimlichen Lustgewinn aus dem Spiel mit traumatischen Situationen, die er immer wieder, wenn oft auch nur um Haaresbreite, meistert. In diesem Sieg bewahrt er sich einen Rest eigener Stärke und kann sich seines noch so geschwächten Selbst sicher sein.
Benz zeigt an den drei genannten Lebensläufen, wie sich dieser Kreislauf aus früher Traumatisierung und ihrer Reinszenierung langsam in eine produktive "Überlebenspotenz" verwandeln läßt. Dieser Ausgang dürfte jedoch die Ausnahme sein. Wichtiger erscheint mir das Konzept für den klinischen Bereich, den Benz nur streift. Erst nach der Lektüre des Buches habe ich Petras Strategie verstanden. Bisher geläufige Begriffe wie "Wiederholungszwang", "masochistischer" oder "narzißtischer Triumph" werden durch die Neudefinition "Überlebenstriumph" in ihrer existentiellen Bedeutung besser begreifbar. Sie vertiefen das Verständnis für die oft absurden und die Umgebung in Panik versetzenden Inszenierungen der verzweifelten Dennochlebenden. HORST PETRI
Andreas Benz: "Der Überlebenskünstler". Drei Inszenierungen zur Überwindung eines Traumas. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997. 115 S., br., 22,- DM.
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