Die Ukraine-Krise bewegt seit vielen Jahren die Weltpolitik und der Konflikt ist stets Inhalt neuer Nachrichten. Die vorliegende Untersuchung bewertet den Ukraine-Konflikt umfassend. Die häufig vernachlässigte ukrainische Geschichte wird geschildert, um so die gespaltene Haltung der ukrainischen Bürger besser nachvollziehen zu können. Der Fokus der Arbeit richtet sich aber auf die Sezessionsbestrebungen der Krim, der Regionen Donezk und Luhansk sowie den Anschluss der Halbinsel Krim an die Russländische Föderation. Ferner werden die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts sowie die internationalen Reaktionen im Kontext der Wirtschaftssanktionen erörtert.
Faktisch hat Russland zwar die Herrschaft über die Krim inne, rechtlich gesehen ist die Halbinsel aber immer noch Teil der Ukraine. Auch der de iure Zustand der Gebiete von Donezk und Luhansk hat sich nicht geändert.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Faktisch hat Russland zwar die Herrschaft über die Krim inne, rechtlich gesehen ist die Halbinsel aber immer noch Teil der Ukraine. Auch der de iure Zustand der Gebiete von Donezk und Luhansk hat sich nicht geändert.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Cindy Wittke, selbst Osteuropawissenschaftlerin, wird nicht froh mit Carolin Gornigs Buch über den Ukraine-Konflikt. Zwar begrüßt die Rezensentin grundsätzlich den Versuch einer "völkerrechtliche Analyse der Konfliktkonstellationen" in der Ukraine, doch gelingt es der Autorin trotz Umfang und Detailliertheit der Arbeit ihrer Meinung nach nicht, die zwiespältige Haltung der Ukrainer zu vermitteln oder die Rolle des Völkerrechts für die Ukraine in historischer Perspektive zu beleuchten. Ein Mangel an Quellen, wie ihn die Autorin beklagt, besteht laut Wittke jedenfalls nicht, die sich von der Autorin eine weitaus stärkere Berücksichtigung der Debatten in der ukrainischen und russischen Völkerrechtswissenschaft gewünscht hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2020Ukraine und Ukrainer verstehen?
Ein Versuch aus völkerrechtlicher Sicht mit reichlich Luft nach oben
Seit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008, vor allem aber seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine 2014, drängt sich die Frage auf, ob wir Zeugen einer gezielten Herausforderung grundlegender Prinzipien der völkerrechtlichen und politischen Ordnung im östlichen Europa werden. Zu diesen Prinzipien gehören die territoriale Integrität von Staaten, das Gewalt- und Interventionsverbot sowie die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Diskussionen drehen sich außerdem um die Legalität und Legitimität von Sezessionen, die Nichtanerkennung von De-facto-Staaten oder den Zweck und Umfang von wirtschaftlichen Sanktionen. Zu diesem Reigen zählt auch die Frage, welche Erklärungskraft Begriffe wie "hybrider Krieg" oder "eingefrorener Konflikt" haben.
Die sogenannte Ukraine-Krise - ein häufig verwendeter Begriff, der aufgrund seiner rechtlichen und politischen Ambiguität in der Ukraine ungern gehört wird - wirft viel völkerrechtliche Probleme auf. Trotz deren Tragweite ist es seit 2014 stiller um die Annexion der Krim und die anhaltenden Kämpfe im Osten des Landes geworden. Diese komplexen Konfliktkonstellationen sind längst Teil des mühseligen Alltagsgeschäfts der internationalen Diplomatie oder internationaler Gerichtshöfe geworden. Von diesem Alltagsgeschäft, das mitunter langen Atem erfordert, dringt meist nur wenig an die Öffentlichkeit. Das Gleiche gilt erst recht für wissenschaftliche Analysen.
Carolin Gornigs Monographie "Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht" bietet Anlass, die völkerrechtliche Analyse der Konfliktkonstellationen in und um die Ukraine ins Gedächtnis zu rufen. Dabei handelt es sich nicht nur um eines der aktuellsten, sondern mit seinen 532 Seiten wohl um eines der umfangreichsten und detailliertesten deutschsprachigen Werke, die sich den völkerrechtlichen Fragen rund um die Krim und Ostukraine widmen. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, gewinnt einen umfangreichen Überblick über völkerrechtsdogmatische Problemstellungen, die die Ereignisse seit 2014 aufwerfen. Klappentext und Einleitung der Monographie stellen den Lesern überdies in Aussicht, "... unter Berücksichtigung der häufig vernachlässigten ukrainischen Geschichte die gespaltene Haltung der ukrainischen Bürger besser nachvollziehen zu können". Ob der Autorin dies gelungen ist, muss man jedoch bezweifeln.
Zum Beispiel versäumt es die Autorin in ihrer disproportional umfangreichen Abhandlung zur Geschichte seit der Kiewer Rus, die Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft und -praxis in der Ukraine vor allem seit dem 19. Jahrhundert näher zu beleuchten und diese in den historischen Kontext einzubetten. Damit hätte sie methodisch und inhaltlich an den seit geraumer Zeit anhaltenden "Turn to history" in der Völkerrechtswissenschaft anknüpfen können. Eine solche historische Perspektive hätte es ihr ermöglicht, die Rolle des Völkerrechts in und für die Ukraine im Laufe der Zeiten zu verdeutlichen sowie historisierte und politisierte völkerrechtliche Argumentationslinien zu identifizieren und zu diskutieren. In ihrer Darstellung der aktuellen politischen Entwicklung beruft sich Gornig auf einen Mangel an Informationen. Diese finden sich jedoch in der existierenden politikwissenschaftlichen Fachliteratur, die auch auf Daten aus Konfliktgebieten basiert und die hier leider weitgehend unberücksichtigt bleibt.
In ihren völkerrechtlichen Abhandlungen versäumt es die Autorin dann, die Debatten in der ukrainischen und der russischen Völkerrechtswissenschaft zu beachten und deren fundamental diverse Sichtweisen auf die Konflikte in und um die Ukraine zu diskutieren. Dieser zentral bedeutsame Aspekt hätte eine ausführliche Würdigung verlangt.
Ein Beispiel hierfür gibt ein Sonderheft der "Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" aus dem Jahr 2015. Hier setzen sich Völkerrechtler aus der Ukraine, aus Russland sowie aus dem westeuropäischen und angloamerikanischen Kontext mit dem Status der Krim auseinander. In englischer Sprache bieten sie Einblicke in lokale Perspektiven und Debatten des Völkerrechts, von denen viele bis dahin nur selten in den europäischen und angloamerikanischen Debatten Platz fanden. Der Leitartikel problematisiert diese regionalen Trennungen zwischen völkerrechtlichen Debatten in Russland, der Ukraine und anderen ost-, mittel- und westeuropäischen Staaten. Er betont, dass ein Raum für den wissenschaftlichen Austausch zwischen diesen erforderlich sei. Interessanterweise weist er aber auch explizit darauf hin, dass von der üblichen wissenschaftlichen Begutachtung der Beiträge abgesehen worden sei, um sie alle im Sinne der Meinungsvielfalt aufnehmen zu können.
Ein weiteres Beispiel gibt die wegweisende Monographie "Russian Approaches to International Law" des estnischen Völkerrechtlers Lauri Mälksoo, erschienen ebenfalls 2015. Mälksoo bietet eine analytische Darstellung der Geschichte des Völkerrechts in Wissenschaft und Praxis von der zaristischen und sowjetischen Zeit bis zur Gegenwart. Er kommt unter anderem zum Schluss, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg keine grundlegenden Bereiche der Einheit und Kongruenz zwischen Russland und dem Westen hinsichtlich des Inhalts, der Auslegung und der Anwendung der Grundprinzipien des Völkerrechts gegeben hat.
Die Debatten über russische Ansätze zum Völkerrecht und deren Zusammenhang mit der Politik und den Hinterlassenschaften des Völkerrechts sowjetischer Prägung halten an. Veröffentlichungen wie der Sammelband "The Use of Force against Ukraine and International Law. Jus Ad Bellum, Jus In Bello, Jus Post Bellum" von Sergey Sayapin und Evhen Tsybulenko von 2018 oder der 2019 von P. Sean Morris herausgegebene Band "Russian Discourses on International Law" enthalten regelmäßig auch Beiträge ausgewählter Autoren aus der Region. Diese Autoren sind besonders seit 2014 zu wichtigen Stimmen geworden, die sich vor allem auf russische Ansätze konzentrieren; weiterführende Analysen in Bezug auf andere Staaten in der postsowjetischen Region stehen noch am Anfang.
Ausgehend von den hier beispielhaft genannten Veröffentlichungen, wäre von einer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Titel "Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht" eine gründliche Auseinandersetzung und eigenständige Position und Vorgehensweise zu erwarten gewesen. Gornig versäumt es, ukrainische Sichtweisen auf die komplexen Konflikte zu diskutieren. Hierzu muss man nicht einmal der Landessprache mächtig sein. Seit 2014 geben zahlreiche internationale Blogs und Online-Foren Einblicke in aktuelle völkerrechtliche Debatten in und um die Ukraine. Neben prominenten Stimmen wie Professor Iryna Marchuk von der Universität Kopenhagen führen diese Foren zu Völkerrechtlern aus der Ukraine und der Region, zu ihren Publikationen sowie zu den Institutionen, an denen sie tätig sind. Von besonderer Bedeutung in der Ukraine sind zum Beispiel das Institut für Internationale Beziehungen (Kimo) an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, die Nationale Ivan-Franko-Universität in Lemberg und die Nationale Juristische Jaroslaw Mudryi-Universität in Charkiw. Ukrainische Völkerrechtler verschiedener Generationen betonen zudem die kontinuierliche Zugehörigkeit der ukrainischen Völkerrechtswissenschaft und -praxis zur (west)europäischen Tradition, die auch die Sowjetunion überdauerte. Interessanterweise spielt Kimo in diesem Reigen eine besondere Rolle. Wie die sowjetische und dann russische Kader- und Diplomatenschmiede Mgimo in Moskau wurde und wird dort am Institut für Internationale Beziehungen Völkerrecht als eigenständiges Fach jenseits der juristischen Fakultät unterrichtet. Ein Master-Abschluss oder eine Promotion im Völkerrecht am Kimo wird als Qualifikation für die Aufnahme von Positionen in der Völkerrechtspraxis angesehen. Die Absolventen und Professoren des Instituts nehmen national und international führende Rollen ein. Ohne Frage ist die derzeitige Wissenschaft und Praxis in der Ukraine von einem starken Fokus auf Russlands Vorgehen in der Ukraine geprägt. Ukrainische Völkerrechtler sehen sich auch in der Rolle von Aktivisten, die die regionale und internationale rechtliche und politische Ordnung gegen russische Verstöße verteidigen. Dies findet Ausdruck in zahlreichen Analysen, Policy Papers und Stellungnahmen zu Themen wie Transitional Justice, der Rolle des Völkerstrafrechts, dem Umgang mit der aktiven Nichtanerkennung des Status der Krim als Teil Russlands, der Umsetzung der Minsker Abkommen, Sanktionen gegen Russland oder Fragen rund um das Asowsche Meer. Eine ähnliche Liste von Institutionen, Wissenschaftlern und Themen, die keineswegs alle konform sind mit der völkerrechtlichen Argumentation des Kremls, ließe sich im Übrigen auch für die russische völkerrechtliche Sicht auf die Krim und die Ostukraine aufstellen.
Die "völkerrechtliche Sicht" auf Konflikte oder - besser - die "völkerrechtlichen Sichten" auf diese sind nämlich immer auch von Traditionen in Forschung, Lehre und Praxis des Völkerrechts im jeweiligen nationalen Kontext geprägt, was wiederum ein Spannungsfeld mit dem auf das Völkerrecht projizierten universellen normativen Geltungsanspruch erzeugt. Seit 2014 wirkt die Ukraine hier wie ein Brennglas.
Zusammenfassend vermag das hier besprochene Buch letztlich nicht zu einem besseren Verständnis der Verwerfungslinien in der ukrainischen Gesellschaft beizutragen. Trotz seines Umfanges lässt es Lücken erkennen und versäumt es, neue Erkenntnisse aus völkerrechtlicher Sicht zu vermitteln.
CINDY WITTKE
Carolin Gornig:
Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht.
Schriften zum Völkerrecht (SVR), Band 239.
Duncker & Humblot, Berlin 2020. 533 S., 109,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Versuch aus völkerrechtlicher Sicht mit reichlich Luft nach oben
Seit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008, vor allem aber seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine 2014, drängt sich die Frage auf, ob wir Zeugen einer gezielten Herausforderung grundlegender Prinzipien der völkerrechtlichen und politischen Ordnung im östlichen Europa werden. Zu diesen Prinzipien gehören die territoriale Integrität von Staaten, das Gewalt- und Interventionsverbot sowie die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Diskussionen drehen sich außerdem um die Legalität und Legitimität von Sezessionen, die Nichtanerkennung von De-facto-Staaten oder den Zweck und Umfang von wirtschaftlichen Sanktionen. Zu diesem Reigen zählt auch die Frage, welche Erklärungskraft Begriffe wie "hybrider Krieg" oder "eingefrorener Konflikt" haben.
Die sogenannte Ukraine-Krise - ein häufig verwendeter Begriff, der aufgrund seiner rechtlichen und politischen Ambiguität in der Ukraine ungern gehört wird - wirft viel völkerrechtliche Probleme auf. Trotz deren Tragweite ist es seit 2014 stiller um die Annexion der Krim und die anhaltenden Kämpfe im Osten des Landes geworden. Diese komplexen Konfliktkonstellationen sind längst Teil des mühseligen Alltagsgeschäfts der internationalen Diplomatie oder internationaler Gerichtshöfe geworden. Von diesem Alltagsgeschäft, das mitunter langen Atem erfordert, dringt meist nur wenig an die Öffentlichkeit. Das Gleiche gilt erst recht für wissenschaftliche Analysen.
Carolin Gornigs Monographie "Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht" bietet Anlass, die völkerrechtliche Analyse der Konfliktkonstellationen in und um die Ukraine ins Gedächtnis zu rufen. Dabei handelt es sich nicht nur um eines der aktuellsten, sondern mit seinen 532 Seiten wohl um eines der umfangreichsten und detailliertesten deutschsprachigen Werke, die sich den völkerrechtlichen Fragen rund um die Krim und Ostukraine widmen. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, gewinnt einen umfangreichen Überblick über völkerrechtsdogmatische Problemstellungen, die die Ereignisse seit 2014 aufwerfen. Klappentext und Einleitung der Monographie stellen den Lesern überdies in Aussicht, "... unter Berücksichtigung der häufig vernachlässigten ukrainischen Geschichte die gespaltene Haltung der ukrainischen Bürger besser nachvollziehen zu können". Ob der Autorin dies gelungen ist, muss man jedoch bezweifeln.
Zum Beispiel versäumt es die Autorin in ihrer disproportional umfangreichen Abhandlung zur Geschichte seit der Kiewer Rus, die Entwicklung der Völkerrechtswissenschaft und -praxis in der Ukraine vor allem seit dem 19. Jahrhundert näher zu beleuchten und diese in den historischen Kontext einzubetten. Damit hätte sie methodisch und inhaltlich an den seit geraumer Zeit anhaltenden "Turn to history" in der Völkerrechtswissenschaft anknüpfen können. Eine solche historische Perspektive hätte es ihr ermöglicht, die Rolle des Völkerrechts in und für die Ukraine im Laufe der Zeiten zu verdeutlichen sowie historisierte und politisierte völkerrechtliche Argumentationslinien zu identifizieren und zu diskutieren. In ihrer Darstellung der aktuellen politischen Entwicklung beruft sich Gornig auf einen Mangel an Informationen. Diese finden sich jedoch in der existierenden politikwissenschaftlichen Fachliteratur, die auch auf Daten aus Konfliktgebieten basiert und die hier leider weitgehend unberücksichtigt bleibt.
In ihren völkerrechtlichen Abhandlungen versäumt es die Autorin dann, die Debatten in der ukrainischen und der russischen Völkerrechtswissenschaft zu beachten und deren fundamental diverse Sichtweisen auf die Konflikte in und um die Ukraine zu diskutieren. Dieser zentral bedeutsame Aspekt hätte eine ausführliche Würdigung verlangt.
Ein Beispiel hierfür gibt ein Sonderheft der "Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" aus dem Jahr 2015. Hier setzen sich Völkerrechtler aus der Ukraine, aus Russland sowie aus dem westeuropäischen und angloamerikanischen Kontext mit dem Status der Krim auseinander. In englischer Sprache bieten sie Einblicke in lokale Perspektiven und Debatten des Völkerrechts, von denen viele bis dahin nur selten in den europäischen und angloamerikanischen Debatten Platz fanden. Der Leitartikel problematisiert diese regionalen Trennungen zwischen völkerrechtlichen Debatten in Russland, der Ukraine und anderen ost-, mittel- und westeuropäischen Staaten. Er betont, dass ein Raum für den wissenschaftlichen Austausch zwischen diesen erforderlich sei. Interessanterweise weist er aber auch explizit darauf hin, dass von der üblichen wissenschaftlichen Begutachtung der Beiträge abgesehen worden sei, um sie alle im Sinne der Meinungsvielfalt aufnehmen zu können.
Ein weiteres Beispiel gibt die wegweisende Monographie "Russian Approaches to International Law" des estnischen Völkerrechtlers Lauri Mälksoo, erschienen ebenfalls 2015. Mälksoo bietet eine analytische Darstellung der Geschichte des Völkerrechts in Wissenschaft und Praxis von der zaristischen und sowjetischen Zeit bis zur Gegenwart. Er kommt unter anderem zum Schluss, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg keine grundlegenden Bereiche der Einheit und Kongruenz zwischen Russland und dem Westen hinsichtlich des Inhalts, der Auslegung und der Anwendung der Grundprinzipien des Völkerrechts gegeben hat.
Die Debatten über russische Ansätze zum Völkerrecht und deren Zusammenhang mit der Politik und den Hinterlassenschaften des Völkerrechts sowjetischer Prägung halten an. Veröffentlichungen wie der Sammelband "The Use of Force against Ukraine and International Law. Jus Ad Bellum, Jus In Bello, Jus Post Bellum" von Sergey Sayapin und Evhen Tsybulenko von 2018 oder der 2019 von P. Sean Morris herausgegebene Band "Russian Discourses on International Law" enthalten regelmäßig auch Beiträge ausgewählter Autoren aus der Region. Diese Autoren sind besonders seit 2014 zu wichtigen Stimmen geworden, die sich vor allem auf russische Ansätze konzentrieren; weiterführende Analysen in Bezug auf andere Staaten in der postsowjetischen Region stehen noch am Anfang.
Ausgehend von den hier beispielhaft genannten Veröffentlichungen, wäre von einer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Titel "Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht" eine gründliche Auseinandersetzung und eigenständige Position und Vorgehensweise zu erwarten gewesen. Gornig versäumt es, ukrainische Sichtweisen auf die komplexen Konflikte zu diskutieren. Hierzu muss man nicht einmal der Landessprache mächtig sein. Seit 2014 geben zahlreiche internationale Blogs und Online-Foren Einblicke in aktuelle völkerrechtliche Debatten in und um die Ukraine. Neben prominenten Stimmen wie Professor Iryna Marchuk von der Universität Kopenhagen führen diese Foren zu Völkerrechtlern aus der Ukraine und der Region, zu ihren Publikationen sowie zu den Institutionen, an denen sie tätig sind. Von besonderer Bedeutung in der Ukraine sind zum Beispiel das Institut für Internationale Beziehungen (Kimo) an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, die Nationale Ivan-Franko-Universität in Lemberg und die Nationale Juristische Jaroslaw Mudryi-Universität in Charkiw. Ukrainische Völkerrechtler verschiedener Generationen betonen zudem die kontinuierliche Zugehörigkeit der ukrainischen Völkerrechtswissenschaft und -praxis zur (west)europäischen Tradition, die auch die Sowjetunion überdauerte. Interessanterweise spielt Kimo in diesem Reigen eine besondere Rolle. Wie die sowjetische und dann russische Kader- und Diplomatenschmiede Mgimo in Moskau wurde und wird dort am Institut für Internationale Beziehungen Völkerrecht als eigenständiges Fach jenseits der juristischen Fakultät unterrichtet. Ein Master-Abschluss oder eine Promotion im Völkerrecht am Kimo wird als Qualifikation für die Aufnahme von Positionen in der Völkerrechtspraxis angesehen. Die Absolventen und Professoren des Instituts nehmen national und international führende Rollen ein. Ohne Frage ist die derzeitige Wissenschaft und Praxis in der Ukraine von einem starken Fokus auf Russlands Vorgehen in der Ukraine geprägt. Ukrainische Völkerrechtler sehen sich auch in der Rolle von Aktivisten, die die regionale und internationale rechtliche und politische Ordnung gegen russische Verstöße verteidigen. Dies findet Ausdruck in zahlreichen Analysen, Policy Papers und Stellungnahmen zu Themen wie Transitional Justice, der Rolle des Völkerstrafrechts, dem Umgang mit der aktiven Nichtanerkennung des Status der Krim als Teil Russlands, der Umsetzung der Minsker Abkommen, Sanktionen gegen Russland oder Fragen rund um das Asowsche Meer. Eine ähnliche Liste von Institutionen, Wissenschaftlern und Themen, die keineswegs alle konform sind mit der völkerrechtlichen Argumentation des Kremls, ließe sich im Übrigen auch für die russische völkerrechtliche Sicht auf die Krim und die Ostukraine aufstellen.
Die "völkerrechtliche Sicht" auf Konflikte oder - besser - die "völkerrechtlichen Sichten" auf diese sind nämlich immer auch von Traditionen in Forschung, Lehre und Praxis des Völkerrechts im jeweiligen nationalen Kontext geprägt, was wiederum ein Spannungsfeld mit dem auf das Völkerrecht projizierten universellen normativen Geltungsanspruch erzeugt. Seit 2014 wirkt die Ukraine hier wie ein Brennglas.
Zusammenfassend vermag das hier besprochene Buch letztlich nicht zu einem besseren Verständnis der Verwerfungslinien in der ukrainischen Gesellschaft beizutragen. Trotz seines Umfanges lässt es Lücken erkennen und versäumt es, neue Erkenntnisse aus völkerrechtlicher Sicht zu vermitteln.
CINDY WITTKE
Carolin Gornig:
Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht.
Schriften zum Völkerrecht (SVR), Band 239.
Duncker & Humblot, Berlin 2020. 533 S., 109,90 [Euro].
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»Insgesamt eine durchaus beeindruckende Dissertation, die belegt, dass die Autorin umfassende Literaturstudien betrieben hat, sich intensiv mit sehr kontroversen Fragestellungen auseinandergesetzt hat und beachtliches Verständnis für heikle, aber gleichzeitig ungemein wichtige völkerrechtliche Fragestellungen entwickelt hat. Ihr ist dafür Lob auszusprechen, und es ist der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass die Autorin auch weiterhin dem Völkerrecht treu bleiben möge. Von ihr wären sicherlich auch weiterhin sehr wertvolle wissenschaftliche Beiträge in dieser Disziplin zu erwarten.« Peter Hilpold, in: Europa Ethnica, 3-4/2020