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Als einen »der klügsten Geister Europas« bezeichnete Hannah Arendt G. K. Chesteron, der in dieser wuchtigen Kampfschrift im Rückgriff auf mittelalterliche und antifeudale Finanz- und Wirtschaftsweisen seine eigene Theorie des Distributismus, eine Form regionalen Wirtschaftens und Konsumierens, entwirft. Erstmals auf Deutsch erscheint dieses leidenschaftliche Plädoyer gegen Kapitalismus und Sozialismus. Den Kapitalismus sieht Chesterton als eine gesellschaftliche Todesfalle, in der die Reichen immer reich genug sein werden, um die Armen einzustellen, und die Armen immer arm genug sein werden,…mehr

Produktbeschreibung
Als einen »der klügsten Geister Europas« bezeichnete Hannah Arendt G. K. Chesteron, der in dieser wuchtigen Kampfschrift im Rückgriff auf mittelalterliche und antifeudale Finanz- und Wirtschaftsweisen seine eigene Theorie des Distributismus, eine Form regionalen Wirtschaftens und Konsumierens, entwirft.
Erstmals auf Deutsch erscheint dieses leidenschaftliche Plädoyer gegen Kapitalismus und Sozialismus. Den Kapitalismus sieht Chesterton als eine gesellschaftliche Todesfalle, in der die Reichen immer reich genug sein werden, um die Armen einzustellen, und die Armen immer arm genug sein werden, um von den Reichen eingestellt zu werden. Den sozialistischen Staat prangert er als Bevormunder des Einzelnen an. So »versündigen sich beide am Eigentum des kleinen Mannes«. In einer distributiven Gesellschaft hingegen würden die Armen durch den Besitz eines eigenen Ladens oder eines kleinen Stücks Land ihre eigenen Waren produzieren und verwenden, ihre eigenen Gesetze erlassen und so endlich die Macht über ihr eigenes Leben wieder zurückgewinnen und die Abhängigkeit durchbrechen können.

»Es ist nur verständlich, dass die Wölfe die Abrüstung der Schafe verlangen, denn deren Wolle setzt dem Biss einen gewissen Widerstand entgegen.« - G. K. Chesterton
Autorenporträt
Gilbert Keith Chesterton, 1874-1936 in London, veröffentlichte etliche Romane, Bühnenstücke, zahlreiche Gedichte und mehr als 4000 Essays; Letztere im G.K.'s Weekly , dessen Herausgeber er von 1925-1936 war. Neben den rund 200 Kurzgeschichten verhalfen ihm die Kriminalromane um die Figur Pater Brown zu großer Popularität, sowie die zahlreichen Biografien u.a. über Thomas Aquin, den Heiligen Franziskus oder Bernhard Shaw, seinem lebenslangen Freund und kontroversem Diskussionspartner. Zu seinen Bewunderern zählten u.a. Franz Kafka, Robert Musil, Kurt Tucholsky, Ernst Bloch, Mahatma Gandhi und Hannah Arendt. Seine Motivation, 1922 in die Römisch-katholische Kirche einzutreten, legt er in Orthodoxy dar, seit 2013 wird seine Seligsprechung in Betracht gezogen. Zeitlebens stellte er sich entschieden gegen Euthanasie und Rassenkunde sowie den Nationalsozialismus und der Nietzsche-Ideologie, als auch gegen den Kolonialismus und die Eugenik. Ab 1926 entwickelte Chesterton die Theorie des Distributismus, den zuletzt Michel Hollebeque in seinem Roman 'Unterwerfung' aufgriff. Mit seiner Opposition gegen den Kapitalismus ging allerdings auch eine antisemitischen Haltung einher, die ihn bis heute zu einer streitbaren Figur macht. In der Anderen Bibliothek erschienen zuletzt u.a.: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen, Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter, Die Paradoxe des Mr. Pond und andere Überspanntheiten, Vier verehrungswürdige Verbrecher. Julian Voth, 1989 in Limburg a. d. Lahn geboren, wuchs im Westerwald auf und verbrachte mehrere Jahre in den USA. Er studierte Theologie in Augsburg und lebt seit 2017 in Paraguay, wo er als Lehrer, Übersetzer und Herausgeber arbeitet. Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, ist promovierter Philosoph und lebt als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter Biographien zu Franz Fühmann, Ernst Barlach, Hermann Hesse und Gottfried Benn sowie bei Matthes & Seitz Berlin Vincent van Gogh. Pilgerreise zur Sonne . 2016 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste. Zuletzt erschien Zwischen den Zeiten: Die späten Jahre der DDR .
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020

Du sollst nicht deinem Petroleumkönig dienen

Wir sind keineswegs dem immerwährenden Wachstum verpflichtet: Gilbert K. Chesterton suchte einen Weg, der Kapitalismus und Kommunismus erübrigt.

Von Hannes Hintermeier

Es geht um nichts weniger als den neuen Menschen, der besser wieder wie der alte sein soll. Der sich gegen die egoistische Gesellschaft stemmt, die nur materielle Interessen verfolgt. Der sich zur Wehr setzt gegen die Unterdrückung von Traditionen. Und gegen die "journalistische Philosophie des Individualismus". Der einen dritten Weg findet zwischen Kapitalismus und Kommunismus und in einem ersten Schritt "die moderne Besessenheit" bekämpft, "unentwegt hektisch zu kaufen und zu verkaufen" - ein Verhalten, das "eine extreme Ungleichheit zwischen entweder sehr armen oder sehr reichen Menschen mit sich bringt". Es geht um den Traum von einer nicht entfremdeten Existenz.

Wir sind in der Zwischenkriegszeit: Das Mutterland des Britischen Weltreichs ist 1926, dem Jahr des Erscheinens von Gilbert K. Chestertons Pamphlet "The Outline of Sanity", in keiner allzu komfortablen Situation: Fünf Jahre nach Ende des Irischen Unabhängigkeitskrieges ist der größte Teil Irlands unabhängig, nur die sechs Countys im Nordosten blieben bei Großbritannien. Arbeitskämpfe, allen voran der Bergarbeiter, kulminieren in einem Generalstreik. Als Wirtschaftsmacht wird das Empire in jenen Jahren von den Vereinigten Staaten überrundet. Die Siege des Viktorianismus sind perdu, nie mehr wird England die Vormachtstellung auf der Welt zurückerobern, davon ist Chesterton überzeugt.

Als das Buch erscheint, ist der Publizist zweiundfünfzig Jahre alt und seit vier Jahren Mitglied der römisch-katholischen Kirche und einer ihrer großen öffentlichen Verteidiger. Seine erstmals auf Deutsch vorliegende Streitschrift ist beeinflusst von der katholischen Soziallehre, mit dieser im Tornister marschiert Chesterton in den Feldzug gegen Kapitalismus und Kommunismus. Sein sozioökonomischer Gegen- und Heilsentwurf, sein dritter Weg, heißt Distributismus.

Gleich eingangs widerspricht der Autor einer bekannten Theorie: "In Wahrheit ist die Annahme, Kleinbesitz würde sich zu Kapitalismus entwickeln, eine genaue Darstellung dessen, was faktisch nie passiert." Heftig reibt sich Chesterton am Entstehen immer größerer Trusts, nach Monopolen strebenden Großkonzernen, die er mindestens für so bedrohlich hält wie die "freie Marktwirtschaft". Letztere sei "kein sehr ehrenhafter Weg, um die Wahrheit eines der zehn Gebote zu verkünden". Den Kapitalismus kennzeichnet er als "ein in Wüsten wachsendes Monster." Wie der Kommunismus predige er allein das Wachstum der Geschäfte "und nicht den Erhalt des Eigentums". Zum praktischen Widerstand gehören bei Chesterton viele Handlungsanleitungen. Jeder Bürger könne etwas tun: Man kaufe selbstredend nicht in großen Kaufhäusern, man missachte Reklame. Und jeder Lohnabhängige mache sich bewusst, dass er ausgebeutet wird, denn "vom Moment seines Erwachens bis zum Zeitpunkt seines Zubettgehens verläuft sein Leben in Bahnen, die andere Leute ihm vorgegeben haben".

Der distributive Staat sorgt dafür, dass die Menschen über die Produktionsmittel verfügten und nicht der Staat und auch nicht wenige Kapitalisten. Dieser Besitz ermögliche allen ein (bescheidenes) Auskommen, das nicht auf Wachstum, sondern auf Erhalt ausgelegt ist. England sei ein kapitalistisches Land geworden, weil es "schon vorher über lange Zeit ein oligarchisches Land gewesen war". Paradebeispiel, wie es anders gehen könnte - der Bauernstand, stolz und unverbrüchlich. "Für das Bauerntum macht man keine Gesetze. In einem Bauernstand machen die Bauern die Gesetze." Zwar ahnt Chesterton, "dass hundert Journalisten über mich herfallen und mich beschuldigen würden, sie allesamt in Bauern verwandeln zu wollen", allerdings bleibt seine eigene Antwort, wo einer wie er in diesem Szenario sein Auskommen finden würde, ein wenig unbestimmt.

Chesterton macht es sich selbst nie leicht und seinen Lesern schon gar nicht. Dabei schreibt er weder hochtrabend noch akademisch, im Gegenteil: Anschauung, Beispiele, Fabeln gehören zu den Zutaten seiner plastischen Schreibweise, aber eben auch ein permanentes Hin- und Herwenden aller möglichen Argumente, ein Antizipieren gegnerischer Anwürfe und möglicher Selbstzweifel. Skepsis ist eine seiner Haupteigenschaften, und der Leser ist gut beraten, diese selbst an den Tag zu legen, sofern er sich nicht um den Denkfinger wickeln lassen will.

Wo sein Freund und intellektueller Gegenspieler George Bernard Shaw epigrammatisch kurz werden kann, geht Chesterton in die Breite - was für ihn sowohl körperlich als auch publizistisch gilt. Sein Werk umfasst achtzig Bücher, zweihundert Kurzgeschichten - deren berühmteste die Detektivgeschichten um Pater Brown sind -, Gedichte, Theaterstücke und um die viertausend Essays. Seine Produktivität ist ebenso staunenswert wie seine Streitlust legendär. Als Chesterton 1936 stirbt, ist er ein wohlhabender Mann. In deutscher Übersetzung sind derzeit nur rund ein Dutzend Titel greifbar, insofern ist die Übersetzung "Umriss der Vernunft" ein Signal: Man traut ihm noch Aufmerksamkeit zu. Tatsächlich lesen sich nicht wenige Sätze so, als beschrieben sie unsere Gegenwart. Wenn Chesterton die englische Gesellschaft als eine vor dem modernen Monopol kapitulierende beschreibt, weil "England bald von einem Erdbeben namens Amerika verschluckt werden" wird, fühlt man sich nicht nur an den Brexit erinnert, sondern setzt unwillkürlich an die Stelle früherer Trusts heutige Monopolisten aus dem Silicon Valley.

In seinem Nachwort charakterisiert Gunnar Decker den Journalisten als Meister der "wesentlichen Abschweifung". Und doch stecken bei aller Zeitbezogenheit in seinen Exkursen Aphorismen einer Gesellschaftskritik von erstaunlicher diagnostischer Kraft. Für Chesterton sähe die Welt besser aus, wenn seine - unsere? - Zeitgenossen "für die Gerechtigkeit nur halb so viel Risiko auf sich nehmen würden, wie sie schon um der Erniedrigung willen auf sich genommen haben; wenn sie nur halb so fleißig dafür schufteten, irgendetwas Schönes zu schaffen, wie sie es taten, um alles hässlich zu machen; wenn sie ihrem Gott so gedient hätten, wie sie ihrem Rinderkönig oder Petroleumkönig gedient haben, dann würde der Erfolg unserer gesamten distributiven Demokratie auf die Welt blicken wie ihre flammenden Leuchtschilder und an den Wolken kratzen wie ihre verrückten Türme."

Gilbert K. Chesterton: "Umriss der Vernunft".

Aus dem Englischen von Julian Voht. Mit einem Nachwort von Gunnar Decker.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.

256 S., geb., 24,- [Euro].

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