Anschaulich und unterhaltsam erzählt der Psychiater und Neurologe vom evolutionären Werdegang des Homo sapiens - von seinem Ursprung vor vermutlich 300.000 Jahren bis in die Gegenwart. Dabei zeigt er, wie wir Menschen uns mit Steinzeitgehirnen in einer modernen Umwelt zurechtfinden müssen, wie unsere biologische Evolution nur mühsam mit den rasanten kulturellen Entwicklungen Schritt halten kann und welche Probleme uns dabei begegnen. 300.000 Jahre evolutionärer Anpassung und dennoch hat die Natur nicht alles zum Besten eingerichtet. Wir haben überlebt, doch unsere körperlichen und psychischen Gebrechen sind leider nicht ausgestorben. Ob Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen, ob Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie -
Martin Brünes erhellender Einblick in die Ur- und Frühgeschichte des Menschen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser nur allzu gegenwärtigen Leiden.
Martin Brünes erhellender Einblick in die Ur- und Frühgeschichte des Menschen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser nur allzu gegenwärtigen Leiden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kurt Kotrschal zeigt sich enttäuscht von Martin Brünes Buch über die Spannungen zwischen Evolutionstheorie und Wissenschaft. Der "schmissige" Ton stört ihn, nicht zuletzt, weil dahinter falsche Daten, Ungenauigkeiten und Oberflächlichkeiten stecken, wie der Rezensent herausarbeitet. Einige Mängel im Text sind laut Kotrschal dazu angetan, das Buch als "biologistisch" abzutun, was es seiner Meinung nicht ist. Andere Ausführungen über die Evolution im Buch erscheinen ihm überholt, dafür fehlen wichtige Themenkomplexe, wie die "sozio-sexuellen Strategien der Geschlechter", stellt Kotrschal fest. Und eine Idee, wie der Mensch mit Herausforderungen wie dem Klimwandel fertigwerden soll, hat der Autor auch nicht, kritisiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2021Wenn Parasiten zu psychischen Problemen führen
Die Leiden der lebenden Fossilien: Martin Brüne sucht nach evolutionären Gründen für die Gebrechen des modernen Menschen
Martin Brünes Buch handelt von Spannungen zwischen einer evolutionär erklärten Natur des Menschen und der Medizin. Ein wichtiges Thema, doch liegt das eigentliche Problem der modernen Medizin darin, dass sie immer noch einem vordarwinischen Arbeitsmodell verhaftet ist. Selbst in der Ausbildung zukünftiger Ärzte kommt die evolutionäre Natur des Menschen kaum vor, wodurch Möglichkeiten der Diagnose und Erklärung von Krankheiten ausgeblendet bleiben.
Der Autor versucht hier gegenzusteuern. Sein Buch legt er als schmissige, gut lesbare Erzählung an, geradlinig und dennoch witzig bis sarkastisch im Ton. Der Preis dafür liegt in einer gewissen Oberflächlichkeit. So stolpert man etwa über falsche Zahlen: Einmal gerät das Gehirn des modernen Menschen mit 1400 Kubikzentimetern wesentlich zu groß, dann werden diesem Gehirn viel zu wenige Nervenzellen zugebilligt (86 Millionen statt 100 Milliarden). Dies fördert trotz einer respektablen Literaturliste nicht gerade das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Inhalte. Ein genaueres Fachlektorat hätte nicht geschadet.
Abgesehen vom allzu allegorischen Gebrauch zentraler Begriffe ("die Natur liebt", "die Evolution will"), stößt man immer wieder auf biologische Ungenauigkeiten, etwa wenn der Mensch als "lebendes Fossil" bezeichnet wird. Der Autor beschränkt sich in seiner Erklärung der Eigenheiten des modernen Menschen im Wesentlichen auf die Hominidenevolution der letzten paar Millionen Jahre. Moderne Menschen sind aber das Ergebnis einer Vielzahl miteinander nicht unbedingt harmonierender Anlagen aus der gesamten Stammesgeschichte. Manche der großen Zusammenhänge fehlen, was den üblichen Verdächtigen unter den Kritikern eines evolutionären Blicks auf den Menschen Anlass dazu geben könnte, das Buch ungerechterweise als "biologistisch" abzutun.
Nach einem Abriss der menschlichen Evolution im ersten Kapitel fokussiert der Autor auf unser Verhältnis mit den Neandertalern, um als Nächstes die Frage zu stellen, ob wir "lebende Fossilien" seien. Gemeint ist damit das Verhältnis der evoluierten menschlichen Natur zu den heutigen Lebensbedingungen. Dann wird daran erinnert, dass Menschen im Verbund mit der Gesamtheit ihrer Mikroorganismen selbst Ökosysteme sind. Anschließend geht es darum, wie unsere Stresssysteme auf Grundlage der genetischen Ausstattung mit der Umwelt interagieren. In Kapitel sechs werden langsame und schnelle lebensgeschichtliche Strategien diskutiert, gefolgt von nicht allzu viel Neuem über das Altern. Danach verliert sich der Autor ein wenig zu ausführlich in der Psychopharmakologie und in sein Lieblingsthema, dem möglichen Zusammenhang zwischen Parasiten wie Toxoplasmose und psychischen Problemen wie der Schizophrenie. In Kapitel neun geht es um die Freud'schen "Kränkungen", also um die Diskrepanz zwischen der Sonderstellung des Menschen und der evolutionär-biologischen Realität. Das Buch schließt mit einer nicht allzu tief gehenden Reflexion eines offenbar über die gegenwärtige Behandlungspraxis frustrierten Mediziners.
Vollständigkeit zu erwarten wäre natürlich vermessen. Dennoch: Manches im Buch mutet verstaubt an, und es fehlen essentielle Themen für ein aktuelles Bild der menschlichen Natur. Der Autor bemüht etwa die alte Leier vom Menschen als Generalisten und ignoriert damit eines der wenigen Alleinstellungsmerkmale des Menschen, sein großes Gehirn und sein kognitives und symbolsprachliches Spezialistentum. So fällt Brüne, der wohlgemerkt Psychiater ist, offensichtlich auch nicht der Zusammenhang auf zwischen diesem leistungsfähigen Organ und den beim modernen Menschen so häufigen mentalen Problemen. Er sieht zwar die menschliche Irrationalität, erklärt sie aber nicht schlüssig aus unauflöslichen Konfliktfeldern zwischen den stammesgeschichtlich alten Anlagen und der aus der sozialen Evolution hervorgegangenen modernen Ratio.
Zudem erspart er sich jeglichen Kommentar dazu, wie es mit der Evolution des Menschen angesichts einer schwerbeschädigten Biosphäre weitergehen könnte. Zu den zahlreichen menschlichen Universalien, über die man im Buch so gut wie nichts findet, zählt neben der kognitiv-sprachlichen Spezialisierung vor allem unsere biophile Natur. Dass dieses Alleinstellungsmerkmal fehlt, ist gerade angesichts des medizinischen Fokus ein großes Manko. Die für das Verständnis der evolutionären Natur zentralen sozio-sexuellen Strategien der Geschlechter kommen zwar vor, dürften für Leser ohne Vorkenntnisse jedoch kein stimmiges Gesamtbild ergeben.
So verbirgt sich hinter dem flotten Text eine etwas angegraute evolutionäre Weltsicht. Dass artspezifische und individuelle Merkmale im Wechselspiel zwischen Genom, Epigenom sowie sozialem und kulturell-gesellschaftlichem Umfeld entstehen - also zwischen jenen vier Dimensionen, die heute im Sinne von Eva Jablonka und Marion Lamb als Arena der Evolution gelten -, geht aus dem Text nicht hervor. Im Wesentlichen fasst der Autor zusammen, was auch anderswo bereits zu lesen ist.
Ein Neuigkeitswert liegt vor allem im Zusammenstricken von evolutionären mit medizinischen Einsichten, weniger im Ausbreiten neuerer oder gar eigener Konzepte. Zur lohnenden Lektüre wird das Buch dennoch dort, wo es um gesundheitliche Zusammenhänge in Bezug auf Evolution und Umwelt geht.
KURT KOTRSCHAL
Martin Brüne:
"Der unangepasste Mensch". Unsere Psyche und die blinden Flecken
der Evolution.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 367 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Leiden der lebenden Fossilien: Martin Brüne sucht nach evolutionären Gründen für die Gebrechen des modernen Menschen
Martin Brünes Buch handelt von Spannungen zwischen einer evolutionär erklärten Natur des Menschen und der Medizin. Ein wichtiges Thema, doch liegt das eigentliche Problem der modernen Medizin darin, dass sie immer noch einem vordarwinischen Arbeitsmodell verhaftet ist. Selbst in der Ausbildung zukünftiger Ärzte kommt die evolutionäre Natur des Menschen kaum vor, wodurch Möglichkeiten der Diagnose und Erklärung von Krankheiten ausgeblendet bleiben.
Der Autor versucht hier gegenzusteuern. Sein Buch legt er als schmissige, gut lesbare Erzählung an, geradlinig und dennoch witzig bis sarkastisch im Ton. Der Preis dafür liegt in einer gewissen Oberflächlichkeit. So stolpert man etwa über falsche Zahlen: Einmal gerät das Gehirn des modernen Menschen mit 1400 Kubikzentimetern wesentlich zu groß, dann werden diesem Gehirn viel zu wenige Nervenzellen zugebilligt (86 Millionen statt 100 Milliarden). Dies fördert trotz einer respektablen Literaturliste nicht gerade das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Inhalte. Ein genaueres Fachlektorat hätte nicht geschadet.
Abgesehen vom allzu allegorischen Gebrauch zentraler Begriffe ("die Natur liebt", "die Evolution will"), stößt man immer wieder auf biologische Ungenauigkeiten, etwa wenn der Mensch als "lebendes Fossil" bezeichnet wird. Der Autor beschränkt sich in seiner Erklärung der Eigenheiten des modernen Menschen im Wesentlichen auf die Hominidenevolution der letzten paar Millionen Jahre. Moderne Menschen sind aber das Ergebnis einer Vielzahl miteinander nicht unbedingt harmonierender Anlagen aus der gesamten Stammesgeschichte. Manche der großen Zusammenhänge fehlen, was den üblichen Verdächtigen unter den Kritikern eines evolutionären Blicks auf den Menschen Anlass dazu geben könnte, das Buch ungerechterweise als "biologistisch" abzutun.
Nach einem Abriss der menschlichen Evolution im ersten Kapitel fokussiert der Autor auf unser Verhältnis mit den Neandertalern, um als Nächstes die Frage zu stellen, ob wir "lebende Fossilien" seien. Gemeint ist damit das Verhältnis der evoluierten menschlichen Natur zu den heutigen Lebensbedingungen. Dann wird daran erinnert, dass Menschen im Verbund mit der Gesamtheit ihrer Mikroorganismen selbst Ökosysteme sind. Anschließend geht es darum, wie unsere Stresssysteme auf Grundlage der genetischen Ausstattung mit der Umwelt interagieren. In Kapitel sechs werden langsame und schnelle lebensgeschichtliche Strategien diskutiert, gefolgt von nicht allzu viel Neuem über das Altern. Danach verliert sich der Autor ein wenig zu ausführlich in der Psychopharmakologie und in sein Lieblingsthema, dem möglichen Zusammenhang zwischen Parasiten wie Toxoplasmose und psychischen Problemen wie der Schizophrenie. In Kapitel neun geht es um die Freud'schen "Kränkungen", also um die Diskrepanz zwischen der Sonderstellung des Menschen und der evolutionär-biologischen Realität. Das Buch schließt mit einer nicht allzu tief gehenden Reflexion eines offenbar über die gegenwärtige Behandlungspraxis frustrierten Mediziners.
Vollständigkeit zu erwarten wäre natürlich vermessen. Dennoch: Manches im Buch mutet verstaubt an, und es fehlen essentielle Themen für ein aktuelles Bild der menschlichen Natur. Der Autor bemüht etwa die alte Leier vom Menschen als Generalisten und ignoriert damit eines der wenigen Alleinstellungsmerkmale des Menschen, sein großes Gehirn und sein kognitives und symbolsprachliches Spezialistentum. So fällt Brüne, der wohlgemerkt Psychiater ist, offensichtlich auch nicht der Zusammenhang auf zwischen diesem leistungsfähigen Organ und den beim modernen Menschen so häufigen mentalen Problemen. Er sieht zwar die menschliche Irrationalität, erklärt sie aber nicht schlüssig aus unauflöslichen Konfliktfeldern zwischen den stammesgeschichtlich alten Anlagen und der aus der sozialen Evolution hervorgegangenen modernen Ratio.
Zudem erspart er sich jeglichen Kommentar dazu, wie es mit der Evolution des Menschen angesichts einer schwerbeschädigten Biosphäre weitergehen könnte. Zu den zahlreichen menschlichen Universalien, über die man im Buch so gut wie nichts findet, zählt neben der kognitiv-sprachlichen Spezialisierung vor allem unsere biophile Natur. Dass dieses Alleinstellungsmerkmal fehlt, ist gerade angesichts des medizinischen Fokus ein großes Manko. Die für das Verständnis der evolutionären Natur zentralen sozio-sexuellen Strategien der Geschlechter kommen zwar vor, dürften für Leser ohne Vorkenntnisse jedoch kein stimmiges Gesamtbild ergeben.
So verbirgt sich hinter dem flotten Text eine etwas angegraute evolutionäre Weltsicht. Dass artspezifische und individuelle Merkmale im Wechselspiel zwischen Genom, Epigenom sowie sozialem und kulturell-gesellschaftlichem Umfeld entstehen - also zwischen jenen vier Dimensionen, die heute im Sinne von Eva Jablonka und Marion Lamb als Arena der Evolution gelten -, geht aus dem Text nicht hervor. Im Wesentlichen fasst der Autor zusammen, was auch anderswo bereits zu lesen ist.
Ein Neuigkeitswert liegt vor allem im Zusammenstricken von evolutionären mit medizinischen Einsichten, weniger im Ausbreiten neuerer oder gar eigener Konzepte. Zur lohnenden Lektüre wird das Buch dennoch dort, wo es um gesundheitliche Zusammenhänge in Bezug auf Evolution und Umwelt geht.
KURT KOTRSCHAL
Martin Brüne:
"Der unangepasste Mensch". Unsere Psyche und die blinden Flecken
der Evolution.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 367 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es ist zu wünschen, dass das Buch weite Verbreitung findet. Die Inhalte sollten in der Psychiatrie, der medizinischen Psychologie und der Psychotherapie gelehrt werden. Sie sind eine Grundlage für alle, die sich um die Seele anderer Menschen sorgen, also im weitesten Sinn psychotherapeutisch mit Menschen zu tun haben. Das Buch ist aber auch ein Beitrag zu einem umfassenden Verständnis von Menschsein und für interessierte Laien als Lesestoff und Erkenntnisquelle gut geeignet.« Dr. Gerhard Medicus, Naturwissenschaftliche Rundschau, September/Oktober 2020 »[...] Eine spannende Reise von unseren evolutionären Ursprüngen bis in die Gegenwart, die zeigt, was unser stammesgeschichtliches Erbe bis heute mit uns Menschen macht.« Ilka Bauer, Markteinblicke, Oktober 2020