Produktdetails
- Verlag: DuMont Reiseverlag, Ostfildern
- ISBN-13: 9783770148646
- ISBN-10: 3770148649
- Artikelnr.: 24765552
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Das Genie bricht sich aufhaltsam Bahn
Ein Wunderkind war Matisse nicht, doch seine Malerei bewahrt das Wunder der Kindheit / Von Wilfried Wiegand
Der populärste Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, keine Frage, ist Pablo Picasso. Vorbei sind die Zeiten, da man ihn verteidigen musste, jeder hat heute das Gefühl, ihn ganz unmittelbar zu verstehen. Man muss nur das Publikum im Pariser Picasso-Museum beobachten, um zu begreifen, wie er ohne Umschweife bewundert und geliebt wird. Auch die kunsthistorische Forschung hat ein viel direkteres Verhältnis zu Picasso bekommen. Die philosophisch überanstrengten Interpretationen, mit denen der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler jahrzehntelang zu suggerieren verstand, Picasso sei eine Art malender Intellektueller, geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Die biografischen Wurzeln von Picassos Kunst liegen klar zu Tage. Die neueren Picasso-Biografien beschönigen nicht mehr, in welch erstaunlichem Maß seine Kunst der Bewältigung privater Probleme diente. Picasso ist von einem komplizierten zu einem einfachen Fall geworden.
Ganz anders verhält es sich mit Henri Matisse, Picassos einzigem ebenbürtigen Rivalen. Seine vermeintlich unkomplizierte Kunst wurde viel geliebt und wenig gedeutet. Korrekt mit dem Etikett "Fauvismus" versehen, schlummerte sie als stilgeschichtliche Karteileiche in den Archiven der Kunstgeschichte. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten - durch Pierre Schneiders Monografie von 1984 und die große Retrospektive von 1992 - beginnt sie allmählich in ihrer Kompliziertheit, ihrem Reichtum, ihrer Rätselhaftigkeit und Intellektualität sichtbar zu werden. Geht man durch Europas bestes Museum für moderne Kunst, das vom Picasso-Forscher Werner Spies neu geordnete Musée d'Art Moderne im Centre Pompidou, dann fällt auf, wie Picasso an mehreren Punkten geradezu gewaltsam zu Hilfe geholt werden muss, damit Matisse nicht das ganze Jahrhundert überstrahlt. Seine nicht auf Zerstörung, sondern auf Schönheit zielende Kunst hält jeder Nachbarschaft stand, mühelos behauptet sie sich neben Picasso. Sollte das Jahrhundert, das wir uns angewöhnt haben, das Jahrhundert Picassos zu nennen, in Wahrheit das Jahrhundert von Matisse gewesen sein?
Wir wissen wenig über Matisse. Wiewohl er zwölf Jahre älter war als Picasso und schon als Bürgerschreck galt, als kaum jemand Picasso kannte, wurden über den Jüngeren doch früh schon Erinnerungen, oft mit enthüllendem Unterton, veröffentlicht, während sich für das Privatleben des Älteren offenbar niemand interessierte. Picasso war ein Bohemien, zeitlebens in Liebesaffären verstrickt und von Literaten umgeben, in solchem Milieu gedeihen Legenden.
Matisse hingegen bemühte sich um ein bürgerliches Leben und hielt, sobald es darin nicht mehr ganz so bürgerlich zuging, zumindest die Fassade aufrecht. Auch so entsteht eine Legende, die Legende vom uninteressanten Spießbürger, der Matisse angeblich war. Dass sie nicht der Wahrheit entspricht, ließ sich den älteren biographischen Versuchen kaum entnehmen, überall führte Rücksichtnahme auf Familienangehörige Regie.Matisse ist 1954 gestorben, und heute erst, nach fast einem halben Jahrhundert, halten wir endlich eine brauchbare Biografie in Händen. Hilary Spurling, eine Londoner Literaturkritikerin, hat sie nicht nur mit Liebe zum Detail, sondern durchaus auch mit Sinn für die Größe ihres Gegenstandes recherchiert. Sie ist freilich keine Kunsthistorikerin, und der wohlfeile Vorwurf, sie gehe zu wenig auf die künstlerischen Aspekte ein, blieb ihr nicht erspart. Der Vorwurf ist nicht völlig unberechtigt, mindert aber nicht die großen Verdienste ihres Buches, das uns den Künstler näher und genauer zeigt, als wir ihn jemals gekannt haben. Hoffen wir, dass der geplante zweite Band das Niveau des ersten hält.
Henri Matisse wird im Norden Frankreichs, in der Picardie, geboren. Er verbringt seine Kindheit und Jugend in einer fast flämisch geprägten Welt. Sogar der Familienname ist flämischen Ursprungs, Matisse ist die Französisierung von Mathis. Er wächst in einer Kleinstadt heran, umgeben von einer trüben, lichtarmen Landschaft, in der die Wälder bis auf den letzten Baum abgeholzt wurden, um Rübenfeldern Platz zu machen. Vor diesem glanzlosen Hintergrund begreift man den lebenslangen Heißhunger auf Licht und Farben, der Matisse später in den Süden treibt. Falsch wäre es allerdings, die enge Welt seiner Kindheit kunstlos zu nennen. Als Matisse geboren wird, ist die ganze Gegend um die Stadt Saint-Quentin herum zum Standort einer entfesselten Textilindustrie geworden. Die Weber fertigen keineswegs nur Massenware, sondern sind berühmt für ihre ausgetüftelten Brokate, mit denen sie die Pariser Luxusboutiquen beliefern. Der gewebte Stoff ist das Medium, in dem sich der Schönheitssinn dieser Menschen Bahn bricht. Für Matisse werden dekorativ gemusterte Stoffe, wie Hilary Spurling treffend schreibt, das ganze Leben lang zu "strategischen Verbündeten" seiner Kunst. Aus ihrer Welt stammt auch die hochgemute Ansicht, dass Luxus etwas sei, was mit Geld und Status nichts zu tun habe, vielmehr eine Art demokratisierte Schönheit, die als üppiges Ornament jedermann zugänglich sei.
Picasso war ein Wunderkind. Matisse hingegen, in der Geschichte der Kunst ebenso selten, war ein ausgesprochener Spätling. Im Alter von vierzehn Jahren fällt dem Schüler auf, dass er eine zeichnerische Begabung besitzt. Aber er fühlt sich offenbar zur Kunst nicht sonderlich hingezogen. Als junger Mann lebt er ein Jahr lang in Paris, um sich zum Anwaltsgehilfen ausbilden zu lassen. Er scheint nicht auf die Idee gekommen zu sein, dort die Museen zu besuchen.
Zur Kunst bekehrt wird er als Zwanzigjähriger, als er im Krankenhaus beobachtet, wie ein Mitpatient sich mit einem Malkasten beschäftigt. Auch diese Anekdote ist aufschlussreich für seine ganze künftige Kunst. Denn Matisse hat immer das Glück im Auge. Er stellt es nicht nur dar, er will ausdrücklich, dass auch die Betrachter seiner Bilder daran teilhaben. Matisse will glücklich machen. Ein therapeutischer Impuls ist seiner Kunst nicht fremd. Matisse, der den Laden der Eltern nicht übernehmen will, schafft es schließlich, den hartnäckigen Widerstand seines Vaters zu überwinden. Er darf Kunst studieren. Zuerst besucht er die Zeichenschule in Saint-Quentin, die für die Ausbildung von Textildesignern gegründet wurde, dann geht er nach Paris an die private Académie Julian, wo der Salonmaler Bougereau die Studenten für die Aufnahmeprüfung zur École des Beaux-Arts trainiert.
Matisse schafft die Prüfung vorerst nicht, aber der Symbolist Gustave Moreau öffnet ihm sein Atelier. Matisse profitiert lange von der legendären pädagogischen Großzügigkeit Moreaus, durch dessen goldschmiedehaften Stil er sich in seiner Neigung zum Ornament und zu kostbaren Materialien bestätigt sieht. Zu seinen Lehrern gehören außerdem der Maler Carrière und der Bildhauer Bourdelle - eine Phalanx großer Namen. Wie alle Spätlinge hat Matisse viel nachzuholen. Wirklich bekannt wird er erst durch seinen Skandalerfolg auf dem Pariser Herbstsalon von 1905. Ein Kritiker bemerkt dort eine klassisch geformte Skulptur zwischen den Bildern der wilden jungen Maler, und dieses Beisammensein kommt ihm vor "wie Donatello zwischen den wilden Tieren". Damit ist das Schlagwort von den "fauves" geboren, das schon bald die journalistische Runde macht. Zum Chef der Fauves wird Matisse deklariert. Obwohl seine Künstlerfreunde sich niemals als Gruppe empfunden haben, wird Matisse dennoch die richtige Rolle zugeschrieben.
Er ist rund zehn Jahre älter als die meisten und spürbar der Radikalste. Obwohl die meisten Kritiker noch jahrelang seine etwas harmloseren Kollegen favorisieren werden, mischt sich in die Erwähnung von Matisse zunehmend ein schüchterner Respekt. Ohne erklären zu können, warum er besser ist als die anderen, scheint doch jeder die Klarheit, Kraft und Entschiedenheit seiner Kunst zu spüren. Unterstützung vom Vater bekommt der Eigenbrötler Henri damals nicht mehr.
Der Vater hat das Vertrauen verloren, als er begreifen musste, dass der Sohn keine Karriere als akademischer Maler ins Auge fasst. Trost findet der Maler, der zur Zeit seines Skandalerfolgs immerhin schon siebenunddreißig Jahre alt ist, in seiner eigenen Familie, die er vor einigen Jahren gegründet hat. Seine Frau, eine dunkle Schönheit, stammt aus einer südfranzösischen Familie des gehobenen Bürgertums, die nach Paris umgezogen ist. Die junge Frau führt, um Geld zu verdienen, eine Zeit lang sogar ein kleines Hutmachergeschäft. Das Ehepaar hat zwei Kinder, außerdem bringt Matisse Marguerite mit, seine uneheliche Tochter. Marguerite, die sich mit ihrer großherzigen Stiefmutter regelrecht anfreundete, wurde zum Liebling der Familie und von ihrem Vater auf mehreren Bildern verewigt.
Hilary Spurlings Biografie folgt dem bewährten angelsächsischen Erzählmuster, das auf Dickens und letztlich auf Shakespeare zurückgeht. Das heißt, jede Hauptfigur ist mit einem Kranz von Nebenfiguren umgeben. Jede von ihnen bekommt ihren Auftritt, in der das Drama ihres eigenen Lebens sichtbar wird. Marguerites Mutter, die Modistin Camille Joblaud, die Matisse fünf Jahre lang von ihrem Lohn unterstützt, ist solch eine Figur; oder der australische Maler John Russel, der eng mit van Gogh befreundet war und nun zu den engsten Freunden von Matisse gehört; dann der todkranke Schwarmgeist Mécislas Golberg, der wie ein Phantom in der Pariser Boheme umgeht; oder Henri Evenepoel, der kultivierte und vielversprechende junge belgische Malerfreund; nicht zu vergessen die merkwürdigen Verwandten von Madame Matisse, die sich in einen Betrugsskandal verwickeln, der zum Stoff eines Kolportageromans taugte.
Last but not least gehört zu den Nebenfiguren Picasso, der früh schon in Matisse den Konkurrenten erkennt, gegen den er mit aller Kraft anmalen muss. Selbst die "Demoiselles d'Avignon" sind eine Antwort auf den herrlichen "Blauen Akt", den Matisse kurz vorher fertig hatte. Ansonsten vertraut die Autorin der biografischen Rasterfahndung. Sie knüpft aus gut recherchierten Nebensachen ein dichtes Netz und hofft, dass die dicken Fische der Biografik zwangsläufig darin hängen bleiben. So macht sie es auch im Kapitel über den Aufenthalt des Malers in Collioure, wo Matisse 1905 Seite an Seite mit seinem jungen Freund André Derain arbeitet. Hierwird der Fauvismus, die erste Kunstrevolution des Jahrhunderts, geboren. Wir erfahren über den Ort und seine Geschichte, über die Kleidung von Derain und über die Wirtsleute von Matisse wirklich alles, was sich heute noch in Erfahrung bringen lässt, und das ist sogar etwas mehr, als wir eigentlich wissen wollten. Nur zu gerne wüssten wir stattdessen, was damals in den Köpfen der beiden vorging. Auch darüber teilt uns die Autorin einiges mit, schließlich gibt es Erinnerungen und Briefe.
Vergebens sucht man freilich den Namen Nietzsche, den Derain damals tatsächlich kannte und auf dessen Philosophie er sich berief. Auch Hilary Spurling zitiert den Briefwechsel Derains mit Vlaminck, in dem sich die Nietzsche-Passage findet, aber sie übersieht den weltanschaulich wichtigsten Brief, weil er nicht von Matisse handelt. In einem solchen Moment spürt man die Grenzen einer rein auf äußere Ereignisse gerichteten biografischen Methode. Glücklicherweise füllt Pierre Schneiders Monografie gerade diese Lücke und widmet der Nietzsche-Lektüre der jungen Maler eine erhellende Analyse, ganz abgesehen davon, dass inzwischen auch ein Brief von Derain an Matisse aufgetaucht ist, in dem von Nietzsche die Rede ist. Redlicherweise fragt sich die Autorin, warum wir heute noch Matisse dafür bewundern, dass er damals eine so radikale Farbenmalerei entwickelte. Aber mehr als ein konventionelles Lob wie für eine Art geistessportliche Rekordleistung fällt ihr nicht ein. Sie begreift zwar, welche Krisen Matisse in Collioure durchmacht, und sie begreift auch, wie radikal diese Malerei nach damaligen Maßstäben war. Und ihr ist auch klar, dass uns das alles noch immer gefällt. Aber sie weiß nicht recht, warum. Sie begreift nicht, dass Matisse echtes Lampenfieber hatte und vor jeder weißen Leinwand zurückfiel in die Todesangst des Kindes vor dem Verlust der ganzen Welt. Mit der Trance des Verängstigten schafft Matisse in jedem Bild neu die Welt, seine Welt, die Welt eines stammelnden Kindes, dessen Hand geheimnisvoll geführt wird von unbewussten Kräften. Das Unterbewusstsein ist es, das im Augenblick der höchsten Gefahr alles mobilisiert, was der Maler jemals gelernt und sich jemals erarbeitet hat. Wie bei Cézanne bleibt auf den Bildern viel vom leeren weißen Grund zu sehen.
Sobald der Bann der Leere gebrochen ist, ist es nicht mehr nötig, die Bildfläche pedantisch zuzumalen. Deshalb faszinieren seine Bilder ungebrochen noch heute. Sie verschaffen uns das Glück der Kindheit, weil die Angst des Kindes auf ihnen mit gemalt ist. Auf jedem seiner Bilder ist diese Angst präsent und auf jedem das Glück ihrer Überwindung durch die Kräfte des Unbewussten. Vielleicht ist Matisse der einzige freudianische Künstler überhaupt.
Hilary Spurling: "Der unbekannte Matisse". Eine Biographie 1869-1908. Aus dem Englischen von Jürgen Blasius. Dumont Buchverlag, Köln 1999. 542 S., 52 Abb., 24 Farbtafeln, geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Wunderkind war Matisse nicht, doch seine Malerei bewahrt das Wunder der Kindheit / Von Wilfried Wiegand
Der populärste Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, keine Frage, ist Pablo Picasso. Vorbei sind die Zeiten, da man ihn verteidigen musste, jeder hat heute das Gefühl, ihn ganz unmittelbar zu verstehen. Man muss nur das Publikum im Pariser Picasso-Museum beobachten, um zu begreifen, wie er ohne Umschweife bewundert und geliebt wird. Auch die kunsthistorische Forschung hat ein viel direkteres Verhältnis zu Picasso bekommen. Die philosophisch überanstrengten Interpretationen, mit denen der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler jahrzehntelang zu suggerieren verstand, Picasso sei eine Art malender Intellektueller, geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Die biografischen Wurzeln von Picassos Kunst liegen klar zu Tage. Die neueren Picasso-Biografien beschönigen nicht mehr, in welch erstaunlichem Maß seine Kunst der Bewältigung privater Probleme diente. Picasso ist von einem komplizierten zu einem einfachen Fall geworden.
Ganz anders verhält es sich mit Henri Matisse, Picassos einzigem ebenbürtigen Rivalen. Seine vermeintlich unkomplizierte Kunst wurde viel geliebt und wenig gedeutet. Korrekt mit dem Etikett "Fauvismus" versehen, schlummerte sie als stilgeschichtliche Karteileiche in den Archiven der Kunstgeschichte. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten - durch Pierre Schneiders Monografie von 1984 und die große Retrospektive von 1992 - beginnt sie allmählich in ihrer Kompliziertheit, ihrem Reichtum, ihrer Rätselhaftigkeit und Intellektualität sichtbar zu werden. Geht man durch Europas bestes Museum für moderne Kunst, das vom Picasso-Forscher Werner Spies neu geordnete Musée d'Art Moderne im Centre Pompidou, dann fällt auf, wie Picasso an mehreren Punkten geradezu gewaltsam zu Hilfe geholt werden muss, damit Matisse nicht das ganze Jahrhundert überstrahlt. Seine nicht auf Zerstörung, sondern auf Schönheit zielende Kunst hält jeder Nachbarschaft stand, mühelos behauptet sie sich neben Picasso. Sollte das Jahrhundert, das wir uns angewöhnt haben, das Jahrhundert Picassos zu nennen, in Wahrheit das Jahrhundert von Matisse gewesen sein?
Wir wissen wenig über Matisse. Wiewohl er zwölf Jahre älter war als Picasso und schon als Bürgerschreck galt, als kaum jemand Picasso kannte, wurden über den Jüngeren doch früh schon Erinnerungen, oft mit enthüllendem Unterton, veröffentlicht, während sich für das Privatleben des Älteren offenbar niemand interessierte. Picasso war ein Bohemien, zeitlebens in Liebesaffären verstrickt und von Literaten umgeben, in solchem Milieu gedeihen Legenden.
Matisse hingegen bemühte sich um ein bürgerliches Leben und hielt, sobald es darin nicht mehr ganz so bürgerlich zuging, zumindest die Fassade aufrecht. Auch so entsteht eine Legende, die Legende vom uninteressanten Spießbürger, der Matisse angeblich war. Dass sie nicht der Wahrheit entspricht, ließ sich den älteren biographischen Versuchen kaum entnehmen, überall führte Rücksichtnahme auf Familienangehörige Regie.Matisse ist 1954 gestorben, und heute erst, nach fast einem halben Jahrhundert, halten wir endlich eine brauchbare Biografie in Händen. Hilary Spurling, eine Londoner Literaturkritikerin, hat sie nicht nur mit Liebe zum Detail, sondern durchaus auch mit Sinn für die Größe ihres Gegenstandes recherchiert. Sie ist freilich keine Kunsthistorikerin, und der wohlfeile Vorwurf, sie gehe zu wenig auf die künstlerischen Aspekte ein, blieb ihr nicht erspart. Der Vorwurf ist nicht völlig unberechtigt, mindert aber nicht die großen Verdienste ihres Buches, das uns den Künstler näher und genauer zeigt, als wir ihn jemals gekannt haben. Hoffen wir, dass der geplante zweite Band das Niveau des ersten hält.
Henri Matisse wird im Norden Frankreichs, in der Picardie, geboren. Er verbringt seine Kindheit und Jugend in einer fast flämisch geprägten Welt. Sogar der Familienname ist flämischen Ursprungs, Matisse ist die Französisierung von Mathis. Er wächst in einer Kleinstadt heran, umgeben von einer trüben, lichtarmen Landschaft, in der die Wälder bis auf den letzten Baum abgeholzt wurden, um Rübenfeldern Platz zu machen. Vor diesem glanzlosen Hintergrund begreift man den lebenslangen Heißhunger auf Licht und Farben, der Matisse später in den Süden treibt. Falsch wäre es allerdings, die enge Welt seiner Kindheit kunstlos zu nennen. Als Matisse geboren wird, ist die ganze Gegend um die Stadt Saint-Quentin herum zum Standort einer entfesselten Textilindustrie geworden. Die Weber fertigen keineswegs nur Massenware, sondern sind berühmt für ihre ausgetüftelten Brokate, mit denen sie die Pariser Luxusboutiquen beliefern. Der gewebte Stoff ist das Medium, in dem sich der Schönheitssinn dieser Menschen Bahn bricht. Für Matisse werden dekorativ gemusterte Stoffe, wie Hilary Spurling treffend schreibt, das ganze Leben lang zu "strategischen Verbündeten" seiner Kunst. Aus ihrer Welt stammt auch die hochgemute Ansicht, dass Luxus etwas sei, was mit Geld und Status nichts zu tun habe, vielmehr eine Art demokratisierte Schönheit, die als üppiges Ornament jedermann zugänglich sei.
Picasso war ein Wunderkind. Matisse hingegen, in der Geschichte der Kunst ebenso selten, war ein ausgesprochener Spätling. Im Alter von vierzehn Jahren fällt dem Schüler auf, dass er eine zeichnerische Begabung besitzt. Aber er fühlt sich offenbar zur Kunst nicht sonderlich hingezogen. Als junger Mann lebt er ein Jahr lang in Paris, um sich zum Anwaltsgehilfen ausbilden zu lassen. Er scheint nicht auf die Idee gekommen zu sein, dort die Museen zu besuchen.
Zur Kunst bekehrt wird er als Zwanzigjähriger, als er im Krankenhaus beobachtet, wie ein Mitpatient sich mit einem Malkasten beschäftigt. Auch diese Anekdote ist aufschlussreich für seine ganze künftige Kunst. Denn Matisse hat immer das Glück im Auge. Er stellt es nicht nur dar, er will ausdrücklich, dass auch die Betrachter seiner Bilder daran teilhaben. Matisse will glücklich machen. Ein therapeutischer Impuls ist seiner Kunst nicht fremd. Matisse, der den Laden der Eltern nicht übernehmen will, schafft es schließlich, den hartnäckigen Widerstand seines Vaters zu überwinden. Er darf Kunst studieren. Zuerst besucht er die Zeichenschule in Saint-Quentin, die für die Ausbildung von Textildesignern gegründet wurde, dann geht er nach Paris an die private Académie Julian, wo der Salonmaler Bougereau die Studenten für die Aufnahmeprüfung zur École des Beaux-Arts trainiert.
Matisse schafft die Prüfung vorerst nicht, aber der Symbolist Gustave Moreau öffnet ihm sein Atelier. Matisse profitiert lange von der legendären pädagogischen Großzügigkeit Moreaus, durch dessen goldschmiedehaften Stil er sich in seiner Neigung zum Ornament und zu kostbaren Materialien bestätigt sieht. Zu seinen Lehrern gehören außerdem der Maler Carrière und der Bildhauer Bourdelle - eine Phalanx großer Namen. Wie alle Spätlinge hat Matisse viel nachzuholen. Wirklich bekannt wird er erst durch seinen Skandalerfolg auf dem Pariser Herbstsalon von 1905. Ein Kritiker bemerkt dort eine klassisch geformte Skulptur zwischen den Bildern der wilden jungen Maler, und dieses Beisammensein kommt ihm vor "wie Donatello zwischen den wilden Tieren". Damit ist das Schlagwort von den "fauves" geboren, das schon bald die journalistische Runde macht. Zum Chef der Fauves wird Matisse deklariert. Obwohl seine Künstlerfreunde sich niemals als Gruppe empfunden haben, wird Matisse dennoch die richtige Rolle zugeschrieben.
Er ist rund zehn Jahre älter als die meisten und spürbar der Radikalste. Obwohl die meisten Kritiker noch jahrelang seine etwas harmloseren Kollegen favorisieren werden, mischt sich in die Erwähnung von Matisse zunehmend ein schüchterner Respekt. Ohne erklären zu können, warum er besser ist als die anderen, scheint doch jeder die Klarheit, Kraft und Entschiedenheit seiner Kunst zu spüren. Unterstützung vom Vater bekommt der Eigenbrötler Henri damals nicht mehr.
Der Vater hat das Vertrauen verloren, als er begreifen musste, dass der Sohn keine Karriere als akademischer Maler ins Auge fasst. Trost findet der Maler, der zur Zeit seines Skandalerfolgs immerhin schon siebenunddreißig Jahre alt ist, in seiner eigenen Familie, die er vor einigen Jahren gegründet hat. Seine Frau, eine dunkle Schönheit, stammt aus einer südfranzösischen Familie des gehobenen Bürgertums, die nach Paris umgezogen ist. Die junge Frau führt, um Geld zu verdienen, eine Zeit lang sogar ein kleines Hutmachergeschäft. Das Ehepaar hat zwei Kinder, außerdem bringt Matisse Marguerite mit, seine uneheliche Tochter. Marguerite, die sich mit ihrer großherzigen Stiefmutter regelrecht anfreundete, wurde zum Liebling der Familie und von ihrem Vater auf mehreren Bildern verewigt.
Hilary Spurlings Biografie folgt dem bewährten angelsächsischen Erzählmuster, das auf Dickens und letztlich auf Shakespeare zurückgeht. Das heißt, jede Hauptfigur ist mit einem Kranz von Nebenfiguren umgeben. Jede von ihnen bekommt ihren Auftritt, in der das Drama ihres eigenen Lebens sichtbar wird. Marguerites Mutter, die Modistin Camille Joblaud, die Matisse fünf Jahre lang von ihrem Lohn unterstützt, ist solch eine Figur; oder der australische Maler John Russel, der eng mit van Gogh befreundet war und nun zu den engsten Freunden von Matisse gehört; dann der todkranke Schwarmgeist Mécislas Golberg, der wie ein Phantom in der Pariser Boheme umgeht; oder Henri Evenepoel, der kultivierte und vielversprechende junge belgische Malerfreund; nicht zu vergessen die merkwürdigen Verwandten von Madame Matisse, die sich in einen Betrugsskandal verwickeln, der zum Stoff eines Kolportageromans taugte.
Last but not least gehört zu den Nebenfiguren Picasso, der früh schon in Matisse den Konkurrenten erkennt, gegen den er mit aller Kraft anmalen muss. Selbst die "Demoiselles d'Avignon" sind eine Antwort auf den herrlichen "Blauen Akt", den Matisse kurz vorher fertig hatte. Ansonsten vertraut die Autorin der biografischen Rasterfahndung. Sie knüpft aus gut recherchierten Nebensachen ein dichtes Netz und hofft, dass die dicken Fische der Biografik zwangsläufig darin hängen bleiben. So macht sie es auch im Kapitel über den Aufenthalt des Malers in Collioure, wo Matisse 1905 Seite an Seite mit seinem jungen Freund André Derain arbeitet. Hierwird der Fauvismus, die erste Kunstrevolution des Jahrhunderts, geboren. Wir erfahren über den Ort und seine Geschichte, über die Kleidung von Derain und über die Wirtsleute von Matisse wirklich alles, was sich heute noch in Erfahrung bringen lässt, und das ist sogar etwas mehr, als wir eigentlich wissen wollten. Nur zu gerne wüssten wir stattdessen, was damals in den Köpfen der beiden vorging. Auch darüber teilt uns die Autorin einiges mit, schließlich gibt es Erinnerungen und Briefe.
Vergebens sucht man freilich den Namen Nietzsche, den Derain damals tatsächlich kannte und auf dessen Philosophie er sich berief. Auch Hilary Spurling zitiert den Briefwechsel Derains mit Vlaminck, in dem sich die Nietzsche-Passage findet, aber sie übersieht den weltanschaulich wichtigsten Brief, weil er nicht von Matisse handelt. In einem solchen Moment spürt man die Grenzen einer rein auf äußere Ereignisse gerichteten biografischen Methode. Glücklicherweise füllt Pierre Schneiders Monografie gerade diese Lücke und widmet der Nietzsche-Lektüre der jungen Maler eine erhellende Analyse, ganz abgesehen davon, dass inzwischen auch ein Brief von Derain an Matisse aufgetaucht ist, in dem von Nietzsche die Rede ist. Redlicherweise fragt sich die Autorin, warum wir heute noch Matisse dafür bewundern, dass er damals eine so radikale Farbenmalerei entwickelte. Aber mehr als ein konventionelles Lob wie für eine Art geistessportliche Rekordleistung fällt ihr nicht ein. Sie begreift zwar, welche Krisen Matisse in Collioure durchmacht, und sie begreift auch, wie radikal diese Malerei nach damaligen Maßstäben war. Und ihr ist auch klar, dass uns das alles noch immer gefällt. Aber sie weiß nicht recht, warum. Sie begreift nicht, dass Matisse echtes Lampenfieber hatte und vor jeder weißen Leinwand zurückfiel in die Todesangst des Kindes vor dem Verlust der ganzen Welt. Mit der Trance des Verängstigten schafft Matisse in jedem Bild neu die Welt, seine Welt, die Welt eines stammelnden Kindes, dessen Hand geheimnisvoll geführt wird von unbewussten Kräften. Das Unterbewusstsein ist es, das im Augenblick der höchsten Gefahr alles mobilisiert, was der Maler jemals gelernt und sich jemals erarbeitet hat. Wie bei Cézanne bleibt auf den Bildern viel vom leeren weißen Grund zu sehen.
Sobald der Bann der Leere gebrochen ist, ist es nicht mehr nötig, die Bildfläche pedantisch zuzumalen. Deshalb faszinieren seine Bilder ungebrochen noch heute. Sie verschaffen uns das Glück der Kindheit, weil die Angst des Kindes auf ihnen mit gemalt ist. Auf jedem seiner Bilder ist diese Angst präsent und auf jedem das Glück ihrer Überwindung durch die Kräfte des Unbewussten. Vielleicht ist Matisse der einzige freudianische Künstler überhaupt.
Hilary Spurling: "Der unbekannte Matisse". Eine Biographie 1869-1908. Aus dem Englischen von Jürgen Blasius. Dumont Buchverlag, Köln 1999. 542 S., 52 Abb., 24 Farbtafeln, geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als erste "brauchbare Biografie" des Malers lobt Wilfried Wiegand diesen ersten Band des Buches über den französischen Maler von der britischen Literaturkriterin. Er stellt Matisse zu Anfang Picasso gegenüber und fragt sich, ob nicht am Ende Matisse als der bedeutendere Künstler des letzten Jahrhunderts entdeckt werden wird. Den größte Teil seiner ausführlichen Besprechung widmet er einer Nacherzählung des Lebensweges von Matisse, seiner Herkunft aus Nordfrankreich, seiner späten Entdeckung der Kunst und seiner eigenen Begabung für sie, seines Skandalerfolgs 1905 auf dem Pariser Herbstsalon, über den der Begriff des Fauvismus geprägt wird, und seiner Familie samt unehelicher Tochter des Malers, die mit seiner legalen Familie lebte. Wiegand bezeichnet die Methode der Autorin als "biografische Rasterfahndung": manchmal erfährt man zu viele Details, Gewichtungen werden dadurch aber nicht automatisch vorgenommen. Dennoch lobt er auch ihren angelsächsischen Blick für die Bedeutung von "Nebenfiguren", die alle ihren eigenen "Auftritt" bekommen, durch den das Drama ihres eigenen Lebens neben dem der Hauptfigur sichtbar wird. Als entschiedenen Mangel empfindet es Wiegand, dass sich die Autorin nicht recht einfühlen kann in die künstlerische "Angst" vor der leeren Leinwand, von der Matisse` Bilder laut Wiegand ebenso zeugen wie vom kindlichen Glück, diese Angst gebannt zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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