Ein literarischer Krimi über die Unschärfen der Wahrheit - der neue Roman des Krimipreisträgers Matthias Wittekindt!Ein betrunkener Fahrer, Regen, eine alte Straße mit wassergefüllten Spurrillen. In der Rue Bisson hat es einen tödlichen Autounfall gegeben. Doch war es wirklich ein Unfall? Warum ist Michel Descombes so schnell gefahren, als sei er auf der Flucht?Lieutenant Ohayon beginnt, im Freundeskreis des Fahrers zu ermitteln. Diese Leute gehören zu den Gewinnern im aufstrebenden Fleurville: Sie treffen sich regelmäßig zu Sport und Drinks im Lacombe, dem exklusivsten Club der Stadt. Sie arbeiten als Makler, Versicherer, Psychiater, eine hat ein Tonstudio. Ganz offenbar die typische aufstrebende Schickeria, aber was wissen sie selbst über sich, über einander, und was davon geben sie preis?Und was bereitet Alain Chartier, dem besten Freund des Toten, solche Sorgen, dass sein Leben aus der Spur zu geraten scheint wie Michels Auto? Einige Leute aus dem Kreis scheinen sofort verdächtig, aber schon bald ist nichts mehr so, wie es zuerst schien in diesem Gespinst aus Spekulationen, aus Freundschaftsdiensten und Angst vor Gesichtsverlust, in dem sich selbst Ohayons Intuition zu verheddern droht. Und der allwissende Erzähler ist zwar kommentierfreudig, aber eher unzuverlässig. Wittekindt'sche Unschärfenarration at its best!
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buecher-magazin.deEin tödlicher Autounfall, zunächst scheint alles klar zu sein: Michel hatte getrunken, fuhr zu schnell, Spurrillen, heftiger Regen, ein Baum - und Schluss. Doch Polizeileutnant Ohayon befragt die Clique und wundert sich über Schuldgefühle und ausweichende Antworten. Je tiefer er in das Beziehungsgeflecht der jungen Aufsteiger der französischen Kleinstadt Fleurville vordringt, desto intensiver entwickelt sich die Dynamik von Abneigungen, Lügen und Enttäuschungen. Warum verliert sein Freund Alain immer mehr den Halt, und was verbindet die Psychiaterin Yvonne, die Musikproduzentin Nina und die rotgekleidete Melissa miteinander? Wittekindt verknüpft die Blickwinkel aller Akteure und zieht die Leser mit leichtem Schwung in ihre Geschicke hinein. Jedes kleine Puzzleteil gewinnt in dieser Stadt im Umbruch eine Bedeutung, und man wird an die dichte Atmosphäre der Filme Truffauts erinnert: Man sieht einen Ort, umkreist eine Figur, sieht ihr zu, und gerade, wenn man glaubt, im Bilde zu sein, verschiebt sich der Fokus - und alles ist wieder offen. Um seinen gemächlichen Ermittler Ohayon herum erschafft der Autor einen Kosmos mit Sogwirkung und bietet eine erstklassige Milieustudie.
© BÜCHERmagazin, Lore Kleinert
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2017Gendarm mit Charme
Matthias Wittekindt verfährt sich in der Rue Bisson
Da ist ein Halbtoter an einem regnerischen Abend im Spätwinter, der mit seinem Auto in einen Baum am Straßenrand gekracht ist, vielleicht bei einem riskanten Überholmanöver. Der Mann stirbt im Krankenhaus, sein schnuckeliger orangefarbener 2002er BMW ist Schrott. Michel Descombe war Mitglied eines Freundeskreises von aufstrebenden Besserverdienern in der französischen Provinz, der sich im "Centre Fleur", einer gehobenen Fitnessbude mit Tennisplätzen und Bistro, mehrmals wöchentlich ertüchtigte. Mit dabei auch die kapriziöse Psychologin Yvonne, die kühle Musikproduzentin Nina und der hübsche, teuer gekleidete Alain.
Den Unfall in der Rue Bisson ermittelt Lieutenant Ohayon, kein auffälliger Polizist, irgendwie sehr französisch und mit einer deutlichen, durchaus sympathischen Priorität bei den festen Regeln seines Privatlebens. Ohayon hat seine eigenen Methoden, an die verdächtigen Dinge in der Kleinstadt Fleurville heranzugehen, seine Verhöre, beginnen stets wie freundliche Unterhaltungen. Und Matthias Wittekindt gibt sich erfolgreich Mühe, seine Geschichte von der für Krimis notorischen Hektik freizuhalten. Er will uns ersichtlich mit denselben zerfahrenen Fakten konfrontieren, wie sie sich Ohayon darbieten. Er meint es gewiss gut mit seiner Taktik der Entschleunigung.
Für die Leser ist das aber leider nicht ganz so gut. Sie müssen sich auf den gerade mal 220 Seiten eine Menge Informationen und Personal merken, die in einem assoziativen, manchmal elliptischen Stil ins Spiel kommen. Am Ende sind wir, rein lösungstechnisch, überfordert. Zweifellos hat Wittekindt Sinn für Atmosphäre, in charmanten Umschweifen zum Beispiel so: "Es gibt diesen wunderbar bodenständigen Satz: Nun lass mal die Kirche im Dorf. Und weil die Kirche eben im Dorf bleibt, sind Verkehrsunfälle, solange kein Promi verstrickt ist, definitiv nichts für die Titelseite." Ohne die Dorfkirche wäre der Lesefluss freilich ungestörter. Wie überhaupt den Windungen eines Handlungsstrangs hinterherzuspüren ist, der sich immer weiter zerfasert. Man begreift die gute Absicht - sind wir nicht alle ein bisschen Lieutenant Ohayon, ganz generell dem Leben, dieser komplizierten Angelegenheit, gegenüber? Und auch die Leute um das Unfallopfer in der Rue Bisson herum tragen ihr Päckchen, tun wir das nicht alle?
Das Problem ist bloß: Die kommen nicht aus ihrer Verpuppung als Typen heraus, sie dürfen nicht Charaktere werden. Sie bleiben in der Mediokrität aufstrebender Endzwanziger bis Mittdreißiger stecken, die mehr Geld ausgeben, als sie haben. Nicht einmal Ohayon selbst wird richtig greifbar. Wir können nicht umhin, ihn uns wie einen Inspektor Columbo in der Diaspora vorzustellen, bloß im Blouson, ohne Hund, dafür mit Familie, und ohne Colombos finalen Biss.
Was war jetzt also los beim Unfall in der Rue Bisson? Mindestens ein anderes, rotes Auto war dort noch unterwegs. Irgendwo da übrigens liegt die Lösung des Falls - falls es einer war. Ohayon hat getan, was er konnte, auch dafür hält ein hehrer Vergleich her: "Als Epiphanie bezeichnet man ursprünglich das Erscheinen einer Gottheit. Häufig wurden solche Erscheinungen von Blitzen, einem Feuer oder anderen Leuchterscheinungen begleitet." Darauf kann eine bescheidene Gendarmerie natürlich nicht warten, Leser auch nicht so wirklich. Hätten es nicht Intuition oder Gespür auch getan?
Und jetzt wird uns noch Ohayons spezielle Fähigkeit plastisch gemacht: "Nun, seine Kühnheit zeigt sich darin, dass er scheinbar wichtige Begebenheiten und Zusammenhänge zwar registriert, sie aber nicht gleich bewertet. Ohayons Methodik scheint im Gegenteil darin zu bestehen, die Zeugnisse eben nicht in einem Zusammenhang zu sehen und die Auswertung zunächst zu verweigern. Offenbar meint er, anders sei der Wahrheit nicht beizukommen." Zu diesem Zeitpunkt haben wir mit Ohayon aber schon so viele Zeugen an uns vorbeiziehen sehen, dass wir das sowieso glauben.
Interessant werden die Ereignisse gegen Ende einmal, als es um einen anderen Unfall geht. Wenn der Roman eine Pointe hat, der ihn zum Kriminalroman machen würde, dann liegt sie eventuell bei diesem früheren Geschehen. Denn dort zeichnet sich zumindest die Möglichkeit ab, dass ein Autounfall auf regennasser Straße, der vor einigen Jahren woanders geschah, mit einer der Personen aus dem "Centre Fleur" zu tun hat. Damals war ein Mann in einem silbernen Mercedes ebenfalls zu schnell unterwegs. Dessen Ableben von niemand ehrlich betrauert wurde. Aber das muss nicht Lieutenant Ohayons Problem sein, sondern das der zwei Menschen, die damit weiterzuleben haben. Ohayon macht lieber in Harmonie en famille. Den Leser macht das nicht glücklich.
ROSE-MARIA GROPP
Matthias Wittekindt: "Der Unfall in der Rue Bisson". Kriminalroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2016. 224 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Matthias Wittekindt verfährt sich in der Rue Bisson
Da ist ein Halbtoter an einem regnerischen Abend im Spätwinter, der mit seinem Auto in einen Baum am Straßenrand gekracht ist, vielleicht bei einem riskanten Überholmanöver. Der Mann stirbt im Krankenhaus, sein schnuckeliger orangefarbener 2002er BMW ist Schrott. Michel Descombe war Mitglied eines Freundeskreises von aufstrebenden Besserverdienern in der französischen Provinz, der sich im "Centre Fleur", einer gehobenen Fitnessbude mit Tennisplätzen und Bistro, mehrmals wöchentlich ertüchtigte. Mit dabei auch die kapriziöse Psychologin Yvonne, die kühle Musikproduzentin Nina und der hübsche, teuer gekleidete Alain.
Den Unfall in der Rue Bisson ermittelt Lieutenant Ohayon, kein auffälliger Polizist, irgendwie sehr französisch und mit einer deutlichen, durchaus sympathischen Priorität bei den festen Regeln seines Privatlebens. Ohayon hat seine eigenen Methoden, an die verdächtigen Dinge in der Kleinstadt Fleurville heranzugehen, seine Verhöre, beginnen stets wie freundliche Unterhaltungen. Und Matthias Wittekindt gibt sich erfolgreich Mühe, seine Geschichte von der für Krimis notorischen Hektik freizuhalten. Er will uns ersichtlich mit denselben zerfahrenen Fakten konfrontieren, wie sie sich Ohayon darbieten. Er meint es gewiss gut mit seiner Taktik der Entschleunigung.
Für die Leser ist das aber leider nicht ganz so gut. Sie müssen sich auf den gerade mal 220 Seiten eine Menge Informationen und Personal merken, die in einem assoziativen, manchmal elliptischen Stil ins Spiel kommen. Am Ende sind wir, rein lösungstechnisch, überfordert. Zweifellos hat Wittekindt Sinn für Atmosphäre, in charmanten Umschweifen zum Beispiel so: "Es gibt diesen wunderbar bodenständigen Satz: Nun lass mal die Kirche im Dorf. Und weil die Kirche eben im Dorf bleibt, sind Verkehrsunfälle, solange kein Promi verstrickt ist, definitiv nichts für die Titelseite." Ohne die Dorfkirche wäre der Lesefluss freilich ungestörter. Wie überhaupt den Windungen eines Handlungsstrangs hinterherzuspüren ist, der sich immer weiter zerfasert. Man begreift die gute Absicht - sind wir nicht alle ein bisschen Lieutenant Ohayon, ganz generell dem Leben, dieser komplizierten Angelegenheit, gegenüber? Und auch die Leute um das Unfallopfer in der Rue Bisson herum tragen ihr Päckchen, tun wir das nicht alle?
Das Problem ist bloß: Die kommen nicht aus ihrer Verpuppung als Typen heraus, sie dürfen nicht Charaktere werden. Sie bleiben in der Mediokrität aufstrebender Endzwanziger bis Mittdreißiger stecken, die mehr Geld ausgeben, als sie haben. Nicht einmal Ohayon selbst wird richtig greifbar. Wir können nicht umhin, ihn uns wie einen Inspektor Columbo in der Diaspora vorzustellen, bloß im Blouson, ohne Hund, dafür mit Familie, und ohne Colombos finalen Biss.
Was war jetzt also los beim Unfall in der Rue Bisson? Mindestens ein anderes, rotes Auto war dort noch unterwegs. Irgendwo da übrigens liegt die Lösung des Falls - falls es einer war. Ohayon hat getan, was er konnte, auch dafür hält ein hehrer Vergleich her: "Als Epiphanie bezeichnet man ursprünglich das Erscheinen einer Gottheit. Häufig wurden solche Erscheinungen von Blitzen, einem Feuer oder anderen Leuchterscheinungen begleitet." Darauf kann eine bescheidene Gendarmerie natürlich nicht warten, Leser auch nicht so wirklich. Hätten es nicht Intuition oder Gespür auch getan?
Und jetzt wird uns noch Ohayons spezielle Fähigkeit plastisch gemacht: "Nun, seine Kühnheit zeigt sich darin, dass er scheinbar wichtige Begebenheiten und Zusammenhänge zwar registriert, sie aber nicht gleich bewertet. Ohayons Methodik scheint im Gegenteil darin zu bestehen, die Zeugnisse eben nicht in einem Zusammenhang zu sehen und die Auswertung zunächst zu verweigern. Offenbar meint er, anders sei der Wahrheit nicht beizukommen." Zu diesem Zeitpunkt haben wir mit Ohayon aber schon so viele Zeugen an uns vorbeiziehen sehen, dass wir das sowieso glauben.
Interessant werden die Ereignisse gegen Ende einmal, als es um einen anderen Unfall geht. Wenn der Roman eine Pointe hat, der ihn zum Kriminalroman machen würde, dann liegt sie eventuell bei diesem früheren Geschehen. Denn dort zeichnet sich zumindest die Möglichkeit ab, dass ein Autounfall auf regennasser Straße, der vor einigen Jahren woanders geschah, mit einer der Personen aus dem "Centre Fleur" zu tun hat. Damals war ein Mann in einem silbernen Mercedes ebenfalls zu schnell unterwegs. Dessen Ableben von niemand ehrlich betrauert wurde. Aber das muss nicht Lieutenant Ohayons Problem sein, sondern das der zwei Menschen, die damit weiterzuleben haben. Ohayon macht lieber in Harmonie en famille. Den Leser macht das nicht glücklich.
ROSE-MARIA GROPP
Matthias Wittekindt: "Der Unfall in der Rue Bisson". Kriminalroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2016. 224 S., br., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Elmar Krekeler freut sich auf den Herbst, solange er die Krimis von Matthias Wittekindt hat. Dieser neue hier entzückt den Rezensenten mit schön ungemütlichem Nieselwetter und einem roten BMW 2002, der leider am Baum klebt. Wie der Fahrer ums Leben kam, das ermittelt Wittekindts Serienschnüffler Ohayon. Aber wichtiger ist Krekeler noch, wie der Autor seinen Provinzkrimi erzählt, mit leichter Unschärfe nämlich, wie durch Regen geschaut, meint Krekeler. Die großen Fragen um Schuld und Sühne, die der Roman durchaus wälzt, erscheinen so "gelindert" oder verschleiert, wie Krekeler schreibt. Das macht ihn ganz süchtig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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