Alain de Libera schildert die weitreichende Geschichte des Universalien-Problems, das bereits Platon und Aristoteles beschäftigte, minutiös und aufschlussreich zugleich. Sein methodisches Vorgehen erinnert dabei an Foucault, vor allem aber an den Nietzsche der Genealogie der Moral. Im Unterschied zur analytischen Philosophie des angelsächsischen Raums, die in ihrer 'Geschichtsschreibung' dazu neigt, aktuelle Positionen in die Vergangenheit zu projizieren, untersucht de Libera den Gegensatz zwischen Realisten und Nominalisten nicht zeitenthoben unter dem Blickwinkel einer vermeintlichen Wahrheit, sondern fragt nach den Entstehungsbedingungen des Universalienstreits und seiner Bedeutung für das Denken. Dabei zeigt sich, daß dieser Streit wie kein anderer philosophische Innovationsschübe bewirkt hat. Nirgendwo sonst läßt sich die Entstehung neuer Theoriesprachen, neuer Modelle und Instrumente der Analyse so gut beobachten wie hier, man denke etwa an den Begriff der Intentionalität, die Lehre vom Zeichen, die Theorie der Abstraktion. All diese typisch mittelalterlichen Errungenschaften werden von de Libera in ihrem historischen Kontext analysiert, gleichzeitig aber in einen Horizont gerückt, der ihr Modernitätspotential sichtbar macht. Aus dem Inhalt 1. Ein Problem voller Probleme 2. Vom griechischen Neuplatonismus zum arabischen Peripatetismus 3. Das Frühmittelalter und der Universalienstreit 4. Die arabische Scholastik 5. Die lateinische Scholastik des 13. Jahrhunderts 6. Die Revolution des 14. Jahrhunderts
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2006Kraftvoll in den Apfel beißen
Alain de Liberas Klassiker über den Universalienstreit
Endlich kann man dieses überragende, schwer übersetzbare Werk der Philosophiegeschichte auch in deutscher Sprache lesen. Witzig und gelehrt bilanziert Alain de Libera die mittelalterliche Schlüsseldebatte über die Universalien.
In die Frage nach dem Allgemeinen (Universale) kann man sich leicht verwickeln. Denn in vielen Sätzen identifizieren wir einen einzelnen Gegenstand und sagen, was er ist. Wir sagen: "Das ist ein Apfel." Achtet man einmal darauf, daß das Wort "Apfel" auf alle Äpfel zutrifft, dann bekommt man ein Problem, genau genommen sogar mehrere. Denn was berechtigt mich dazu, den einzelnen Apfel, in den ich gerade kraftvoll hineinbeiße, mit einem allgemeinen Ausdruck zu belegen?
Jedenfalls verschwinden, wenn ich so rede, die charakteristischen Besonderheiten meines Apfels - wo er gewachsen ist und daß ich in ihn hineingebissen habe. Sind Herkunft und augenblicklicher Zustand unwesentlich? Welchen Anspruch hat meine allgemeine Bezeichnung, wenn doch immer nur einzelne Äpfel gegeben sind? Dann läßt sich weiter grübeln: Sind solche allgemeinen Wörter nicht gewalttätige Konstruktionen, die wir über die individuellen Dinge legen, um uns im Chaos unserer Eindrücke zurechtzufinden? Oder gibt es wirklich Arten, Spezies? Und war der Reichsapfel ein Apfel?
Solche Fragen drängen sich auf, wenn man identifiziert und dabei das Besondere wegläßt. Dennoch gab es Jahrzehnte, vor allem im neunzehnten Jahrhundert, denen es als ausgemacht galt, solche Fragen seien nur "scholastische" Finessen, die man früher einmal unter dem Namen "Universalienstreit" getrieben habe, um die man sich aber nicht mehr zu kümmern brauche, solange die Sprache nur einigermaßen funktioniere. Einige Philosophiehistoriker stellten es so dar, als sei die Philosophie des Mittelalters nichts anderes gewesen als ein unnützer gelehrter Zank um das Problem des Universale: ob das Allgemeine in den Dingen sei oder nur in unseren Vokabeln, in bloßen "Namen". Wer behauptete, es sei nur in den Namen, hieß "Nominalist", wer dagegen die Realität des Allgemeinen verteidigte, hieß "Realist". Die Philosophie des Mittelalters, dachte man, sei im wesentlichen zu beschreiben als der Konflikt zwischen Nominalismus und Realismus.
Diese Position vertritt heute niemand mehr. Mancher Forscher konnte zeigen, daß die Denker des Mittelalters eine ganze Reihe "ernsthafter" Fragen erörtert haben, zum Beispiel die Meßbarkeit von Naturvorgängen oder den Sinn der Monarchie. Es entstand so ein Widerwille gegen die konventionell gewordene Überbetonung des Universalienproblems und seiner Rolle im Mittelalter. Es war lästig, sich mit der ewig klappernden Frage zu beschäftigen, ob das Universale vor oder in oder nach den Dingen sei. Dabei war die Ansicht von der zentralen Bedeutung des Universalienproblems nicht von ungefähr entstanden: Es gibt spätmittelalterliche Texte, die sie in den Mittelpunkt rücken; in manchen Universitätsstädten des fünfzehnten Jahrhunderts gab es getrennte eigene Studienhäuser für die Nominalisten und die Realisten, wobei die "Realisten" die Mehrheit darstellten, aber in die zerstrittenen Gruppen der Albertisten, Thomisten und Skotisten zerfielen. Doch gilt das für das fünfzehnte Jahrhundert und erlaubt keine Rückdatierung auf die vorhergehende Zeit. Im fünfzehnten Jahrhundert kam es nördlich der Alpen nach den kühnen Gedankenexperimenten des vierzehnten Jahrhunderts zu einer konservativen Rückwendung oder, wie Alain de Libera schreibt, zu einer "ersten Neuscholastik".
Sein großes Buch geht das Problem, das nie vergessen war und sogar überschätzt wurde, neu an. Das liegt zunächst an seiner Methode, auf die er mehrfach zu sprechen kommt: Er kennt keinen überzeitlichen Zielpunkt, auf den die mittelalterliche Entwicklung zielstrebig zugelaufen wäre. Seine Geschichtsauffassung ist nicht teleologisch, sondern begibt sich hinaus auf das breite Meer der historischen Empirie. Er behandelt ein Problem von "langer Dauer", aber mit den Ewigkeiten der philosophia perennis hat er nichts im Sinn. Wo der Schein der Ewigkeit auftritt, wie beim Universalienproblem, ist er historisch zu erklären, das heißt: Es sind die Vermittlungsstellen, Texte, Personen und Strukturen aufzusuchen, welche die Weitergabe motiviert und Neufassungen hervorgetrieben haben.
Alain de Libera will "den realen Gang der Episteme" zeigen. Dazu muß er ins Detail gehen. Dies zu fordern wäre nun nichts Besonderes, aber Alain de Libera gelingt es, zu zeigen, daß sein detailfreudiger historischer Empirismus philosophischen Charakter behält. Er unterwandert die übliche Zweiteilung in Philosophiehistorie und systematischer Philosophie. Sein Buch ist nicht philologisch-historisch, sondern philosophisch-historisch, bei größtem Interesse am Detail. Es verbindet die Aufmerksamkeit auf einzelne Texte und die Erforschung philologisch sicherer Verbindungsschienen mit der eigentlich philosophischen Analyse. Darin liegt die unverwechselbare Eigenheit dieses Buches.
Alain de Libera zeigt, daß die philosophische Fassung des Problems auf Platon, besonders auf dessen "Menon", zurückgeht. In einer Serie von Disputen wiederholt sich die Platonkritik des Aristoteles. Die Frage nach der Wirklichkeit des Allgemeinen gehört also nicht in irgendeine Ecke des späten Mittelalters, sondern sie ist von Platon/Aristoteles ermöglicht, von dem spätantiken Autor Porphyrios vorgeprägt und von Boethius im Sinne der antiken Philosophie formuliert. Sie erfährt im zwölften Jahrhundert (Abaelard) eine neue Wendung, verändert sich wiederum unter dem Einfluß der arabischen Philosophie (Avicenna und Averroes), die Albert und Thomas von Aquino rezipieren und kritisieren; Duns Scotus setzt die platonisierende Linie des Avicenna fort, während Wilhelm von Ockham die Lösung des aristotelisierenden Averroes radikalisiert.
Diese kontrastierenden Lösungen entwickeln sich in einer Geschichte von "langer Dauer", aber, wie Alain de Libera hervorhebt, keineswegs als ewige Wiederkehr des Gleichen. Der Autor teilt die eher historistische Kritik an der Problemgeschichte, die das Allgemeine und das Besondere zu einem durchgehenden Thema der abendländischen Metaphysik stilisiert hat. Es gibt beim Universalienproblem Traditionen, aber sie wurden jeweils hergestellt, manchmal geradezu erfunden, und zwar unter den intellektuellen und geschichtlichen Bedingungen dessen, der sie wieder aufgriff. De Libera achtet ebenso auf die Abwandlungen in jeweils anderen Situationen wie auf die Kontinuität, nur postuliert er diese Kontinuität nicht als Programm seiner Historiographie, sondern sucht sie auf in der Präsenz beziehungsweise Nichtpräsenz von Texten. Insofern steht seine Art der Geschichtsschreibung den Positivisten näher, von denen er sich wieder unterscheidet durch intensive theoretische Analysen.
Alain de Libera lehrt in Genf und in Paris; er ist aber nicht nur gewaschen mit allen Wassern der Pariser Postmoderne, auf die angespielt wird, sondern gehört ebenso zur sprachanalytischen Philosophie. Er bringt die alten Texte in Verbindung zu gegenwärtigen Theorien, vermeidet es aber, die Differenzen zu verwischen und ältere Philosophen zu "Vorläufern" der neuesten zu machen. Er vergißt nicht die Zeitgrenzen, wenn er philosophische Dispute quer durch die Zeiten veranstaltet. Quine hat ihn angeregt, aber ebenso Foucault. Die Kompetenz für die Mittelalterforschung erwarb er bei den großen Pariser Gelehrten Paul Vignaux und Jean Jolivet. Dies, zusammen mit Aristotelesphilologie und intimer Kenntnis selbst abgelegener mittelalterliche Texte, ermöglichte Alain de Liberas ungewöhnlich differenziertes Buch.
Dessen methodische Konzeption, die einen raffinierten Mittelweg zwischen Historismus und Dogmatismus geht, gibt dem Buch seine philosophische Bedeutung, seine forschungsgeschichtliche Rolle und seinen ästhetischen Reiz. Wer mehr wissen will über die Averroes-Kritik des Thomas von Aquino oder über die Lehrdifferenzen der Logiker in Oxford und in Paris im vierzehnten Jahrhundert, muß bei de Libera Rat holen. Aber wer das Buch auch nur aus Interesse an einem bestimmten Stoff "konsultiert", wird feststellen, daß es nicht schwerfällig ist. Es ist subtil, manchmal auch kompliziert, aber zugleich ist es ein munteres, zuweilen keck-ironisches Buch. Es ist das Werk eines homme de lettres. Es erfreut, indem es belehrt. Es fängt schon gleich witzig an, indem es als Motto den Ausspruch von Jacques Chirac wählt: "Ich mag Äpfel überhaupt gerne." Was sind "Äpfel überhaupt"? Will er sagen: "Ich mag Äpfel an sich?" Schon sind wir mitten im Universalienproblem.
Ein gelegentlicher Nachteil für den deutschen Leser ist die Tatsache, daß das Buch jetzt zehn Jahre alt ist; die eigene Forschung des Autors und Studien anderer haben es stellenweise überholt. Der Autor liest und spricht perfekt Deutsch; er hat deutsche Texte Meister Eckharts übersetzt; er gehörte jahrelang zur Bochumer Arbeitsgruppe, die das "Corpus philosophorum teutonicorum medii aevi" herausbringt; er kennt ausgezeichnet die englische wie die deutsche Literatur zum Thema. Er hat ein Werk von universaler Weite geschaffen. Aber es fehlt zum Beispiel zum Problem der Intentionalität die neuere und wichtige Monographie von Dominik Perler.
Dieses Buch hat seinen Übersetzer Konrad Honsel vor fast unlösbare Probleme gestellt. Die französische Sprache steht der scholastischen Terminologie noch näher als die deutsche. Deutschen Lesern mußte mancher Terminus erst erklärt werden, den der französische Autor umstandslos gebrauchen durfte. Der Text ist überreich an historischen Informationen, sachlichen Perspektiven und literarischen Assoziationen. Diese Fülle in deutsche Sätze zu bringen, welche die Eleganz des französischen Originals - Alain de Libera ist auch Romanschriftsteller - wenigstens ahnen läßt, das ist fast unmöglich.
Der Übersetzer hat dies erkannt und macht durch eine Fülle von Erklärungen, Anhängen, Einschüben, Aus- und Einklammerungen auf seine Probleme aufmerksam. Dadurch brachte er einen nervösen und zerstückten Text zustande. Seine wohlbegründete Sorge, nur ja korrekt zu sein, macht er im Text ständig fühlbar. Das ist, wie wenn ein Simultandolmetscher sich dauernd räusperte. Zugegeben: Dieses Buch war nicht leicht zu übersetzen. Das ist die Rückseite seiner Vorzüge: Durch eine immense Stoffülle, zugleich aber durch Witz und Gelehrsamkeit, durch Raffinesse der Methodenreflexionen und wegen der Bedeutung seines Gegenstandes überragt es fast alles Vergleichbare.
KURT FLASCH
Alain de Libera: "Der Universalienstreit". Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. Aus dem Französischen von Konrad Honsel. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 508 S., geb., 69,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alain de Liberas Klassiker über den Universalienstreit
Endlich kann man dieses überragende, schwer übersetzbare Werk der Philosophiegeschichte auch in deutscher Sprache lesen. Witzig und gelehrt bilanziert Alain de Libera die mittelalterliche Schlüsseldebatte über die Universalien.
In die Frage nach dem Allgemeinen (Universale) kann man sich leicht verwickeln. Denn in vielen Sätzen identifizieren wir einen einzelnen Gegenstand und sagen, was er ist. Wir sagen: "Das ist ein Apfel." Achtet man einmal darauf, daß das Wort "Apfel" auf alle Äpfel zutrifft, dann bekommt man ein Problem, genau genommen sogar mehrere. Denn was berechtigt mich dazu, den einzelnen Apfel, in den ich gerade kraftvoll hineinbeiße, mit einem allgemeinen Ausdruck zu belegen?
Jedenfalls verschwinden, wenn ich so rede, die charakteristischen Besonderheiten meines Apfels - wo er gewachsen ist und daß ich in ihn hineingebissen habe. Sind Herkunft und augenblicklicher Zustand unwesentlich? Welchen Anspruch hat meine allgemeine Bezeichnung, wenn doch immer nur einzelne Äpfel gegeben sind? Dann läßt sich weiter grübeln: Sind solche allgemeinen Wörter nicht gewalttätige Konstruktionen, die wir über die individuellen Dinge legen, um uns im Chaos unserer Eindrücke zurechtzufinden? Oder gibt es wirklich Arten, Spezies? Und war der Reichsapfel ein Apfel?
Solche Fragen drängen sich auf, wenn man identifiziert und dabei das Besondere wegläßt. Dennoch gab es Jahrzehnte, vor allem im neunzehnten Jahrhundert, denen es als ausgemacht galt, solche Fragen seien nur "scholastische" Finessen, die man früher einmal unter dem Namen "Universalienstreit" getrieben habe, um die man sich aber nicht mehr zu kümmern brauche, solange die Sprache nur einigermaßen funktioniere. Einige Philosophiehistoriker stellten es so dar, als sei die Philosophie des Mittelalters nichts anderes gewesen als ein unnützer gelehrter Zank um das Problem des Universale: ob das Allgemeine in den Dingen sei oder nur in unseren Vokabeln, in bloßen "Namen". Wer behauptete, es sei nur in den Namen, hieß "Nominalist", wer dagegen die Realität des Allgemeinen verteidigte, hieß "Realist". Die Philosophie des Mittelalters, dachte man, sei im wesentlichen zu beschreiben als der Konflikt zwischen Nominalismus und Realismus.
Diese Position vertritt heute niemand mehr. Mancher Forscher konnte zeigen, daß die Denker des Mittelalters eine ganze Reihe "ernsthafter" Fragen erörtert haben, zum Beispiel die Meßbarkeit von Naturvorgängen oder den Sinn der Monarchie. Es entstand so ein Widerwille gegen die konventionell gewordene Überbetonung des Universalienproblems und seiner Rolle im Mittelalter. Es war lästig, sich mit der ewig klappernden Frage zu beschäftigen, ob das Universale vor oder in oder nach den Dingen sei. Dabei war die Ansicht von der zentralen Bedeutung des Universalienproblems nicht von ungefähr entstanden: Es gibt spätmittelalterliche Texte, die sie in den Mittelpunkt rücken; in manchen Universitätsstädten des fünfzehnten Jahrhunderts gab es getrennte eigene Studienhäuser für die Nominalisten und die Realisten, wobei die "Realisten" die Mehrheit darstellten, aber in die zerstrittenen Gruppen der Albertisten, Thomisten und Skotisten zerfielen. Doch gilt das für das fünfzehnte Jahrhundert und erlaubt keine Rückdatierung auf die vorhergehende Zeit. Im fünfzehnten Jahrhundert kam es nördlich der Alpen nach den kühnen Gedankenexperimenten des vierzehnten Jahrhunderts zu einer konservativen Rückwendung oder, wie Alain de Libera schreibt, zu einer "ersten Neuscholastik".
Sein großes Buch geht das Problem, das nie vergessen war und sogar überschätzt wurde, neu an. Das liegt zunächst an seiner Methode, auf die er mehrfach zu sprechen kommt: Er kennt keinen überzeitlichen Zielpunkt, auf den die mittelalterliche Entwicklung zielstrebig zugelaufen wäre. Seine Geschichtsauffassung ist nicht teleologisch, sondern begibt sich hinaus auf das breite Meer der historischen Empirie. Er behandelt ein Problem von "langer Dauer", aber mit den Ewigkeiten der philosophia perennis hat er nichts im Sinn. Wo der Schein der Ewigkeit auftritt, wie beim Universalienproblem, ist er historisch zu erklären, das heißt: Es sind die Vermittlungsstellen, Texte, Personen und Strukturen aufzusuchen, welche die Weitergabe motiviert und Neufassungen hervorgetrieben haben.
Alain de Libera will "den realen Gang der Episteme" zeigen. Dazu muß er ins Detail gehen. Dies zu fordern wäre nun nichts Besonderes, aber Alain de Libera gelingt es, zu zeigen, daß sein detailfreudiger historischer Empirismus philosophischen Charakter behält. Er unterwandert die übliche Zweiteilung in Philosophiehistorie und systematischer Philosophie. Sein Buch ist nicht philologisch-historisch, sondern philosophisch-historisch, bei größtem Interesse am Detail. Es verbindet die Aufmerksamkeit auf einzelne Texte und die Erforschung philologisch sicherer Verbindungsschienen mit der eigentlich philosophischen Analyse. Darin liegt die unverwechselbare Eigenheit dieses Buches.
Alain de Libera zeigt, daß die philosophische Fassung des Problems auf Platon, besonders auf dessen "Menon", zurückgeht. In einer Serie von Disputen wiederholt sich die Platonkritik des Aristoteles. Die Frage nach der Wirklichkeit des Allgemeinen gehört also nicht in irgendeine Ecke des späten Mittelalters, sondern sie ist von Platon/Aristoteles ermöglicht, von dem spätantiken Autor Porphyrios vorgeprägt und von Boethius im Sinne der antiken Philosophie formuliert. Sie erfährt im zwölften Jahrhundert (Abaelard) eine neue Wendung, verändert sich wiederum unter dem Einfluß der arabischen Philosophie (Avicenna und Averroes), die Albert und Thomas von Aquino rezipieren und kritisieren; Duns Scotus setzt die platonisierende Linie des Avicenna fort, während Wilhelm von Ockham die Lösung des aristotelisierenden Averroes radikalisiert.
Diese kontrastierenden Lösungen entwickeln sich in einer Geschichte von "langer Dauer", aber, wie Alain de Libera hervorhebt, keineswegs als ewige Wiederkehr des Gleichen. Der Autor teilt die eher historistische Kritik an der Problemgeschichte, die das Allgemeine und das Besondere zu einem durchgehenden Thema der abendländischen Metaphysik stilisiert hat. Es gibt beim Universalienproblem Traditionen, aber sie wurden jeweils hergestellt, manchmal geradezu erfunden, und zwar unter den intellektuellen und geschichtlichen Bedingungen dessen, der sie wieder aufgriff. De Libera achtet ebenso auf die Abwandlungen in jeweils anderen Situationen wie auf die Kontinuität, nur postuliert er diese Kontinuität nicht als Programm seiner Historiographie, sondern sucht sie auf in der Präsenz beziehungsweise Nichtpräsenz von Texten. Insofern steht seine Art der Geschichtsschreibung den Positivisten näher, von denen er sich wieder unterscheidet durch intensive theoretische Analysen.
Alain de Libera lehrt in Genf und in Paris; er ist aber nicht nur gewaschen mit allen Wassern der Pariser Postmoderne, auf die angespielt wird, sondern gehört ebenso zur sprachanalytischen Philosophie. Er bringt die alten Texte in Verbindung zu gegenwärtigen Theorien, vermeidet es aber, die Differenzen zu verwischen und ältere Philosophen zu "Vorläufern" der neuesten zu machen. Er vergißt nicht die Zeitgrenzen, wenn er philosophische Dispute quer durch die Zeiten veranstaltet. Quine hat ihn angeregt, aber ebenso Foucault. Die Kompetenz für die Mittelalterforschung erwarb er bei den großen Pariser Gelehrten Paul Vignaux und Jean Jolivet. Dies, zusammen mit Aristotelesphilologie und intimer Kenntnis selbst abgelegener mittelalterliche Texte, ermöglichte Alain de Liberas ungewöhnlich differenziertes Buch.
Dessen methodische Konzeption, die einen raffinierten Mittelweg zwischen Historismus und Dogmatismus geht, gibt dem Buch seine philosophische Bedeutung, seine forschungsgeschichtliche Rolle und seinen ästhetischen Reiz. Wer mehr wissen will über die Averroes-Kritik des Thomas von Aquino oder über die Lehrdifferenzen der Logiker in Oxford und in Paris im vierzehnten Jahrhundert, muß bei de Libera Rat holen. Aber wer das Buch auch nur aus Interesse an einem bestimmten Stoff "konsultiert", wird feststellen, daß es nicht schwerfällig ist. Es ist subtil, manchmal auch kompliziert, aber zugleich ist es ein munteres, zuweilen keck-ironisches Buch. Es ist das Werk eines homme de lettres. Es erfreut, indem es belehrt. Es fängt schon gleich witzig an, indem es als Motto den Ausspruch von Jacques Chirac wählt: "Ich mag Äpfel überhaupt gerne." Was sind "Äpfel überhaupt"? Will er sagen: "Ich mag Äpfel an sich?" Schon sind wir mitten im Universalienproblem.
Ein gelegentlicher Nachteil für den deutschen Leser ist die Tatsache, daß das Buch jetzt zehn Jahre alt ist; die eigene Forschung des Autors und Studien anderer haben es stellenweise überholt. Der Autor liest und spricht perfekt Deutsch; er hat deutsche Texte Meister Eckharts übersetzt; er gehörte jahrelang zur Bochumer Arbeitsgruppe, die das "Corpus philosophorum teutonicorum medii aevi" herausbringt; er kennt ausgezeichnet die englische wie die deutsche Literatur zum Thema. Er hat ein Werk von universaler Weite geschaffen. Aber es fehlt zum Beispiel zum Problem der Intentionalität die neuere und wichtige Monographie von Dominik Perler.
Dieses Buch hat seinen Übersetzer Konrad Honsel vor fast unlösbare Probleme gestellt. Die französische Sprache steht der scholastischen Terminologie noch näher als die deutsche. Deutschen Lesern mußte mancher Terminus erst erklärt werden, den der französische Autor umstandslos gebrauchen durfte. Der Text ist überreich an historischen Informationen, sachlichen Perspektiven und literarischen Assoziationen. Diese Fülle in deutsche Sätze zu bringen, welche die Eleganz des französischen Originals - Alain de Libera ist auch Romanschriftsteller - wenigstens ahnen läßt, das ist fast unmöglich.
Der Übersetzer hat dies erkannt und macht durch eine Fülle von Erklärungen, Anhängen, Einschüben, Aus- und Einklammerungen auf seine Probleme aufmerksam. Dadurch brachte er einen nervösen und zerstückten Text zustande. Seine wohlbegründete Sorge, nur ja korrekt zu sein, macht er im Text ständig fühlbar. Das ist, wie wenn ein Simultandolmetscher sich dauernd räusperte. Zugegeben: Dieses Buch war nicht leicht zu übersetzen. Das ist die Rückseite seiner Vorzüge: Durch eine immense Stoffülle, zugleich aber durch Witz und Gelehrsamkeit, durch Raffinesse der Methodenreflexionen und wegen der Bedeutung seines Gegenstandes überragt es fast alles Vergleichbare.
KURT FLASCH
Alain de Libera: "Der Universalienstreit". Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. Aus dem Französischen von Konrad Honsel. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 508 S., geb., 69,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Alain de Liberas nun auf deutsch vorliegendes Werk über den Universalienstreit hat Rezensent Kurt Flasch begeistert. Zunächst erläutert er ausführlich den Universalienstreit - die Frage, ob das Allgemeine in den Dingen liegt oder nur in den Begriffen - und stellt ihn in den Kontext der mittelalterlichen Philosophie. Den Ansatz de Liberas kennzeichnet er als "philosophisch-historisch", bei "größtem Interesse für das Detail". De Liberas Auseinandersetzung mit den zahlreichen Autoren von Platon bis Ockham hält Flasch für "ungewöhnlich differenziert". Er würdigt die Arbeit als "subtil, manchmal auch kompliziert", sieht darin aber auch zugleich ein "munteres, zuweilen keck-ironisches Buch". Abschließend bedenkt er die schwierige Aufgabe einer angemessen Übersetzung. Die von Konrad Honsel sieht er von der Sorge geprägt, "nur ja korrekt zu sein", weswegen der Übersetzer eine Fülle von Erklärungen, Anhängen, Einschüben, Aus- und Einklammerungen eingefügt habe. Zum Bedauern Flaschs zieht das einen "nervösen und zerstückten Text" nach sich. Ein Nachteil, der die zahlreichen Vorzüge des Buches allerdings nicht verdecken kann: "Durch eine immense Stoffülle, zugleich aber durch Witz und Gelehrsamkeit, durch Raffinesse der Methodenreflexionen und wegen der Bedeutung seines Gegenstandes überragt es fast alles Vergleichbare."
© Perlentaucher Medien GmbH
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